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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1264–1268

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Büttner, Matthias

Titel/Untertitel:

Das Alte Testament als erster Teil der christlichen Bibel. Zur Frage nach theologischer Auslegung und "Mitte" im Kontext der Theologie Karl Barths.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2002. 276 S. gr.8 = Beiträge zur evangelischen Theologie, 120. Geb. Euro 54,00. ISBN 3-579-05329-9.

Rezensent:

Henning Graf Reventlow

Der Titel dieser für den Druck bearbeiteten Erlanger theologischen Dissertation kann leicht irreführen, indem man zunächst systematisch-theologische Ausführungen über die Theologie Karl Barths erwartet. Gemeint ist aber - offensichtlich angeregt durch den Doktorvater H.-C. Schmitt - eine Darstellung der biblisch-theologischen Diskussion über die "Mitte" des Alten Testaments in der Periode des stark durch Karl Barth geprägten theologischen Klimas. Allerdings wird mehrfach ausdrücklich auf Barth zurückgegriffen, und irgendwie steht seine theologische Grundauffassung immer im Hintergrund.

In ihrem Hauptabschnitt (I, 2-III, 5) ist die Arbeit eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung zu dem im Titel genannten Fragenkomplex der sog. "Mitte" des Alten Testaments. Gerahmt wird diese in Hauptteil I "Zum Problem einer theolo- gischen Auslegung des Alten Testaments" (18-60) durch eine systematische Vorbesinnung (I,1; 18-30) und im Schlussteil III (123-258) durch den Versuch einer eigenen Neubestimmung der "Mitte" durch den Vf. (III, 6; 188-258). Ganz klar wird die Abgrenzung der Hauptteile nicht, da jeweils auch auslegungsgeschichtliche Abschnitte hineinspielen.

Im systematisch-theologischen Kapitel 1 "Die theologische Ausgangsbasis" (18-30) wird als Grundlegung, dabei an Barth anknüpfend, Theologie zunächst als "kirchliche Rede von Gott" (1.1.1) definiert. Daraus ergeben sich die weiteren Definitionen "Theologie als wissenschaftliche Selbstprüfung der kirchlichen Rede von Gott" (1.1.2) und "Die kirchliche Rede von Gott als Vorgabe und Aufgabe wissenschaftlicher Theologie" (1.1.3). Damit ist schon ein konservativer Grundansatz deutlich gemacht, zu dem neben Barth vor allem die von ihrer Tradition her lutherische Erlanger Theologie beigetragen hat. In diesem Zusammenhang wird besonders F. Mildenbergers (als Versuch einer Synthese von systematischer und biblischer Theologie mehr als üblich zu beachtende) "Biblische Dogmatik" (Bd. 1, 1991) zitiert. Danach stellt (mit Mildenberger) die Mündigkeit der Gemeinde an die wissenschaftliche Theologie eine Vermittlungsaufgabe zwischen kirchlichem Schriftgebrauch und "historischer Kompetenz" (20). Das wird in Abschnitt 1.2.2.1 näher entfaltet.

In den Abschnitten 1.2 und 1.3 (21-30) behandelt der Vf. die Problematik einer theologischen Auslegung des Alten Testaments. Dass das Alte Testament auch heilige Schrift des Judentums ist (was uns durch die jüngere Vergangenheit eindrücklich genug bewusst geworden ist), muss für B., im Gefolge Schmitts, mit seiner Zugehörigkeit zum christlichen Kanon vermittelt werden (1.2.1; Ausführung 1.3.1). Das Resultat ist eindeutig: "daß eine Auslegung des Alten Testaments nur dann als eine theologische bezeichnet werden kann, wenn sie das Alte Testament bewußt als ersten Teil der christlichen Bibel versteht." Dies geschieht, indem "die alttestamentliche Urkunde von Israels Religion" "als Zeugnis von Gottes Wort begriffen und ... ausgelegt" wird (28). Der Text - nicht Vorstufen - soll dabei in der kanonischen Endgestalt in seinem ursprünglich-historischen Verständnis, jedoch als gegenwärtig wirksames Wort ausgelegt werden (1.3.2.1). Zentral muss dabei die Frage nach der Einheit der Schrift sein (1.3.2.3).

Im zweiten Unterabschnitt der Problembesinnung (I, 2) setzt schon die Auslegungsgeschichte ein, wobei zunächst die bekannte antialttestamentliche Marcion-These Harnacks (1920; 1924) und, nach eigenen Einwänden, die mit Hellbarth als "sehr lahm" bezeichnete (38) Reaktion der damaligen Alttestamentler referiert wird. Nachdem er die ästhetische literatur- und religionsgeschichtliche Arbeit Gunkels (2.2) zwar in ihrem Verdienst gewürdigt, ihr "ungeklärtes Ineinander von Ästhetik und Religion", von Religion und Offenbarung als "betonte kirchlich-dogmatische Unentschiedenheit" (50) - mit Recht - kritisiert hat, lässt er die Kritik K. Barths an Harnack (2.3.1) und an der alttestamentlichen Wissenschaft (2.3.2) ausführlicher zu Worte kommen, die "auf ein Nicht-Ernstnehmen der Offenbarung Gottes als dem schlechthinnigen Thema der Theologie" ziele (59). Wie bekannt, zielt das für Barth auf die (im Übrigen christozentrisch ausgerichtete) Predigt.

