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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

922 f

Kategorie:

Ökumenik, Konfessionskunde

Titel/Untertitel:

Religion und Gesellschaft im postsowjetischen Raum. Sammlung von Aufsätzen. Vorwort: A. Hampel. Redaktion und Anmerkungen: M. Smirnov u. G. Avvakumov.

Verlag:

Würzburg: Der Christliche Osten 1996. 294 S. 8. ISBN 3-927894-24-9.

Rezensent:

Martin Tamcke

In der Hoffnung, den Dialog zwischen den demokratisch-liberalen Vertretern der russisch-religiösen Intelligenz mit westlichen Kollegen in Gang bringen zu können, wurde die vorliegende Übersetzung ausgewählter Beiträge aus dem russischen ökumenischen Jahrbuch "Logos" (Nr. 50: Dialog Ost-West) erstellt.

Zoja Aleksandrovna Krachmal’nikova, einst wegen antisowjetischer Propaganda verurteilte Schriftstellerin, demonstriert da in ihrem Beitrag "Worin liegt der Sinn unserer Freiheit?" die Suche nach heilsamen Wegen in die Zukunft Rußlands. Hohe moralische Ansprüche "einer echten Demokratie" werden zum Maßstab ("bis zum Ende der Zeiten") von Wahrheit und Lüge postuliert. Der "vernünftige" Ausweg erscheint als ferne Hoffnung (11-37).

Aleksandr Scipkow, einst wegen seines Eintretens für religiöse Rechte vom KGB verfolgt, beschreibt den Weg vom Rat für Religionsangelegenheit zum Ministerium für Kultangelegenheiten. 1990 hätten die religiösen Organisationen zwar "wirkliche Freiheit" erhalten, Chancen aber, "sie so zu behalten" gäbe "es nicht allzu viele" (38-51).

Sergij Filatov tritt für die Gewissensfreiheit ein im Spannungsfeld zwischen Glaubensfreiheit und Staatskirche. Er warnt vor einem korporativen Selbstverständnis der Kirche, daß die nicht zur Kirche Gehörigen ausschließt und so "die ganze historische Verantwortung für den zukünftigen Antiklerikalismus" beim heutigen Episkopat der ROK festmacht. Es bestünde für die Kirche noch die Möglichkeit, "die moralische und geistige Autorität für die ganze Gesellschaft zu werden. Aber die Zeit dafür läuft ab" (52-59).

Ljudmila Voroncova sieht gar die Zukunft durch "die Religion der Vergangenheit bedroht". Die Kirche demonstriere "die gleiche ideologische Intoleranz, den gleichen Widerwillen gegenüber Dialog und Kompromiß, die gleiche Ablehnung von Wissenschaft und Kultur, die gleichen Eigentumsinteressen und schließlich die gleiche konfessionelle Besessenheit wie die ehemals herrschende Partei der ehemaligen Sowjetunion" (60-70).

In dieses Bild allgegenwärtiger Bedrohung zeichnen die Beiträge von Aleksej Marmin die Situation des Katholizismus (71-83), Pieter Dejneka die der protestantischen Missionen (97-110), Bischof Wirth die praktischen Probleme der Reorganisation der katholischen Kirche (84-96) und Jakov Krotov seine Verabschiedung von der Monarchie (242-272) ein.

Die Staaten außerhalb Rußlands auf dem Boden der ehemaligen Sowjetunion werden im 2. Teil in den Blick genommen: die politisierte Situation des religiösen Lebens in der Ukraine (V. Elenskij, 111-139), die Union von Brest und die Existenz der Ukrainischen Katholischen Kirche unter dem Gesichtspunkt einer noch ausstehenden Bewußtmachung der Lehrstunde von Balamand (N. Kocan, 140-177), die religiöse Renaissance unter den Bedingungen von Multikonfessionalität und tradierter Toleranz (V. Kalinovskij, 178-194), die letzten 5 Jahre unter den Bedingungen des "schwierigen Alltags" in Litauen (P. Subacjus, 195-222) und das politisch sich destabilisierende Kasachstan, wo orthodoxe und islamische Geistliche sich gegen die "nichttraditionellen Religionen" des Protestantismus und Katholizismus wandten und die Gefährdung durch religiöse Schlagworte gegeben sei (A. Malasenko, 223-241).

Am Ende steht ein Interview mit der vom ökumenischen Geist bestimmten Laienvorsteherin Tat’jana Ptuskina von der Moskauer Cosmas- und Damianj-Kirche, das mit einem Leskov-Zitat endet: "Gott wird dich nicht preisgeben, das Schwein wird dich schon nicht fressen" (273-290). Hilfreich sind die vielen erläuternden Anmerkungen zu jedem Beitrag und die Kurzbiographien zu den Autoren.

Der Band will ein Forum zur Diskussion der Probleme der frustrierten und bedrängten religiös interessierten Intellektuellen sein. Darin liegt sein Wert und seine Grenze.