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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1209–1212

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kühl-Freudenstein, Olaf

Titel/Untertitel:

Evangelische Religionspädagogik und völkische Ideologie. Studien zum Bund für deutsche Kirche und der Glaubensbewegung Deutsche Christen.

Verlag:

Würzburg: Königshausen & Neumann 2003. 223 S. gr.8 = Forum zur Pädagogik und Didaktik der Religion. Neue Folge, 1. Kart. Euro 33,00. ISBN 3-8260-2521-0.

Rezensent:

Folkert Rickers

Während die Erforschung der religiösen Erziehung (bes. bezüglich des RU) bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts in den letzten zehn Jahren einen bemerkenswerten Aufschwung genommen hat, vornehmlich durch Dissertationen und Habilitationen im evangelischen Bereich, sind Arbeiten, die sich mit der ideologischen Belastung von Religionspädagogen im Dritten Reich befassen, nach wie vor rar. Zu fremd scheint immer noch der Gedanke zu sein, dass sich Religionspädagogen in erheblicher Zahl zustimmend auf den Nationalsozialismus eingelassen und Kinder und Jugendliche jener Zeit in diesem Sinne beeinflusst haben, in direkter oder indirekter Weise. Insofern verdient die Arbeit von Kühl-Freudenstein besondere Aufmerksamkeit. Sie zeigt, wie evangelische Religionspädagogen sich als Mitglieder der Glaubensbewegung Deutsche Christen in den Dienst des Nationalsozialismus haben stellen lassen, nicht gezwungenermaßen, sondern aus innerster Überzeugung. Sie vermittelt aber darüber hinaus auch einen Eindruck davon, dass solches zustimmende Denken nicht erst 1933 einsetzte, kein Betriebsunfall der Geschichte war, sondern in der Zeit der Weimarer Republik durch die Aktivitäten des 1920/21 gegründeten Bundes für deutsche Kirche, namentlich durch Kurd Niedlich, vorbereitet worden ist und allmählich im Verlauf der zwanziger Jahre Eingang in die Religionspädagogik der Zeit gefunden hat.

Hermann Tögel widmet in der siebenten Auflage des liberalen Hauptwerks von Kabisch Wie lehren wir Religion von 1931 unter den "Fragen der Gegenwart" dem "Deutschen Religionsunterricht" Niedlichs bereits ein eigenes Kapitel (284- 302).

Den religionspädagogischen Bemühungen des Studienrats Niedlich im Rahmen seiner Bemühungen um den Bund für deutsche Kirche ist der erste Teil der Arbeit gewidmet. Niedlich hatte ihn selbst gegründet und maßgeblich seine Intention bestimmt. Sein Zweck sei "die Erneuerung des religiösen Lebens und der Kirche durch den deutsch-heimatlichen Gedanken als wichtigste innerliche Angelegenheit der deutschen Volksgemeinschaft" (27). Diesem sei - so erklärt der Vf. weiter - der Gedanke des Antisemitismus inhärent gewesen. Denn Grundaxiom jeder völkischen Weltanschauung sei die Annahme gewesen, dass das deutsche Volk in seiner rassischen Substanz durch jüdische Einflüsse überfremdet worden sei; diese Quelle müsse versiegelt werden. Um das zu erreichen, konzipierte Niedlich noch vor der Gründung des Bundes das Projekt "Heimatschutz als Erziehung zur deutschen Kultur" (so der Titel einer Schrift von 1920), zu dessen Realisierung er dem RU die zentrale Rolle zuwies. Durch die "Erziehung zum Heimatgedanken, zum deutschen Volksbewusstsein" (39) könne der Überfremdung gesteuert werden. Folgerichtig habe das - so legt der Vf. dar - zur Forderung der Eliminierung jüdischen Geistes in folgenden Punkten geführt:

1. Ausgrenzung des Alten Testaments aus dem RU (bis auf wenige Stücke, in denen sich nordischer Geist zeige); 2. Konzipierung eines "heldischen" Jesusbildes, eines Jesus, der das Judentum grundsätzlich überwinden wollte und dafür den "Heldentod" erlitt; 3. Erstellung eines ambivalenten Paulusbildes, in dem zwar anerkannt worden sei, dass Paulus das Christentum äußerlich vom Judentum gelöst, andererseits aber die reine Jesuslehre durch Einbeziehung alttestamentlicher Elemente verdorben habe. Korrespondierend dazu sollte Deutschbewusstsein erzeugt werden durch die didaktische Orientierung an Luther "dem Erwecker deutschen Geistes" (59), durch andere "dem deutschen Volk gegebene Gottesmänner" (61), durch Aufnahme der germanischen Mythenwelt und deutsche Märchen, durch Orientierung des Unterrichts an der Natur als Ort der Gotteserkenntnis sowie am "Naturjahr" (statt bzw. neben dem Kirchenjahr), schließlich durch breite Aufnahme des Heimatgedankens (72-80).

