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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1218–1221

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Weiße, Wolfram [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wahrheit und Dialog. Theologische Grundlagen und Impulse gegenwärtiger Religionspädagogik. Unter Mitwirkung von F. Doedens.

Verlag:

Münster-New York-München-Berlin: Waxmann 2002. 232 S. gr.8 = Religionspädagogik in einer multikulturellen Gesellschaft, 4. Kart. Euro 19,80. ISBN 3-8309-1140-8.

Rezensent:

Reinhard Wunderlich

Wichtige Bausteine einer Zukunftswerkstatt für den Religionsunterricht an den öffentlichen Schulen in einer immer stärker diffundierenden und sich differenzierenden Gesellschaft mit ihren globalisierten Schlüsselproblemen, wie sie in urbanen Zentren zwischen Pulverfass und Schmelztiegel besonders markant hervortreten, liegen mit dem angezeigten Sammelband von Tagungsbeiträgen vor, die das Hamburger Modell eines "Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung" (vgl. die Leitsätze von Wolfram Weiße, 121-143 und die religionspädagogischen Prüfsteine von Folkert Doedens, 85-88) dezidiert dem fundamentalen Problem des Verhältnisses von Wahrheit und Dialog aussetzen und gleichzeitig alternative, aber sich eher ergänzende als trennende religionspädagogische Strukturfolgerungen zur Diskussion stellen, die sich damit generell absetzen von einem staatlich verantworteten Unterricht mit religionskundlichen Themen. (Wieder anders ist das Problem in England und Wales mit seinen lokalen Agreed-Syllabus-Konferenzen gestellt, wie der Religionspädagoge John M. Hull ausführt: "Der Segen der Säkularität", 167-179).

Bischöfin Maria Jepsen setzt in ihrer Einführung das Thema theologisch-funktional in den Horizont der vom Ökumenischen Rat der Kirchen ausgerufenen Dekade zur Überwindung von Gewalt. Nur eine religiöse Bildung, die gleichursprünglich eigene religiöse Identität (im Modus der Wahrheitssuche und mit der Metapher "auf dem Weg") und offene Wahrnehmung religiöser Vielfalt (im Modus des Dialogs) befördert, könne kulturelle und religiöse Bruchstellen als Ursachen von (politischer) Gewalt überwinden helfen (13 f.).

In ähnlichem, vor allem ethisch ausgerichteten Wahrheits-Interesse argumentieren auch der Rabbiner Kai Eckstein (35-42) und der muslimische Theologe Farid Esack (43-52) für die Notwendigkeit und Möglichkeit einer dialogischen Grundstruktur im je authentischen Miteinander der Religionen.

Staatsrat Hermann Lange führt institutionell-legitimatorisch in die Thematik ein. Er verankert den Religionsunterricht nach Artikel 7 GG in der Freiheit und Würde jedes Menschen, dessen unverfügbares Personsein letztlich in seinem Gottesverhältnis zum Ausdruck kommt. Die Bearbeitung des Gottesverhältnisses im Religionsunterricht kann nur als Gespräch "in der Religion", also in existentieller Weise (nicht nur religionskundlich) und ohne staatliche Inhaltsbestimmung und Zwang geschehen. So ist sie dann aber "ein bildungspolitisches Programm von eminenter Bedeutung" für alle Schüler, die wollen (Prinzip des Dialogs), und grundgelegt im Bekenntnis der evangelischen Kirche (Prinzip der Wahrheit im offenbarungstheologischen Sinne von Existentialität, Geschichtlichkeit, Unableitbarkeit und Kreativität jeder Gotteserfahrung; 15-18).

