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Ausgabe:

Dezember/2003

Spalte:

1259–1262

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Klauck, Hans-Josef

Titel/Untertitel:

Apokryphe Evangelien. Eine Einführung.

Verlag:

Stuttgart: Verlag Katholisches Bibelwerk 2002. 297 S. 8. Kart. Euro 23,90. ISBN 3-460-33022-8.

Rezensent:

Jens Schröter

Was sind apokryphe Schriften? Folgt man dem Decretum Gelasianum, einem Kanonverzeichnis des 6. Jh.s, handelt es sich um "von Häretikern oder Schismatikern" verfasste Bücher, die von der Kirche abgelehnt werden. Dem Selbstverständnis etlicher dieser Schriften zufolge sind mit "apokryph" dagegen Offenbarungen bezeichnet, die nur Eingeweihten zugänglich sind und über das in den allgemein anerkannten Schriften Überlieferte hinausgehen. Die Beschäftigung mit den Apokryphen führt darum immer auch Kontroversen innerhalb des (hier: antiken) Christentums vor Augen, dessen Vielfalt durch diese Schriften eindrücklich belegt wird.

Im heute gängigen Gebrauch werden mit "Apokryphen" diejenigen Schriften bezeichnet, die sich nicht im biblischen Kanon befinden (wiewohl die Grenzen fließend sind, was sich an den sog. "Agrapha" zeigt, von denen sich einige in kanonischen Texten finden). Diese Verwendung ist historisch-pragmatisch orientiert und impliziert kein theologisches Werturteil. Deutlich muss freilich bleiben, dass auf diese Weise Schriften ganz unterschiedlichen Charakters zusammengefasst werden, die - ebenso wie die "Apostolischen Väter" - niemals ein zusammengehöriges Corpus gebildet haben. An diesem Gebrauch orientiert sich auch die vorliegende Einführung.

Wie der erste Band der Ausgabe von W. Schneemelcher konzentriert sie sich auf die Jesusüberlieferung, beginnend mit den Agrapha, denen die Besprechung von außerkanonischen Fragmenten und Schriften über Jesus folgt. Aufgenommen sind des Weiteren "Legenden um Marias Tod" sowie die jüdischen "Toledot Jeschu", ein jüdisches "Anti-Evangelium", dessen Anfänge evtl. im 4. Jh. liegen. Weitere Bände mit Einführungen zu den apokryphen Apostelakten sowie den Apokalypsen und Briefen sollen folgen. Textbeispiele (in Übersetzung) werden häufig zur Illustration der Ausführungen herangezogen, für vollständige Textausgaben und Übersetzungen bleibt man dagegen auf Schneemelcher (Neubearbeitung, hg. von C. Markschies, erscheint demnächst), die neue Übersetzung der Nag Hammadi-Schriften durch den Berliner Arbeitskreis bzw. auf D. Lührmanns zweisprachige Ausgabe der Evangelienfragmente verwiesen.

Der These einiger nordamerikanischer Forscher, manche apokryphe Texte (bzw. deren Vorstufen) seien älter als die neutestamentlichen Schriften, folgt K. mit der Mehrheit der neueren Forschung nicht. Hier handle es sich um eine neue Ideologie, die die ältere, von der Vorherrschaft des Kanons überzeugte Sicht durch ein "nicht kanonisches, unorthodoxes, freies Schrifttum (und Christentum)" ersetzen wolle (9). Historische Beurteilungen hätten jedoch unabhängig von derartigen Werturteilen zu erfolgen. Stellt sich die ältere Sicht als die historisch zutreffende heraus, so sind die apokryphen Schriften als Zeugnisse für Entwicklungen im Christentum seit dem 2. Jh. zu würdigen.

Die Aufteilung der Schriften spiegelt die Schwierigkeit einer Systematik wider: Neben an Abschnitten des Lebens Jesu ausgerichteten Teilen (Kindheitsevangelien, Evangelien über Tod und Auferstehung) stehen solche, die sich an der religiösen Provenienz (judenchristliche Evangelien), am Fundort (Evangelien aus Nag Hammadi), an der literarischen Gattung (Gespräche mit dem auferstandenen Jesus, "ortlose" Dialoge mit Jesus) oder einfach nur am Namen (Ägypterevangelium, hier werden die beiden Versionen bei Clemens von Alexandrien und aus Nag Hammadi, die nur den Namen gemeinsam haben, behandelt) orientieren. Zumindest die (gegenüber Schneemelcher neu geschaffene) Kategorie "Evangelien aus Nag Hammadi" überzeugt nicht, denn in Nag Hammadi wurden z. B. auch ein Ägypterevangelium, das Apokryphon des Johannes (drei Versionen), das Buch des Thomas und der Dialog des Erlösers gefunden, die hier anderen Abschnitten zugewiesen werden, wie umgekehrt die unter dieser Kategorie subsumierten Schriften (Thomas- und Philippusevangelium, Evangelium Veritatis) durchaus unterschiedlichen Charakters sind.

