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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1276–1279

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Moscovitz, Leib

Titel/Untertitel:

Talmudic Reasoning. From Casuistics to Conceptualization.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XIV, 403 S. gr.8 = Texts and Studies in Ancient Judaism, 89. Lw. Euro 94,00. ISBN 3-16-147726-X.

Rezensent:

Andreas Lehnardt

Das Buch des Senior Lecturer am Talmud Department der Bar Ilan Universität in Ramat Gan, der bislang vor allem durch seine Studien zum Talmud Yerushalmi hervorgetreten ist, stellt einen grundlegenden Beitrag zur Erforschung der Entwicklung der rabbinischen Halakha dar. Liegen zu einzelnen Problemen der Entfaltung der gesetzlichen Tradition in der rabbinischen Literatur zahlreiche Einzelstudien vor, so sucht man nach vergleichbaren Überblicksdarstellungen zu halakhisch-theoretischen Fragen auf dem Stand kritischer Forschung vergebens. Zwar wird auf die Konzeptualisation ("conceptualization") von halakhischen Einzelfällen in der rabbinischen Literatur bereits in Gesamtdarstellungen der Geschichte der Halakha wie in dem veralteten Werk von B. de Vries, Toledot ha-Halakha ha-Talmudit, Tel Aviv 21966, und in der Darstellung von E. E. Urbach, Ha-Halakha, Givatayim 1984, engl. Tel Aviv 1996, eingegangen. Doch finden sich in diesen Werken nur kurze, unvollständige und zum Teil unkritische Kapitel über das hier thematisierte Phänomen. M. definiert dabei Konzeptualisation- etwas abweichend von dem üblichen Sprachgebrauch in Antithese zu Kasuistik - als die Formen des rechtlichen Denkens, die nicht das Konkrete und das Spezifische betreffen. Im Unterschied zu anderen möchte er Konzeptualisation auch von Abstraktion differenzieren, d. h. von dem, was aus der Isolation von grundlegenden Qualitäten konkreter Objekte erfolgt. Klar wird dieses Verständnis von Konzeptualisation an einem Beispiel aus Mischna und Talmud. Heißt es in mAZ 3,8, dass man unter einem Baum, der für götzendienerische Zwecke gepflanzt wurde, kein Gemüse aussäen darf, weil das herabfallende Laub des Baumes das Gemüse düngen könnte, so wird daraus in bAZ 48b die konzeptualisierte Erklärung abgeleitet, dass, wenn zwei unterschiedliche Beschaffenheiten auf etwas einwirken können, wie hier zur Düngung verbotenes Laub und theoretisch erlaubter Boden, ein solcher Gegenstand als verboten gelten muss (ze we ze-gorem asur, "dieses und jenes verursacht ein Verbot").

Nach einer ausführlichen Einleitung, in der neben den terminologischen und methodologischen Fragen auch die behandelten Quellen (hauptsächlich: Mischna, Tosefta, Talmud Yerushalmi und Bavli - nicht jedoch die halakhischen Midraschim!) in ihrem literarischen und historischen Verhältnis zueinander erörtert werden, gliedert sich das Buch in acht Kapitel, in denen jeweils diachron die Entwicklungen der einzelnen halakhischen Abstraktionen, Konzepte und Prinzipien an Einzelbeispielen vorgestellt und analysiert werden. In einem die synthetischen Untersuchungen zusammenfassenden Abschlusskapitel wird die Gesamtentwicklung von den tannaitischen Quellen bis zu den anonymen Straten des Bavli nachgezeichnet. Das Werk beinhaltet insofern keinen Katalog sämtlicher in der rabbinischen Literatur anzutreffenden halakhischen Konzeptualisationen, sondern entfaltet einen Überblick über die wichtigsten Entwick- lungen halakhischer Abstraktion, und zwar von relativ einfachen Generalisierungen bis hin zu komplexen juristischen Prinzipien, wie sie vor allem im Bavli begegnen. Es geht dem Vf. dabei nicht um die Rekonstruktion der Entstehung von Halakha an sich, sondern um "major trends" (39) der innerrabbinischen Verallgemeinerungen halakhischer Entscheidungen (43, Anm. 168). Ausgeklammert bleibt insofern der Vergleich mit parallelen Entwicklungen im altorientalischen und römischen Recht, wobei auf Letzteres im Verlauf der Darstellung an relevanten Stellen des Öfteren Bezug genommen wird. Gewissermaßen als Arbeitshypothese wird vorausgesetzt, dass Konzeptualisation als ein innerrabbinisches Phänomen beschrieben werden kann, das vor allem in den amoräischen und post-amoräischen Straten der rabbinischen Literatur seinen sublimsten Ausdruck gefunden hat.

