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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1273–1276

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Carson, D. A., O'Brien, Peter T., and Mark A. Seifrid [Eds.]

Titel/Untertitel:

Justification and Variegated Nomism. Vol. 1: The Complexities of Second Temple Judaism.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck; Grand Rapids: Baker Academic 2001. XIV, 619 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 140. Kart. Euro 54,00. ISBN 3-16-146994-1 (Mohr Siebeck); 0-8010-2272-X (Baker Academic).

Rezensent:

Dieter Sänger

Kaum ein anderes Buch aus der jüngeren Vergangenheit hat die Paulusforschung so nachhaltig beeinflusst wie E. P. Sanders' magistrale Studie "Paul and Palestinian Judaism. A Comparison of Patterns of Religion", die acht Jahre später (1985) auch in deutscher Übersetzung erschien. Sanders' These, in funktionaler Hinsicht lasse sich die religiöse Struktur des palästinischen Judentums am ehesten als "Bundesnomismus" (covenantal nomism) beschreiben, verbindet die Kritik an einer individualistischen Auslegungstradition der Paulusexegese mit der Absage an das jahrhundertelang vorherrschende Bild vom Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels als einer Religion der Werkgerechtigkeit und des Synergismus.

Mittlerweile hat dieser Alternativentwurf nicht nur im anglo-amerikanischen Bereich breite Zustimmung erfahren, sondern ist auch darüber hinaus vielfach rezipiert worden. Namentlich die Vertreter der sog. "New Perspective on Paul" hat er dazu bewogen, das Koordinatengefüge der paulinischen Theologie neu zu justieren. Die Konsequenzen sind erheblich. Zur Disposition steht nichts weniger als die Gültigkeit der reformatorischen, tief im protestantischen Bewusstsein verankerten Überzeugung, die Rechtfertigungslehre bilde das theologische Zen- trum des paulinischen Denkens und sei für den Apostel hermeneutisch konstitutiv.

Mit dem hier anzuzeigenden ersten von zwei geplanten Sammelbänden - der zweite wird speziell Paulus gewidmet sein - haben die Herausgeber es sich zur Aufgabe gemacht, Sanders' Rekonstruktion der frühjüdischen Religionsstruktur auf ihre Stichhaltigkeit zu prüfen. Das Vorwort präzisiert die Fragerichtung: Wird die Kategorie des Bundesnomismus den von Sanders referierten Texten bzw. Textgruppen wirklich gerecht, oder reflektieren sie nicht doch verschiedene, nur gewaltsam auf einen begrifflichen Nenner zu bringende "patterns of belief and religion" (5)? Um die dem aktuellen Forschungsstand geschuldete "fresh exploration" (V) auf eine möglichst breite Quellenbasis zu stellen und ein repräsentatives Ergebnis zu erzielen, werden auch solche Schriften in die Untersuchung einbezogen, die in Sanders' Monographie keine Berücksichtigung fanden oder lediglich gestreift wurden (z. B. Philo und Josephus). Bedauerlich ist allerdings, dass die Septuaginta wiederum ausgespart bleibt. Nach Auskunft der Herausgeber soll dieses Manko im Folgeband behoben werden (VI).

Neben einer einleitenden Problemskizze (1-5) und einer ausführlichen Ertragsbilanz (505-548), für die jeweils D. A. Carson verantwortlich zeichnet, vereinigt der Sammelband 14 Aufsätze. Einige von ihnen sind thematisch ausgerichtet und fokussieren zentrale theologische Topoi, andere behandeln exemplarisch ausgewählte Textsegmente oder ganze Textkomplexe. Die übrigen konzentrieren sich teils auf literarisch verwandte frühjüdische Zeugnisse, teils auf einzelne Autoren. Zumeist stammen sie aus der Feder bereits einschlägig ausge- wiesener Fachleute.