Die rechtliche Absicherung dieser Argumentation erfolgt durch den Abdruck des "Rechtsgutachtens über die Vereinbarkeit des Hamburger Modells eines Religionsunterrichts für alle in evangelischer Verantwortung mit Artikel 7 Abs. 3 GG" des Erlanger Staats-, Verwaltungs- und Kirchenrechtlers Christoph Link (201-230). Generell gilt nach wie vor die Bekenntnisgebundenheit des RU, die zwar denominationelle Einigungen einschließt (christlich-ökumenischer RU), aber kollektives Bestimmungsrecht anderer beteiligter Religionsgemeinschaften ausschließt. Daraus folgt für das Hamburger Modell (bekanntlich ohne die katholische Konfession), dass ein evangelisch profiliertes Wahrheitsverständnis existentiell für alle beteiligten Schüler leitend sein müsse, das den Dialog mit authentischen andersreligiösen Wahrheitsansprüchen dann ermögliche, wenn die Nordelbische Kirche als ausschließlicher Vertreter gegenüber der Schulbehörde dies als in Übereinstimmung mit ihren Grundsätzen vertrete und verantworte. Inhaltliche Fragen können mit dem Gesprächskreis Interreligiöser Religionsunterricht geklärt werden, dessen Mitgliedern allerdings keine Außenvertretung zukommt. Der Einsatz von nichtchristlichen Lehrkräften als "authentische Vertreter" ihrer Religion kann organisiert werden, wenn die letzte Verantwortung bei der christlichen Religionslehrkraft verbleibt.

Die brisante Vorgeschichte von Artikel 7,3 GG wird von Kristian K. Kronhagel beleuchtet: "Religionsunterricht und Verfassung in der Weimarer Republik. Die politische Diskussion über Art. 149 RV in der Weimarer Nationalversammlung" (181-199).

Die christlich-theologische Beurteilung der wichtigen Frage der Übereinstimmung mit den Grundsätzen der evangelischen Kirche wird durch zwei systematische Beiträge erhellt, allerdings nicht explizit gemacht.

Für Michael Moxter ("Wahrheit und Dialog. Eine christliche Perspektive", 53-67) ergibt sich aus dem Bildungsgeschehen im Religionsunterricht an der öffentlichen Schule die Anleitung zu einem selbstreflexiven Weg zwischen Tradition und Kritik, zwischen Bestimmtheit und Offenheit von Religion, evangelisch akzentuiert zwischen Gewissheit und Anfechtung. Dabei gilt es gegenwärtig, pluralismusfähig immer auch die Fremdperspektivität anderer (religiöser) Sinndeutungen im Bewusstsein zu halten - eine differenzhermeneutische Aufgabe, die im Zusammenspiel mit der Theologie einer wahrheitsorientierten, aber nicht-religiösen Religionsphilosophie zukäme. Kriterien für religiöse Wahrheit sind einerseits die auch anderen plausibel zu machende Lebensdienlichkeit eines religiösen Glaubens und andererseits die subjektiv-gewisse, aber je korrekturfähige Selbstunterscheidung von Gott. Dialogisch (und eben nicht machtförmig) wird Wahrheit bezeugt, indem sie sowohl gemeinsamer Bezugspunkt als auch nicht vorentschiedener, noch offener Zielhorizont ist, dem zugetraut wird, sich selbst evident zu machen. Die protestantismustheoretisch gefärbten Überlegungen Moxters weisen die Anschlussfähigkeit der christlichen Religion an diesen Ansatz nach, diskutieren aber nicht, inwieweit andersreligiöse Theologien sich diesen formalen und inhaltlichen Kriterien fügen können und wollen.

Unter dem Titel "Die pluralistische Religionstheologie. Relativitätsschock für den christlichen Glauben?" (19-34) plädiert Reinhold Bernhardt für eine dreifach gestufte, dezidiert christliche Theorie des interreligiösen Dialogs im Sinne eines "mutualen Inklusivismus". Zunächst geht es um die allgemeine (religions)hermeneutische Aufgabe, den Anderen bzw. Fremden zu verstehen, wobei ein völliger Perspektivenwechsel wie auch eine interreligiöse Zentralperspektive sich als Illusionen erweisen. Sodann gilt es, die dialogische Situation in der Spannung zwischen Empathie und Konfession zu gestalten. Dabei geht es nicht um einen rationalen Diskurs über Geltungsansprüche, sondern um die jeweilige Artikulation existentieller, historisch geronnener Wahrheiten, die jeder Dialogpartner an den für ihn bestimmenden maßgeblichen Werten misst und sich dabei der unhintergehbaren eigenen Standortgebundenheit bewusst wird. Drittens bleibt es aber Aufgabe einer christlichen Religionstheologie, für die vielfältigen Entdeckungszusammenhänge im Dialog die spezifisch christlichen Begründungszusammenhänge auszuarbeiten, die sich eben gerade nicht aus dem formalen Dialogprinzip ergeben, sondern aus dem spezifisch jüdisch-christlichen Traditionsstrom, der die Universalität der Kreativität Gottes anheimstellt.