Ausgangspunkt der Darstellung bilden Überlegungen zu den Anfängen der Entwicklung in tannaitischen Quellen. Die meisten gesetzlichen Anordnungen aus tannaitischer Zeit sind kasuistisch formuliert, doch finden sich schon hier Generalisierungen, die sowohl in expliziter als auch impliziter Form vom Einzelfall abstrahieren (vgl. z. B. Formulierungen wie ze ha-klal, "dies ist die Regel"). Hinter solchen Generalisierungen stehen in tannaitischen Texten allerdings noch keine umfassenden rechtlichen Prinzipien, obwohl auch dies in der älteren, teils unkritischen Forschung behauptet worden ist. Es lassen sich lediglich gewisse Tendenzen hin zu einer Verallgemeinerung und Abstraktion erkennen, doch bleiben diese noch auf die engen Grenzen einzelner vergleichbarer Fälle beschränkt. Komplexer ist der Befund für die Entwicklung von halakhischen Klassifikationen ("subsumptions") und gesetzlichen Definitionen, die in Kapitel 3 des Werkes untersucht werden. Dieser Gegenstand hat auf Grund seiner Unüberschaubarkeit bislang wenig Beachtung in der Forschung gefunden, zumal implizite und explizite Klassifikationen unterschieden werden müssen. Wichtiges Ergebnis dieses Abschnittes ist, dass nach-tannaitische Texte wesentlich abstraktere Klassifikationen erkennen lassen. Die nicht funktionalen juristischen Fiktionen sind Gegenstand des vierten Kapitels: Zahlreiche rabbinische Texte setzen eine Art halachischer "virtueller Realität" voraus. Wie in einigen Fällen Gegenstände betrachtet werden, als ob sie nicht existierten, so können gelegentlich auch Handlungen erachtet werden, als ob sie nicht stattgefunden hätten (vgl. tMen 11,14, wo eine solche Fiktion durch die Formel ro'in ... ke-illu eno eingeführt wird). Gesetzliche Fiktionen - insbesondere solche in amoräischen Texten - reflektieren insofern eine abstraktere Perspektive auf die Realität. Wie in Kapitel 5 entfaltet wird, dient die Konzeptualisation rechtlicher Einzelfälle in der rabbinischen Literatur allerdings häufig nur der Erläuterung der gesetzlichen Basis einzelner kasuistischer Verfügungen. Es finden sich in tannaitischer und post-tannaitischer Literatur im Übrigen auch scheinbar überflüssige und enthymematische Erklärungen, bei denen entweder Teile weggelassen werden können, da sie nur rhetorisch-didaktische Bedeutung haben, oder in Gedanken zu ergänzen sind. Einem der verbreitetsten Phänomene in rabbinisch-halakhischen Texten, der gesetzlichen Analogie, geht das sechste Kapitel nach: Viele halakhische Abstraktionen werden schon in tannaitischen Texten auf Grund von Sachanalogien gewonnen. Das wichtigste Ergebnis der genaueren Analyse dieser Art von Konzeptualisation ist, dass sowohl fallgebundenes Rechtsdenken als auch prinzipiengebundene Abstraktion oft fließender ineinander übergehen, als dies zunächst den Anschein hat.

