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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1279–1281

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Neusner, Jacob

Titel/Untertitel:

The Theology of the Halakhah.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2001. LIV, 396 S. gr.8 = The Brill Reference Library of Ancient Judaism, 6. Lw. Euro 97,00. ISBN 90-04-12291-5.

Rezensent:

Peter J. Tomson

Es handelt sich hier um ein merkwürdiges Buch, das zu beschreiben keine einfache Aufgabe ist. Dem Inhaltsverzeichnis nach werden die einzelnen Mischnatraktate besprochen (genau: 59 der insgesamt 63 Traktate), aber die dort detaillierten Halachot werden nur gestreift. Es wird beansprucht, eine Gesamtschau des halachischen Gewebes zu bieten, mit der Behauptung, diese Schau spiegle "the result of the Rabbinic sages' systematic, generalizing, universalizing reading of the narratives, exhortations, and laws of Scripture" (Vorwort XI). Hier fällt es leicht, einen Widerspruch zu erkennen, denn soweit die rabbinischen Texte die Möglichkeit der Beurteilung bieten, befassen die einzelnen Halachot sich überhaupt nicht mit biblischen Erzählungen und Ermahnungen, sondern mit Gesetzen, und zwar meistens nicht in "systematisierender" oder "universalisierender" Weise, sondern in immer spezifischeren Ausarbeitungen.

Ein gutes Vorbild sind die Halachot in Sachen Schadenersatz und Haftbarkeit. In der Mischna finden wir darüber drei große Traktate: Bava Kamma, Bava Metsia und Bava Batra, die eigentlich ein einziges Traktat Nezikin ("Schaden") bilden, wegen der Größe aber aufgeteilt wurden. Die hebräische Bibel gibt hier nur wenige, eher primitive Richtlinien (vgl. Exodus 21 und 22). Abgesehen von der an sich schon interessanten Detaillierung und Analyse der jeweiligen Begriffe kann man in der Mischna viele Prinzipien finden, die noch immer praktisch einleuchtend und hilfreich sind: Eine Fundsache z. B., die auf Grund ihrer Beschaffenheit oder genauen Lage "identifizierbar" ist, muss abgegeben werden, wenn sie aber unidentifizierbar im öffentlichen Raum liegt, kann sie jedem und also niemandem gehören, und der Finder darf sie behalten (Bava Metsia Kap. 2). Das hat nichts mit großen Zusammenhängen und tiefen Einsichten in die biblischen Erzählungen zu tun, sondern mit der hellen, praktischen Logik, die die rabbinische Halacha bezeugt.

Wer auch nur ein wenig im rabbinischen Schrifttum zu Hause ist, dem ist es überhaupt fraglich, wie man dazu kommen kann, in der Halacha "Theologie" zu suchen. Wenn es um Theologie geht, muss man dann nicht Aggada studieren? So wie es der bekannte Midrasch sagt, der den Dorsche Reschumot, anscheinend den alten Allegoristen, zugeschrieben wird: "Willst du Den kennen lernen, der sprach und es wurde die Welt geschaffen? Lehre Aggada, denn dadurch wirst du den Heiligen, Er sei gesegnet, kennen und an seinen Wegen kleben" (Sifre Devarim 39, zu Dtn 11,22). Sicher, die Betonung der "Wege" besagt praktische Konsequenzen, und es liegt hier eine klare Verbindung mit der Halacha vor. Es handelt sich aber um Aggada, um nicht-halachische "Schrifterhellung".

N. kennt diesen Midrasch natürlich auch, er zitiert ihn sogar ausführlich am Anfang seiner Einleitung, glaubt ihn aber wie folgt disqualifizieren zu können: "A bias within the circles of those that engage with the religious study of Rabbinic Judaism favors Aggadah, norms of belief, not Halakhah, norms of behavior, in their the [sic] quest for the religious statement of Judaism. (...) But as we shall see in the shank of this book, if the Aggadah sets forth the encounter with God, the Halakhah spells out his will for Man, and, in the social order of holy Israel, that takes priority" (XXIX-XXX). Dass die Halacha "Gottes Suche nach dem Menschen" entspreche, wäre eine schöne theologische Einsicht, aber damit ist die Halacha bei weitem noch keine "Theologie". Ich lasse die höchst inadäquate Beschreibung von Aggada als "Glaubensnorm" beiseite sowie die unqualifizierte Beschuldigung derer, "die sich mit dem religiösen Studium des rabbinischen Judentums befassen".

Inzwischen hat N. jedenfalls schon zugegeben, dass "Judaism makes its theological statement through not only [sic] the Halakhah but the Aggadah" (XVIII). Wie das genau gemeint ist, und wie N. von zwei parallelen "massive theological constructions" sprechen kann, dafür verweist er den Leser auf ein anderes seiner Bücher, Theology of the Oral Torah von 1998 (im Abkürzungsverzeichnis 1999 datiert). Es wird hier überhaupt kaum andere Forschungsliteratur zitiert, ausgenommen eine Auswahl aus den gut 800 Büchern, die N. laut Schutzumschlag geschrieben hat. Das "Abkürzungsverzeichnis" (XXIII-XXVIII) hat den Zweck, diese Literatur zu beschreiben. Genau 26 seiner Forschungsbände nennt N., alle aus den Jahren 1999 und 2000 (!), plus die 69 Bände der Übersetzung des Babylonischen Talmud (1984-1995), die 47 der History of the Mishnaic Law of Purities (1974-1985) und die 29 der Tosefta- und Jeruschalmi-Übersetzungen (1982-1999). Was die letztgenannten angeht, sollte man einmal nachlesen, wie der große Tosefta- und Jeruschalmi-Spezialist Saul Lieberman aus New York damals hat urteilen müssen (A Tragedy or a Comedy? Journal of the American Oriental Society 104 [1984], 315-319).