Beide Beiträge stützen christlich-theologisch die religionenökumenische Weite der gegenwärtigen Religionspädagogik. Soll diese Weite nun in einem einzigen Fach repräsentiert und gestaltet werden, wie es das Hamburger Modell versucht, oder soll der "Weg der Fächergruppe mit einem dialogorientierten, mehrseitig kooperierenden evangelischen Religionsunterricht" beschritten werden, wie ihn Karl Ernst Nipkow für die Position der EKD noch einmal sehr differenziert in seiner Genese und systematischen Verankerung an der Schule beschreibt (89- 104)? Eine Antwort auf diese Frage wird m. E. vorläufig bleiben müssen, da ja in beiden Modellen das Problem der katholischen Konfession und die Außenvertretung der nichtchristlichen Religionen noch nicht hinreichend gelöst ist. In Hamburg selbst hat sich die katholische Kirche ganz aus dem Bereich der öffentlichen Schule zurückgezogen, und das indirekte Mitwirken des Gesprächskreises Interreligiöser Religionsunterricht beruht auf glückenden Personenkonstellationen (vgl. H. F. Rupps Anmerkungen zum Hamburger Modell, 145-151), im Modell der Fächergruppe bleibt es bei einer schiefen Systematik im Verbundlernen, wenn zwei Denominationen einer Religion zusammentreffen mit Einzelvertretungen nichtchristlicher Religionen, die ja selber auch durch unterschiedliche Paradigmata und verschiedene Ausdrucksgestalten geprägt - und oft gespalten - sind, was wiederum eine offizielle Außenvertretung auf schulisch relevanter Länderebene im Unterschied zum überschaubaren Hamburg so schwierig macht. Bevor man christlicherseits von den anderen Religionsgemeinschaften zu Recht fordert, sich auf einen jeweils pädagogisch und theologisch verantworteten und für das eigene Wahrheitsverständnis authentischen Lehrplan im Rahmen schulischer Bildungsprozesse zu einigen, sollte man doch alle Kräfte dafür mobilisieren, einen christlichen Religionsunterricht als bundesweit gemeinsam vertretenen Rahmen zu konzipieren, dessen religionenökumenische Weite dann durch eine regionale Vielfalt und sensible Regionalität ganz verschiedene Formen annehmen mag.

Dabei die Perspektive der Kinder nicht aus den Augen zu verlieren, fordert Friedrich Schweitzer in einer knappen Bilanz zu Modellversuchen zum konfessionell-kooperativen Religionsunterricht (107-119). Norbert Mette stellt dialogorientierte katholische Konzeptionen für den Religionsunterricht vor (153- 166), die zwischen den Polen "Identität vor Verständigung" und "Identität durch Verständigung" hin und her schwanken. Und wie man weltweit, aber natürlich auch im eigenen Lande einen "dialogischen Kurs" halten kann, ohne "missionarische Eisberge" zu rammen, wird negativ bilanziert und positiv perspektiviert vom Missionswissenschaftler Werner Ustorf (69-83).

In seiner fruchtbaren theologisch-interdisziplinären Ausrichtung ist dieser Sammelband ein gutes Zeichen dafür, dass sich in der Religionspädagogik die Auseinandersetzung mit Religion auch substantiell vollziehen kann und sich nicht nur in einer funktionalen Perspektive erschöpft.