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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1271–1273

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Reinmuth, Titus

Titel/Untertitel:

Der Bericht Nehemias. Zur literarischen Eigenart, traditionsgeschichtlichen Prägung und innerbiblischen Rezeption des Ich-Berichts Nehemias.

Verlag:

Freiburg/ Schweiz: Universitätsverlag; Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. XIV, 383 S. gr.8 = Orbis Biblicus et Orientalis, 183. Geb. Euro 51,80. ISBN 3-7278-1377-6 (Universitätsverlag); 3-525-53998-3 (Vandenhoeck & Ruprecht).

Rezensent:

Klaus-Dietrich Schunck

Der Vf. hat ein Buch vorgelegt, das der Nehemia-Forschung einen neuen Impuls verleiht und das man mit Freude liest. Mit großer Exaktheit und unter umfassender Auswertung der einschlägigen Literatur gearbeitet, bietet diese von P. Welten betreute und im Sommer 1999 von der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität Berlin als Dissertation angenommene Arbeit einen gewichtigen Beitrag zur Klärung des literarischen Entstehungsprozesses des Nehemiabuches. Dem kommt umso mehr Bedeutung zu, nachdem die These von einem Chronistischen Geschichtswerk, dem neben Chr auch Esr/Neh angehörten, immer mehr in Frage gestellt wurde. Das Hauptergebnis der Arbeit ist, dass innerhalb der als Ich-Bericht stilisierten sog. Nehemia-Denkschrift eine "Mauerbau-Erzählung" (Neh 1, 1-4,17*; 6,1-7,5*; 12,27-43*) von einer eigentlichen "Nehemia-Denkschrift" (Neh 5,1-19; 13,4-31*) literarisch zu unterscheiden ist.

Damit tritt der Vf. im Gegensatz zu J. Becker, Der Ich-Bericht des Nehemiabuches als chronistische Gestaltung, 1998, der einen pseudepigraphischen Charakter des nehemianischen Ich-Berichts und seine Formulierung erst im Rahmen des Chronistischen Geschichtswerkes annehmen wollte (vgl. ThLZ 126 [2001], 363-365), zu Recht wieder für eine Abfassung des Ich-Berichts durch Nehemia ein, nimmt dabei nun aber eine getrennte Abfassung von zwei literarisch unterschiedlichen Komplexen durch Nehemia an. Auf der Grundlage einer umfassenden Untersuchung der nach Auffassung der Mehrheit der Forscher eindeutig dem Ich-Bericht Nehemias zuzuordnenden Abschnitte des Nehemiabuches, verbunden mit dem immer wieder beobachteten thematischen und auch zeitlichen Bruch zwischen den Ausführungen von Neh 1,1-4,17 und dem Bericht von Neh 5,1-19, kommt er dabei genauer zu der Feststellung, dass die "Mauerbau-Erzählung" durch einen recht abwechslungsreichen Erzählstil gekennzeichnet ist, während es sich bei der "Nehemia-Denkschrift" um kurze Berichte handelt, die jeweils mit einer positiv gewendeten Gedenkbitte abgeschlossen werden. Im Gegensatz zu der herkömmlich üblichen Bezeichnung der Gesamtheit des als Ich-Bericht stilisierten Textes als eines Rechtsdokuments, mit dem Nehemia gegen seine Gegner aus dem eigenen Volk vor das Gericht Gottes treten will und das somit apologetischen Charakter trägt, werden diese beiden literarischen Komplexe nun als Schilderungen zweier wichtiger Begebenheiten in der Geschichte der nachexilischen Gemeinde verstanden.

Den an den einzelnen Textabschnitten des Ich-Berichts orientierten ausführlichen Textanalysen geht jeweils eine Arbeitsübersetzung des Textes mit Textkritik voraus. Auf die Untersuchung von Struktur, Stil und Sprachgebrauch des Textes folgen stets noch Ausführungen zur Tradition und Rezeption, während eine Darlegung der Ergebnisse die Untersuchung des jeweiligen Abschnitts abschließt. Zwischen die einzelnen Analysen sind Exkurse über die Bauliste Neh 3,1-32, über Lev 25, Dtn 15, Jer 34 im Vergleich mit Neh 5, über Nehemia und die Tora sowie über traditionsgeschichtliche Bezüge zwischen Aussagen der Mauerbau-Erzählung und Texten aus der nachexilischen Prophetie eingeschoben.