Der Vf. plädiert nun zu Recht dafür, dass diese Konzeption für den RU, die seinerzeit nicht unerhebliches Aufsehen erregt habe, neben der Liberalen und der Dialektischen Religionspädagogik in der Historiographie des Faches berücksichtigt, ja zunächst überhaupt einmal wahrgenommen werden müsse. Er verstärkt damit das allgemeine Anliegen Rainer Lachmanns (RU in der Weimarer Republik, 1996, 135-142). Er hätte sich auch auf Tögel berufen können, dessen Bericht er aber weder erwähnt noch ins Literaturverzeichnis aufgenommen hat.

Darüber hinaus aber kann der Vf. zeigen, dass dieser Entwurf, nachdem die religionspädagogische Arbeit des Bundes mit dem Tode Niedlichs 1928 zunächst einmal zum Erliegen gekommen war, einen direkten Einfluss auf die 1933 in Angriff genommene religionspädagogische Arbeit der Glaubensbewegung Deutsche Christen (GDC) gehabt hat, und zwar vor allem (nicht allein) durch die Person des Leiters des DC-Reichsreferats für RU und Schule, des Schulrats Kurt Freitag, selbst ehemals Mitglied im Bund. Religionspädagogisch wenig fachkundig habe er auf die von Niedlich erarbeitete Konzeption zurückgegriffen und sie aktualisiert, "zeittypische Radikalisierungen" (154) vornehmend, um zunächst in einer ersten Phase in unmittelbarem Kontakt mit dem NS-Lehrerbund Religionslehrpläne zu erstellen und durchzusetzen. Als allerdings nach der berüchtigten Sportpalastkundgebung der GDC solche Ziele nicht mehr erreichbar waren, habe Freitag sich darauf beschränkt, in der 1934 erschienenen Schrift "Kirche, Schule und RU im völkischen Staat" sich gewissermaßen privat zu äußern; er habe nunmehr nur die "Richtung unserer Arbeit" (162) aufzeigen wollen. Auch bei den drei der Schrift beigegebenen Lehrplanentwürfen, von denen mindestens zwei von ehemaligen Mitgliedern des Bundes sind (so z. B. Reinhold Krause!), habe es sich lediglich um "Entwürfe" gehandelt. Freitag sprach aber zum Zeitpunkt der Herausgabe des Buches bereits nicht mehr für die GDC; er hatte mit ihr gebrochen.

So plausibel die inhaltliche Kontinuität (und untermauert durch die personelle Komponente) zwischen Niedlich und dem Reichsreferat der GDC ist, so wenig befriedigt die Einordnung dieser religionspädagogischen Gesamtrichtung unter den Terminus "Deutsch-christliche Religionspädagogik" (12). Der Vf. registriert selbst, dass weder Niedlich noch Freitag ihn benutzt haben. Aber er habe einen Terminus gesucht, mit dem er sich von Bestrebungen ähnlicher Art, in der der christliche Bereich nicht mehr angesprochen werde, nämlich der deutschgläubigen Religionspädagogik, habe abgrenzen können. Das überzeugt nicht. Niedlich hatte von "deutschem RU" (gelegentlich auch "deutschkirchlichem") gesprochen. Und der entsprach exakt seinem Versuch, das Deutschbewusstsein als hermeneutisches Prinzip zur Anwendung zu bringen. Mit Jesus verband er keine eigenen (christlichen) Intentionen, sondern konstatierte lediglich dessen deutsche Wesenhaftigkeit und dessen Antijudaismus.