Teil II (61-122) behandelt die theologische Auslegung des Alten Testaments bei Wilhelm Vischer und G. von Rad. Die Zusammenstellung dieser beiden in der Weite des Blickpunktes ungleichen Theologen ist beabsichtigt. B. ist nicht blind gegenüber der Schwäche Vischers in der Art seiner christologischen Deutung des Alten Testaments (88-90), wertet seine Position jedoch im Ganzen positiv, als eine, welche "der Einheit der Schrift Rechnung trägt", die in der Ewigkeit des Wortes Gottes begründet sei, was nur Altes Testament und Neues Testament bezeugen (92). Bei von Rad sieht er - trotz dessen Kritik an Vischer 1935 (4.1.2.1.1) und der damaligen kirchlichen Schriftauslegung - eine (sogar zunehmende) Nähe zu Vischer (102). Von Rad wird als in seiner Weise auf das Christuszeugnis im Alten Testament schauender Theologe vorgestellt. Das erfasst einen wichtigen Aspekt seiner Theologie. Fraglich ist nur, ob dieser von der weit davon getrennt (III, 5.1.3) behandelten Ablehnung einer "Mitte" des Alten Testaments durch von Rad isoliert beurteilt werden kann. Angemessener scheint mir, von einer nie wirklich eingelösten Intention zu sprechen.

Mit Teil III "Theologische Auslegung und Mitte des Alten Testaments" (123-187) kommen wir zu dem deskriptiven Hauptteil der Arbeit. Eine innere Gliederung der Entwicklung erhält dieser Abschnitt, in dem im Übrigen die durchweg bekannten Positionen prominenter Alttestamentler vorgestellt werden, durch die Aufteilung in eine Periode "im Anschluß an von Rad" (5.2) und "im Anschluß an Smend" (5.3). Bei aller Wertschätzung für letzteren Kollegen möchte man ihm diese zentrale Bedeutung doch nicht zuweisen, zumal neben Smends Vorschlag: "Jahwe der Gott Israels, Israel das Volk Jahwes" (137-146) - er selbst (Ges. Stud. I, 75) weist dafür auf seine Vorgänger Duhm, Wellhausen, Noth hin - noch andere "elliptische" Doppelaussagen als "Mitte" vorgeschlagen worden sind. Chronologisch (1970) steht Smend für einen gewissen Zeitabschnitt am Anfang, aber ob alle folgenden Vorschläge (Fohrer, Gunneweg, H. H. Schmid usw.) sich sachlich ihm anschließen, ist zu bezweifeln. Außerdem ist sehr zu bedauern, dass der von M. Klopfenstein/U. Luz hrsg. Band "Mitte der Schrift. Ein jüdisch-christliches Gespräch" (Bern u. a. 1987), Ertrag eines Berner Symposiums von 1985, unberücksichtigt geblieben ist, da hier das Thema "Das Alte Testament als Heilige Schrift des Judentums" (s. o.) von authentischen Gesprächspartnern diskutiert wurde. Wichtig ist daran u. a., dass das Judentum eine solche Systematik nicht kennt.

Als Ergebnis stellt der Vf. die Notwendigkeit fest, nach einer "Mitte" des Alten Testaments zu fragen mit dem Ziel, "eine Einheit des Alten Testaments im Kontext historisch-kritischer Befunde wiederzugewinnen" (176). Damit folgt er seinem Lehrer H.-C. Schmitt (177; vgl. 5.3.9, 170-175). Wenn man an die kurz vorher erschienene Arbeit von E. S. Gerstenberger, Theologien im Alten Testament. Pluralität und Synkretismus alttestamentlichen Gottesglaubens, Stuttgart 2001, denkt, ist der Zweifel daran, ob das methodisch möglich ist, noch keineswegs verstummt. Darüber hinaus bezieht sich diese "Mitte" auch auf eine Einheit zwischen Altem Testament und Neuem Testament (5.4), was im Rahmen einer geforderten gesamtbiblischen Theologie steht (dazu auch H. Seebaß; 5.3.8, 168-170. - Vgl. übrigens bereits Reventlow, Hauptprobleme der Biblischen Theologie im 20. Jahrhundert [Darmstadt 1983]). Hierzu verweist B. noch einmal auf H.-C. Schmitt (Die Einheit der Schrift und die Mitte des AT, in: J. Roloff/H. G. Ulrich, Hrsg., FS F.Mildenberger, 1994, 45-64, 61), der mit einer Glossierung der Smendschen Doppelformel den christlich-neutestamentlichen Aspekt in sie hineinträgt (183).