Von den Agrapha wird eine repräsentative Auswahl aus kanonischen, altkirchlichen und apokryphen Schriften, ergänzt um einige im Islam überlieferte Jesusworte, behandelt, die nicht an der Frage der Herkunft vom historischen Jesus orientiert ist. Der traditionsgeschichtliche Wert sei hiervon zu unterscheiden, eine gravierende Veränderung des aus den kanonischen Evangelien gewonnenen Jesusbildes ergebe sich durch die Agrapha nicht.

Bei den Fragmenten wird neben den bekannten (Papyrus Egerton, POxy 840, Geheimes Markusevangelium) auch das 1999 edierte, bislang noch wenig untersuchte sog. "Unbekannte Berliner Evangelium" besprochen, das Verwandtschaft zum Petrusevangelium sowie zum Straßburger koptischen Papyrus aufweist.

Die Zuweisung der bei den Kirchenvätern erhaltenen Fragmente sog. "judenchristlicher Evangelien" ist im Fall von Hebräer- und Nazaräerevangelium ein notorisch dorniges Unterfangen. Die Passage aus der koptischen Cyrill-Übersetzung, bei Schneemelcher noch zu EvHebr gerechnet, wird zu Recht weggelassen. Aufgenommen ist dafür die dort bis zur letzten Auflage (1990) fehlende, bereits 1972 edierte Fassung der Erzählung von der Ehebrecherin bei Didymos dem Blinden (zu beidem vgl. auch Lührmann). Die Unsicherheit bei der Identifizierung des EvNaz wird ausdrücklich vermerkt, was einen deutlichen Fortschritt gegenüber Schneemelcher darstellt. Insgesamt wäre hier eine grundlegende Untersuchung notwendig, um etwas mehr Licht ins Dunkel zu bringen. Eine allgemeinverständliche Einführung kann dies naturgemäß nicht leisten.

Das EvThom wird mit der zunehmend an Akzeptanz gewinnenden Sicht der neueren Forschung als Jesusüberlieferung "auf dem Weg zu einer voll ausgebildeten Gnosis" beurteilt (162, so auch mein Vorschlag in: Schröter, Erinnerung an Jesu Worte, 1997, sowie NHD 1, 2001). Ein mitunter eigenständiger Zugang zu alten Traditionen ist damit nicht prinzipiell ausgeschlossen, insgesamt gehört die Schrift jedoch ins 2. Jh. und setzt die Synoptiker voraus. Über Einzelheiten - wie das Verhältnis von Jakobus und Thomas nach Log. 12 und 13 - kann man geteilter Meinung sein. Insgesamt dürfte sich diese Einschätzung jedoch bewähren.

Anders als das EvThom gehören EvPhil und EvVer in die valentinianische Gnosis. Klauck greift hier die Differenzierung zwischen den Fragmenten Valentins und den Schriften seiner Schüler (vgl. Markschies) auf und interpretiert beide Texte vor diesem Hintergrund als Zeugnisse aus dem späten 2. bzw. frühen 3. Jh.

Stößt der Begriff "Evangelium" schon bei diesen Schriften an seine Grenzen, so versagt er als literarische Gattungsbezeichnung bei den Dialogen des Auferstandenen völlig. Diese Gespräche bewegen sich oftmals in einem philosophisch-religiösen Milieu, dessen Grenze zur Gnosis häufig undeutlich ist. So sind die von K. zur Illustration der in der Sophia Jesu Christi gestellten Fragen nach Herkunft, Ziel und Sinn der Existenz (vgl. etwa auch EvThom, Log. 50; Dial 34) bei Clemens, ExTheod 78,2, auch keine "klassischen Grundfragen der Gnosis" (so 196), sondern allgemein philosophischer Natur (vgl. Abramowski, aufgenommen bei Markschies, Valentinus Gnosticus?).

Die vorgelegte Einführung berücksichtigt neue Texteditionen und Forschungsergebnisse und präsentiert diese in einer gut verständlichen, auch dem Nicht-Fachmann zugänglichen Sprache. Erkennbar werden zugleich Fragen, an denen die Forschung künftig zu arbeiten hat: Ist die Bezeichnung "judenchristliche Evangelien" eine sinnvolle Kategorie zur Erfassung der entsprechenden Fragmente? Wie lässt sich der Begriff "Gnosis" angesichts der immer deutlicher werdenden "Grauzone", in der sich etliche Schriften des 2. Jh.s bewegen, scharf konturieren? Und schließlich: Ist der an den kanonischen Schriften orientierte Ausdruck "Evangelien" eine angemessene Bezeichnung für die darunter subsumierten nichtkanonischen Schriften?

Die ausgewogene, am gegenwärtigen Forschungsstand orientierte Darstellung (die auch Hinweise auf Internetseiten zu den entsprechenden Schriften einschließt) macht einmal mehr deutlich, dass die sog. "Apokryphen" faszinierende Zeugnisse für die Entwicklung des Christentums seit dem 2. Jh. sind, deren Reichtum noch längst nicht ausgeschöpft ist. Es zeigt sich weiter, dass die in den letzten Jahrzehnten die Diskussion viel zu stark beeinflussenden Thesen der Frühdatierung und Unabhängigkeit mittlerweile einer besonnenen Analyse dieser Schriften gewichen sind. Hierzu wird die geplante englische Ausgabe des Bandes sicherlich weiter beitragen.