Der Band enthält die folgenden Beiträge: D. Falk, Psalms and Prayers (7-56); C. A. Evans, Scripture-Based Stories in the Pseudepigrapha (57-72); P. Enns, Expansions of Scripture (73- 98); Ph. R. Davies, Didactic Stories (99-133); R. Bauckham, Apocalypses (135-187); R. A. Kugler, Testaments (189- 213); D. E. Gowan, Wisdom (215-239); P. Spilsbury, Josephus (241- 260); Ph. S. Alexander, Torah and Salvation in Tannaitic Literature (261-301); M. McNamara, Some Targum Themes (303- 356); D. M. Hay, Philo of Alexandria (357-379); M. Bockmuehl, 1QS and Salvation at Qumran (381-414); M. A. Seifrid, Righteousness Language in the Hebrew Scriptures and Early Judaism (415-442); R. Deines, The Pharisees Between "Judaisms" and "Common Judaism" (443-504).

Obwohl jeder es verdiente, eigens vorgestellt und gewürdigt zu werden, muss ich mich aus Raumgründen mit dem Ausziehen einiger mir wichtig erscheinender Linien und der Wiedergabe eines Gesamteindrucks begnügen. Zunächst fällt auf, dass das Gespräch mit Sanders oft nur implizit geführt wird. Und selbst wo die stets faire und auf polemische Untertöne verzichtende direkte Auseinandersetzung mit ihm erfolgt, stehen primär die textanalytisch fundierten Eigenaussagen der jeweiligen Makroformen im Vordergrund. Die Befunde sind ambivalent und erlauben nur selten ein eindeutiges Votum pro oder contra. Am entschiedensten positioniert sich D. Falk, der Gebets- und Bußliturgien (4Q504; 4Q506; 11QPsa 19,1-18; 24,3-17; OrMan u. a.), die Hodayot, PsSal und OdSal auf das in ihnen zur Sprache gebrachte Verhältnis von Bund und Gesetz, göttlicher Gerechtigkeit und Gnade, Sündern und Gerechten, Sühne und Versöhnung hin untersucht. Sein Resümee: "Bundesnomismus" ist eine wenig hilfreiche, ja letztlich unangemessene Kategorie zur Charakterisierung der jeweils gruppenzentrierten soteriologischen Vorstellungen. Denn sie suggeriert gerade dort gemeinsame Grundanschauungen, wo sie in Wahrheit nicht bestehen, wie die markanten Differenzen im Sündenverständnis und die unterschiedlich ausgestaltete Heilshoffnung mit ihrer ethnisch-nationalen und individuellen Perspektive erkennen lassen (51.56). Zu einem vergleichbar negativen Urteil, jedenfalls was die Dominanz von Sanders' Modell betrifft, gelangt C. A. Evans im Blick auf MartJes, JosAs, VitAd und VitProph. Zwar wissen ihre Verfasser viel von Gottes Gnade und Vergebung zu sagen. Doch heißt dies nicht, "that people could gain God's acceptance apart from obedience to the Law". Insofern spiegeln sie in der Tat Elemente eines "work-righteousness understanding of justification" (72). Für die Beantwortung der anstehenden Frage kommt Ph. S. Alexanders Erwägungen zu den soteriologischen Konzeptionen in der tannaitischen Literatur besondere Bedeutung zu, da Sanders diesen Traditionskomplex als einen wesentlichen Stützpfeiler seiner These betrachtet. Das überzeugende Fazit der Studie lautet: Ein in sich stimmiges und gedanklich kohärentes theologisches System lässt das tannaitische Korpus in diesem Punkt vermissen. Vielmehr sind die den Primat der Gnade unterstreichenden erwählungstheologischen ("getting in") und die auf strikte Gebotserfüllung insistierenden vergeltungsbezogenen ("staying in") Aussagen einander dialektisch zugeordnet. Die aus diesen beiden gegenläufigen Tendenzen resultierende Spannung bleibt bestehen. Sie wird weder zu Gunsten der einen noch der anderen Option entschärft oder synthetisch aufgehoben (273.298-301). Damit bestätigt Alexander die bereits von F. Avemarie (Tora und Leben. [TSAJ 55], Tübingen 1996; Erwählung und Vergeltung, NTS 45 [1999], 108-126) herausgearbeitete optionale Struktur der rabbinischen Soteriologie.