Nicht-prinzipialisierte Analogien werden darüber hinaus auch als theoretische Möglichkeiten in die Diskussion der Gemara eingeführt, ohne einem bestimmten Zweck zu dienen, außer den Verstand zu schärfen und die Rhetorik zu schulen (vgl. dazu den Grundsatz le-hagdil tora u-le-ha'adira, "um die Tora zu mehren und zu erheben" [269]). Vornehmlich in nach-tannaitischen Quellen auszumachen sind Texte, die tannaitische kasuistische Vorschriften paradigmatisch als Reflexe auf Grundprinzipien betrachten. Solche "konzeptionellen Zitationen" werden in beiden Talmudim mit dem Terminus shitta bezeichnet, was übertragen so viel bedeutet wie "Anschauungsweise" oder auch "Standpunkt", der durch einen Fall paradigmatisch repräsentiert wird. Die Untersuchung solcher nur in post-tannaitischer Literatur, vor allem im Bavli belegter Abstraktionen im achten Kapitel des Buches von M. bildet ein wichtiges Ziel der Untersuchung.

Die Formulierung halakhischer Prinzipien (wie z. B. bPes 114b: mitzwot tzerikhot kawwana, "Gebote bedürfen der Intention") führte im Übrigen oft zur "Re-interpretation" der zu Grunde liegenden Fälle. Die Bildung von juristischen Prinzipien reflektiert nach M. allerdings nicht zwangsläufig eine andere Art des Denkens, sondern lediglich eine andere Art des Ausdrucks derselben rechtlichen Gedanken (341). Freilich, so muss M. einräumen, konnten im Zuge solcher Transformation die ursprünglichen Motive hinter gewissen Einzelentscheidungen verloren gehen. Die Intention der Rabbinen war nicht die Rekonstruktion der Geschichte der Halakha, sondern ihre kreativ-kontinuitätswahrende Weiterentwicklung, was auf Grund prinzipialisierter Formulierungen auch grundsätzliche Veränderungen und Kontradiktionen mit sich bringen konnte.

Ein Einwand, der sich aus der schematischen, auf den Bavli ausgerichteten Vorgehensweise der Untersuchung ergibt, ist, ob einige der beschriebenen Entwicklungen nicht komplizierter und in sich widerspruchsvoller verlaufen sein könnten, zumal damit zu rechnen ist, dass gewisse Schriften mehrere Redaktionen erfahren haben, ein exaktes diachrones Schema, wie es von M. in vielen Beispielen vorausgesetzt wird, also nicht immer sicher zu rekonstruieren ist. Bezüglich vieler Probleme fehlen nun einmal - wie M. selbst bemerkt (46) - noch manche "Vorstudien", insbesondere zu terminologischen und textgeschichtlichen Spezialfragen. So manche mehr intuitiv formulierte Beobachtung wird daher noch genauerer Überprüfung bedürfen. Trotz solcher Vorbehalte bietet das Buch mit seinen zahlreichen, durch konzise philologische Anmerkungen bereicherten Beispielen dennoch einen differenzierten Einblick in wichtige innerrabbinische Entwicklungen des talmudischen Rechtsdenkens. Angesichts eines immer noch verbreiteten Vorurteils gegenüber rabbinischer Literatur, sie ergehe sich zu großen Teilen in sinnentleerter Kasuistik, kommt dem Werk insofern auch Bedeutung dahingehend zu, dass ihm der Nachweis gelingt, dass rabbinische Halakha eine Geschichte hat, die Fortschritte und Sublimierungen erkennen lässt. In den halakhischen Texten der rabbinischen Literatur, insbesondere in denen der amoräischen Epoche, lassen sich eben sehr viel mehr evolutionäre Prozesse beobachten, als oft gesehen wird.