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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1217 f

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Nipkow, Karl Ernst, u. Friedrich Schweitzer [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Zukunftsfähige Schule - in kirchlicher Trägerschaft? Die Tübinger Barbara-Schadeberg-Vorlesungen.

Verlag:

Münster-New York-München-Berlin: Waxmann 2002. 149 S. 8. m. 2 Abb. = Schule in evangelischer Trägerschaft, 1. Kart. Euro 14,30. ISBN 3-8309-1101-7.

Rezensent:

Günter Böhm

"Kirchliche Schulen erfahren zur Zeit eine deutlich gesteigerte Beachtung besonders bei Eltern, die sich von solchen Schulen Unterstützung bei der Erziehung erwarten": Dass diese Feststellung der Herausgeber zutrifft, belegen die wachsenden Zahlen von Neugründungen - besonders im Grundschulbereich - in den neuen Bundesländern, aber auch die oft die Kapazitäten der Schulen übersteigenden Anmeldezahlen in den schon länger bestehenden evangelischen Schulen im gesamten Bundesgebiet. Damit ist die Frage der Berechtigung evangelischer Schulen in Öffentlichkeit und Kirche aber keineswegs abschließend positiv beantwortet. Im Gegenteil: Sie gewinnt angesichts der allgemeinen Erwartung an Schule, in einer multikulturellen Gesellschaft vor allem zur Integration beizutragen, besondere Dringlichkeit. Das Anliegen der in diesem Band veröffentlichten Vorträge, die im Januar und Februar 2001 in Tübingen gehalten wurden, ist nun genau dies: reflektierte Begleitung der Schulentwicklung im evangelischen Raum als Teil des gesamten Schulwesens, verstärkte Bewusstmachung der unverzichtbaren Rolle eines privaten Schulwesens für eine demokratische Gesellschaft, schließlich der Nachweis der Zukunftsfähigkeit evangelischer Schulen vor dem Hintergrund einer sich rasant verändernden Gesellschaft.

Der dazu gewählte Weg spiegelt sich im Aufbau des Buches. Es umfasst in vier Abschnitten jeweils einen grundlegenden Artikel zusammen mit drei bis vier knappen Diskussionsbeiträgen von Experten zu der jeweiligen Thematik: I "Schule im Spannungsfeld von Pluralität und Verständigung" - II "Schule in der Bürgergesellschaft" - III "Schulentwicklung zwischen staatlichen und freien Schulen" - IV "Unterrichtserneuerung und Schulkultur". Mit einem zusammenfassenden Rückblick und einem Ausblick auf bestehende Desiderate - besonders hinsichtlich einer dem evangelischen Schulwesen gewidmeten empirischen Schulforschung - schließt der Band, dem im Fortgang der Vorlesungen weitere folgen werden.

Karl Ernst Nipkow äußert sich einleitend überzeugend zur prinzipiellen Aufgabe von Schule, bei aller Ermöglichung von Verständigung zugleich dem Individuellen Raum zu geben: "Die Menschlichkeit der Kultur bemisst sich bis heute nicht zuletzt nach dem im Zeitalter Schleiermachers und Goethes entwickelten Sinn für das Individuelle, d. h. daran, ob und wie das Allgemeinmenschliche in der Individualität geachtet und gepflegt wird" (17 f.). Er nimmt das "evangelische Schulerbe" vor allem dafür in Anspruch, die Wirklichkeit kritisch zu den herrschenden Anschauungsgewohnheiten wahrnehmen zu lernen (23). Er fordert eine Selbstaufklärung der evangelischen Schule in der "Falle zwischen religiösem Isolationismus und religiöser Profilverwässerung" (27), sieht aber im Anschluss an die pädagogischen Vordenker des Protestantismus die Chance, diese Spannung fruchtbar zu machen - nicht nur zum Wohle der unmittelbar in diesen Schulen Lebenden, sondern auch einer Gesellschaft, die zwischen Wertebeliebigkeit und verstärkter Gruppen-Tendenz zu weltanschaulicher Selbstabschließung hin und her schwankt.

Friedrich Schweitzer plädiert in seinem Beitrag für ein neues Verständnis des Öffentlichen. Er bezeichnet die übliche Unterscheidung von öffentlicher und privater Schule als überholt und in hohem Grade missverständlich, da eine Zivilgesellschaft die freie Mitarbeit aller gesellschaftlich relevanten Gruppen im Bildungswesen fordere. Erst in der Anerkennung des öffentlichen Ranges der Schulen freier Träger käme die begonnene Demokratisierung des Schulwesens zu ihrem Abschluss - als "Ausdruck eines freien Pluralismus" (58). Schweitzers These bleibt nicht ohne Widerspruch: Der Tübinger Jurist Karl-Hermann Kästner hält das Bedürfnis nach einer Pluralität von Schulträgern "bereits auf der Basis der bestehenden Rechtslage hinreichend gewährt" (67) und sieht in einer Ausweitung des Begriffs der öffentlichen Schule eher eine Gefahr. Er fordert an Stelle einer eher verwirrenden Begrifflichkeit eine entschiedenere Nutzung der bestehenden Freiräume zu Gunsten von Schulen mit einem "dezidiert christlichen Profil" (72). In welcher Weise evangelische und katholische Schulen an einer solchen Profilbildung arbeiten, illustrieren die Beiträge von Eberhard Knoll, Berthold Saup und vor allem Karl Heinz Potthast, der das Besondere evangelischer Schulen im Zusammenhang von Schulentwicklung und einer spezifischen Schulkultur überzeugend anschaulich zu machen versteht. Jürgen Oelkers widmet sich allgemeiner der "Schulentwicklung zwischen staatlichen und freien Schulen" unter der seiner Auffassung nach sich rapide verstärkenden Relation von Schule und Markt.

Spätestens hier wird erkennbar, was vorurteilsresistente Beobachter des Schulwesens in öffentlicher und in privater Trägerschaft schon seit Längerem wissen: dass von Schulen in freier Trägerschaft ungeachtet ihrer begrenzten Zahl maßgebliche Impulse auf das staatliche Schulsystem ausgehen, dass aber auch umgekehrt Schulerneuerung über verantwortlich betriebene Schulprogrammarbeit an öffentlichen Schulen positive Einflüsse auf das private Schulwesen haben kann. Es ist zu wünschen, dass künftige Schadeberg-Vorlesungen diese für beide Seiten relevante Wechselwirkung ausdrücklich in den Blick nehmen.