Überhaupt ist bemerkenswert, dass kaum einer der in dem Band vertretenen Autoren Sanders vorbehaltlos sekundiert. Eine Ausnahme bildet R. A. Kugler. Ihm zufolge belegen das TestMos, das TestHi und die TestXII, "covenantal nomism" sei "pervasive in Jewish literature from around the turn of the era" (213). Selbst wenn man einmal davon absieht, mit welcher Unbedenklichkeit er die mit den TestXII verbundenen literarkritischen Probleme (was gehört zum jüdischen Grundbestand, was ist christlich überformt?) als für seine Fragestellung offenbar irrelevant beiseite schiebt, stimmt sein methodisches Verfahren skeptisch. Obwohl er lediglich das TestSim eigens behandelt (208-212), wertet er sein Ergebnis im Sinne des pars pro toto und überträgt es ohne nähere Begründung auch auf die übrigen Patriarchenreden. Damit unterhöhlt er aber nolens volens das exegetische Fundament, auf dem seine abschließenden Folgerungen ruhen. Der von R. Deines stammende Schlussbeitrag ist nicht zuletzt wegen seines Nuancenreichtums zweifellos eines der Glanzstücke der Sammlung. Nach einer sorgfältigen Analyse der zu berücksichtigenden Quellen - wobei Josephus und 4QMMT m. E. zu Recht eine prominente Rolle spielen und miteinander korreliert werden - und ihrer historischen Situierung innerhalb des Spektrums frühjüdischer Religiosität ergibt sich, dass der Pharisäismus die dominierende und weitaus einflussreichste Bewegung im Judentum zur Zeit des Zweiten Tempels darstellt (503). Er zeichnet sich durch "a particular relationship to the Law" (492) aus, dessen genaue Beachtung soteriologische Relevanz besitzt (493). Entgegen Sanders' Auffassung repräsentiert demnach das pharisäische, nicht das priesterliche Element den Hauptstrom des "common Judaism". Und im Unterschied zu J. Neusners Ansicht bestätigen die Quellen, dass nicht eine Vielzahl amorpher "Judentümer", sondern die von Josephus beschriebenen drei "philosophischen Gruppen" (Pharisäer, Sadduzäer, Essener [Bell 2,119 ff.; Ant 13,171 ff.; 18,11 ff.]) die Gestalt des zeitgenössischen Judentums prägen.

In seiner abschließenden Auswertung der Ergebnisse tendiert D. A. Carson zu einer gewissen Einseitigkeit, indem er den kritischen Tenor einzelner Beiträge allzu stark betont. Eine Reihe von ihnen belassen der kategorialen Bestimmung "Bundesnomismus" durchaus ihr relatives Recht, warnen jedoch davor, sie wie ein Passepartout zu verwenden und damit überzustrapazieren. Denn sie enthält ein reduktionistisches Moment, das dem differenzierten Textbefund schwerlich gerecht wird. Insofern ist Sanders' Kritik an der oftmals mehr behaupteten als nachgewiesenen meritorischen Grundstruktur des palästinischen Judentums ihrerseits zu korrigieren. Hier wie dort läuft eine Verabsolutierung der zur Debatte stehenden Alternativmodelle Gefahr, das Ganze aus den Augen zu verlieren. Will man versuchsweise einen von den Quellen gedeckten Vorschlag machen, die auf keinen einheitlichen Nenner zu bringende wechselseitige Verschränkung von Bund und Tora, Gebotserfüllung und Heilserwartung im Frühjudentum zu umreißen, bietet sich ein Titelwort des Sammelbandes an. Das Beziehungsgefüge ist "variegated", d. h. es erscheint als buntfarbig, schillernd und damit als mehrdimensional. Welche Konsequenzen diese Einsicht für ein auch historisch sachgemäßes Verständnis der paulinischen Theologie, insbesondere der Rechtfertigungslehre hat und welche Anfragen sich von ihr aus an die "New Perspective on Paul" ergeben, soll im hoffentlich bald vorliegenden Folgeband thematisiert werden. Man darf auf ihn gespannt sein.