Es ist auch kein Zufall, dass eine in Schleswig-Holstein ansässige Gruppe von deutschkirchlichen Religionslehrern, auf die der Vf. erstaunlicherweise nur kurz eingeht, in den Jahren 1934-1937 weiterhin - und zwar in pointierter Weise - ebenfalls von deutschem RU sprach, obwohl sie leicht den zeitgenössischen deutschchristlichen Zusammenhang auch in begrifflicher Hinsicht hätten herstellen können (vgl. dazu Rickers, Zwischen Kreuz und Hakenkreuz, 1995, 167-172). Die christlichen Stoffe sind bei Niedlich lediglich Material, das gemäß dem hermeneutischen Prinzip umgebogen und selektiert wird. Das gilt auch für Freitag und für den ihn noch an Radikalität übertreffenden Reinhold Krause, obschon sie organisatorisch immerhin in einen deutschchristlichen Zusammenhang eingebunden sind. Aber es ist kein Zufall, dass sie beide diesen Rahmen verlassen haben; denn sie stehen in ideologischer Sicht dem Deutschen Glauben näher als einer deutschchristlichen Synthese. Von hier aus gesehen erscheint weder die These überzeugend, "Reinhold Krause gewissermaßen als Prototypen deutschchristlicher Religionspädagogik" (188) zu begreifen, noch, dass das Konzept von Freitag ein "bedeutsames Zeugnis des Synthetisierungsversuchs von Christentum und Nationalsozialismus auf religionspädagogischer Ebene" (165) sei.

Die mangelhafte Abgrenzung bzw. Schärfe in der Verwendung des Begriffs "deutschchristlich" ist zugleich von erheblicher inhaltlicher Relevanz. Denn die vom Vf. so konzipierte Definition dessen, was durch die Position Niedlichs in der Rezeption von Freitag-Krause "deutschchristlich" bestimmt wird, wird nun zum Maßstab genommen, um die "Marginalisierung (deutsch-)christlicher Religionspädagogik ab 1934" zu behaupten. Belegt wird diese dadurch, dass (1) die Schrift von Freitag keine nennenswerte Wirkung erzeugt habe, (2) alle Bemühungen um die offizielle Einführung von Lehrplänen an den nationalsozialistischen Behörden gescheitert seien, mithin auch der deutsch-christliche RU keine Chance in der öffentlichen Schule gehabt habe.

Nun trifft das erste zwar zu; und richtig ist auch, dass der RU von staatlicher Seite nicht nur keine Förderung erfahren hatte, sondern vielmehr in seinem Status schwer beeinträchtigt wurde. Aber das hat nicht zur Konsequenz gehabt, dass die "(deutsch-) christliche Religionspädagogik" marginalisiert worden ist. Versteht man unter Religionspädagogik die Theorie religiöser Erziehung und die Konzipierung von Didaktik des RUs bzw. anderer pädagogischer Felder, dann ist genau das Gegenteil der Fall. Denn die Veröffentlichungen zum RU im Sinne der verschiedensten Spielarten deutschen Christentums (sie kommen beim Vf. nicht in den Blick!) waren erheblich, wie man leicht der "Religionspädagogischen Bibliographie 1933-1945" (Münster 2000) entnehmen kann, die der Vf. leider nicht herangezogen hat. Und ohne dass eine Möglichkeit besteht, das zu quantifizieren, muss hinzugefügt werden: Es wurde nach diesen Konzepten und Unterrichtsvorschlägen in der öffentlichen Schule auch tatsächlich unterrichtet! Es gibt dazu jedenfalls eine Reihe von Hinweisen, die das belegen, z. B. in Klagen über deutschchristlichen Unterricht.

Die mangelnde begriffliche Schärfe ist ein generelles Manko der Arbeit. Das zeigt sich auch in der Terminologie "Deutschkirchliche Ideologie" (24), die zwar in einer kurzen Bemerkung vom Begriff "Theologie" abgesetzt wird, gleichwohl in einen "theologiegeschichtlichen Kontext" gestellt wird, wobei auch noch "ideologische und dogmatische Positionen des Bundes" in etwa gleichgeordnet werden (27). An anderer Stelle wird die "Ideologie des Bundes" ausdrücklich theologischen Kriterien unterworfen (69-70; vgl. auch 29). Die begriffliche Konfusion ist auf S. 29 perfekt. Hier ist - den Bund kennzeichnend - in engem Zusammenhang miteinander und ohne irgendeinen Definitionsversuch die Rede von: "völkische Ideologie", "deutschkirchliche Ideologie", "dogmatische Liberalität", "völkische Weltanschauung", "deutschkirchlicher Offenbarungsbegriff", "wesentliche theologische Topoi des Bundes" und "natürliche Theologie". In der Zuschreibung von "deutschkirchlicher Ideologie" beruft der Vf. sich auf Werner Sonne (26 Anm. 75). Der hatte diesen Begriff aber gar nicht benutzt, sondern von "politischer Theologie" (Buchtitel!) bzw. von "deutschvölkischer Religionstheorie" (30) gesprochen. Das ist etwas ganz anderes.