Abschließend (III,6; 188-258) versucht der Vf. in einem nochmals ausführlichen Durchgang eine eigene Neubestimmung der "Mitte" des Alten Testaments zu erarbeiten. Hier werden zunächst in Weiterführung der Smendschen Bestimmung der "Mitte" (6.1) die drei Grundvoraussetzungen einer christlichen Theologie des Alten Testaments wiederholt: 6.1.1 "Die Berücksichtigung der Realität des Judentums" - sie führt zur sog. "Bundesformel" als Grundlage; 6.1.2 "Die Frage nach der Gegenwart der Kirche im AT" - sie kann nur zu einem inklusiven Verständnis von Kirche in Israel führen; 6.1.3 "Die Frage nach dem Christuszeugnis des AT" - m. E. am prägnantesten zu fassen in dem Satz: "Das AT sagt, was Christus ist, das NT, wer er ist".

Den eigenen Versuch einer Neubestimmung der "Mitte" durch den Vf. formuliert die Überschrift von 6.1.4 (193): "Das alttestamentliche Zeugnis von dem Israel zugewandten Leben Jahwes als der in Jesus Christus für alle Menschen geschehenen Wirklichkeit". Dies wird in einer erweiterten Explikation der sog. Bundes- oder Zugehörigkeitsformel noch genauer ausgeführt (194 f.). Anschließend gibt es noch einen gegliederten Abschnitt (6.2; 195-253) über "Funktionen der Mitte des Alten Testaments". Dazu gehören, in Aufnahme früherer Ergebnisse: "Das AT als Israelerinnerung" (6.2.2.1) mit einem Anhang über "Notwendigkeit und Grenze historischer Exegese". Hier wird, noch einmal an Barth anknüpfend, deren Notwendigkeit mit der "vollen Menschlichkeit der Schrift" (203) begründet. Dabei geht es um die Ermittlung "des Eigensinns der Texte". Hier folgt noch einmal (mit R. Rendtorff, Hermeneutik) die Kritik an der Beschränkung auf literarkritisch zergliederte Texte. Von der historischen Erforschung der Geschichtswissenschaft - sie ist eine Hilfswissenschaft - führt der theologische Weg zum Verstehen (208). Daraus folgt konsequent: "Das AT als Zeugnis von Gottes Wort" (6.2.2.3) und: "Das Alte Testament als Christuszeugnis" (6.2.2.3.2). Die "Mitte" wird dann als "Hörhilfe" verstanden "auf das Wort in den Worten: Erwartung, daß Gott spricht" (6.2.3). Der eschatologische Aspekt (6.2.3.3.2) ergibt sich daraus: "Die Zeit der eschatologischen Erwartung als Zeit der Kirche" (250). Am Schluss (6.3; 254-258) stehen einige "Desiderate", die zu beheben für die alttestamentliche Wissenschaft wünschenswert wäre. Der Hauptwunsch ist, "daß sich der Alttestamentler gerade darin nicht für unzuständig erklärt, wo seine Zuständigkeit unverzichtbar ist: Das Alte Testament theologisch ... auszulegen" (255). Dafür, meint der Vf., solle die von ihm umschriebene "Mitte" maßgeblich sein. Literaturverzeichnis und einige Register schließen das Werk ab.

Zugegeben: Das Buch hebt sich in Inhalt, Tendenz und Ausführung von dem meisten ab, was heute auf den Markt der alttestamentlich-exegetischen Literatur kommt. Mancher Leser mag denken, eine derartige Argumentation sei altmodisch - auf K. Barth berufe man sich heute kaum noch. Andererseits: Die seit Gabler bestehende Trennung von Dogmatik und Exegese zeigt vielfach gerade dadurch deutlich ihre verhängnisvollen Konsequenzen. Und glücklicherweise gibt es daneben auch gerade die Bemühung um ein theologisches Verständnis der Schrift, und es ist aktuell. Der Vorteil dieser Dissertation liegt in dem Miteinander eines dogmatischen und exegetischen Engagements. Sie lebt auch von dem besonderen theologischen Klima Erlangens, wo beides zusammentreffen konnte.

Dass inhaltlich gegenüber schon anderswo Gesagtem nichts wirklich Neues auftaucht, ist demgegenüber weniger wichtig. Der Vf. lehnt sich oft weitgehend an seine Lehrer an. Bei einer Dissertation ist das verständlich. Auf einige Lücken ist darüber hinaus schon hingewiesen worden. Doch sollte man diese fleißige und interessierte Arbeit begrüßen als eine Stimme, die wieder gehört zu werden verdient.