Folgt man dem Vf. gern in der Unterscheidung von zwei verschiedenen literarischen Komplexen innerhalb des Ich-Berichts, so erheben sich doch einige Zweifel an seiner weiteren These, dass erst eine an der Tora orientierte Redaktion diese beiden Komplexe zu dem Nehemia-Bericht zusammengefügt und dabei zugleich auch noch bearbeitet habe. Die Verzahnung der beiden Komplexe ist jedoch so eng, dass es doch wahrscheinlicher sein dürfte, dass bereits Nehemia die Zusammenfügung der beiden Komplexe vollzog, um damit auf Grund von Anfeindungen innerjüdischer Gegner zu seiner Verteidigung sein verdienstvolles Wirken für sein Volk zusammenhängend darzustellen und mit dieser "Denkschrift" dann vor Gott bzw. das göttliche Tribunal zu treten. Die Einfügung von Neh 5,1-19 gerade nach Neh 3,33-4,19 lässt sich sinnvoll nur von Nehemia selbst verstehen: Die mit dem Mauerbau in Jerusalem verbundenen besonderen Belastungen der gesamten jüdischen Bevölkerung hatten wirtschaftliche und soziale Missstände akut verschärft und zu einer sozialen Krise geführt, um deren Besei- tigung sich Nehemia als Statthalter von Juda bemüht hatte. So tritt dann auch die formelhafte Gedenkbitte, die gerade für den Komplex Neh 5,1-19; 13,4-31 charakteristisch ist, in negativer Ausrichtung ebenso wie in Neh 13,29 auch im Zusammenhang der Mauerbau-Erzählung in Neh 6,14 auf. Und dieser negativen Gedenkbitte entspricht zudem auch ganz die Bitte um Bestrafung des Sanballat und Tobija in Neh 3,36 f. So liegt es doch näher anzunehmen, dass Nehemia gerade in der formelhaften Gedenkbitte und der mit ihr verbundenen Zielsetzung das entscheidende Bindeglied in seiner nun erweiterten, im Ich-Stil gehaltenen "Denkschrift" sah. Diese Auffassung muss eine vom Vf. angenommene tora-orientierte Redaktion des Nehemiabuches keineswegs ausschließen; außer kleinen Überleitungen wie Neh 12,44 und 13,4 weist er dieser das Gebet Neh 1,5-11a und den Komplex Neh 7,72b-10,40 zu. Wahrscheinlich geht dazu auch die Einfügung der Rückkehrerliste Neh 7,6-71 auf diese Redaktion zurück.

Besondere Aufmerksamkeit widmet der Vf. in der vorliegenden Arbeit dem Zusammenspiel von Tradition und Rezeption. So kann er aufzeigen, dass Neh 5 von Lev 25 und Jer 34,8-22 aufgenommen wird und Neh 13,15-22 in Am 8,4-8 und Jer 17,19-27 vorausgesetzt wird. Aber auch die verschiedenen Verarbeitungen der Mischehenproblematik in Ex 34, Dtn 7, Jer 29 und auch Esr 9 erklärt er überzeugend als Reflexion auf Neh 13, 23-31.

Das Buch wird mit zwei Abschnitten über "Forschungsgeschichtliche Voraussetzungen" und "Zur Methodik der Nehemia-Exegese" eingeleitet und von einem das Fazit aus den Einzelanalysen ziehenden Kapitel "Auswertung" sowie einem aus- führlichen Literaturverzeichnis und einem Verzeichnis ausgewählter Bibelstellen abgeschlossen. Außerhalb der Seitenzählung ist nach Verlagsanzeigen noch eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse in deutscher und englischer Fassung eingefügt. Dem Vf. gebührt Dank für diese nach Inhalt und Umfang den Maßstab für eine Dissertation weit überschreitende Arbeit.