Aber zur Sache: Im hier besprochenen Buch führt N. den Leser noch weiter in fragliche Zusammenhänge hinein: Es handle sich in der Halacha nicht nur um Theologie, sondern um eine theologische Wertung der menschlichen Existenz. Im Vorwort erklärt er: "Here I investigate the system, how the Halakhah lays itself out in response to Scripture's account of the human condition"; "Like (...) Paul's (...) Letter to the Romans, (...) like Augustine's City of God, (...) the Halakhah addresses the central problem of Western civilization as defined by the Torah" (XX.XIII). Ich kann diese Sätze hinsichtlich des Inhaltes der halachischen Texte nur als völlig inadäquat bezeichnen. Äußerst fraglich ist sodann, wie N. seine Einleitung mit der Assoziation von der Halacha mit der biblischen Paradieserzählung einsetzt: "As recapitulated by the Halakhah, Scripture's account of Eden portrays not an event but a condition. Eden stands for Man and God dwelling together. Restoring that condition, the Halakhah sets forth the norms for a society formed by Israel in the Land that is worthy of God's presence in this Eden. The Halakhah systematizes the laws of the sanctification of the social order (...), and theology states the result of reading those laws (...) philosophically" (XXIX). Es ist klar, was gemeint ist: Die Halacha strukturiere das Leben und die Gesellschaft von Israel gemäß den Hauptlinien der Tora, und eine theologische Interpretation dieser Strukturierung mache diese Hauptlinien explizit. Es wäre schon viel weniger irreführend, hätte N. sein Buch A Theology of the Halakhah genannt. So wie sie hier beschrieben wird, scheint diese "Theologie" ebenso unverifizierbar wie willkürlich und apodiktisch zu sein.

Nun gibt es Gebiete in der Halacha, wo eine beschränkte Systematisierung nachweisbar ist. Eines davon betrifft den Sabbat, und ein Zitat genügt, um einzusehen, wie praktisch solches ausgerichtet ist: "Eine große Regel haben sie zum Sabbat gesagt: wer den Sabbat überhaupt vergessen hatte und viel Arbeit an vielen Sabbaten getan hat, ist nur ein Schuldopfer verschuldet, usw." (Mischna Schabbat 7,1). Zur näheren Definition werden dann, ebenso praktisch und gerade "unsystematisch", die am Sabbat verbotenen "Arbeitskategorien" aufgezählt: "Arbeitskategorien, davon gibt es vierzig minus eins: wer sät, wer pflügt, wer erntet, usw." (ebd. 7,2). Es bleibt alles ebenso nahe an der Praxis wie weit von der Systematik und der Theologie entfernt. Die Mischna stellt sozusagen die höchste Konzentration von rabbinischer Halacha dar, nur ist auch sie nicht völlig konsequent und wechselt manchmal am Ende eines Traktates ihre juristische Prosa mit aggadischer Poesie ab. Meistens muss man aber solche "aggadischen Illustratio- nen" der Halacha in den sekundären Sammlungen suchen: in der Tosefta, im Jeruschalmi und im Bavli. Diese Aufteilung ist an sich schon wichtig für unser Thema.

In einem solchen Zusammenhang findet N. eine, freilich indirekte, Unterstützung für seine Assoziation von Halacha und Schöpfungserzählung: "That such a mode of thought is more than a mere surmise (...) emerges when we recall a striking statement. It is one that finds the definition of forbidden labor in those activities required for the construction and maintenance of the tabernacle, which is to say, God's residence on earth. The best statement, predictably, is the Bavli's: People are liable only for classifications of labor the like of which was done in the tabernacle. They sowed, so you are not to sow. They harvested, so you are not to harvest (...)" (32, Zit. Bavli Schabbat 49b). Wir halten im Vorübergehen fest, dass die zitierte Aussage von den Redaktoren des Talmuds selbst einer früheren, tannaitischen Quelle zugeschrieben wird und demnach nur in spezifischem Sinne als eine "Aussage des Bavli" gelten kann. Wenn das aber zutreffen sollte, wäre die zeitliche Koexistenz von halachischer Konzentration in der Mischna und aggadischer Erhellung in sonstigen Traditionen ein interessantes, für die frührabbinische Literatur sehr ergiebiges Phänomen, dem das soundsovielte Buch des amerikanischen Polygraphen aber keineswegs näher kommt. Man fragt sich in aller Ehrlichkeit, warum denn ein solches Buch geschrieben und gedruckt werden sollte.

Nur kurios ist die hier bezeugte Vorliebe für weithergeholte Ausdrücke, Neologismen und Alliterationen, wie "the shank (of the book, of the Halakhah"; häufig), "enlandised Israel" (4), "a cogent and continuous, coherent account" (XVI). Im Quellenregister weist die Abteilung der zitierten rabbinischen Literatur, die sich als auffallend beschränkt herausstellt, eine verwirrende typographische Unordnung auf.