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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1206–1209

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Huxel, Kirsten

Titel/Untertitel:

Die empirische Psychologie des Glaubens. Historische und systematische Studien zu den Pionieren der Religionspsychologie.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2000. 448 S. gr.8. Kart. Euro 40,80. ISBN 3-17-016301-9.

Rezensent:

Helmut Hanisch

Wenn eine Theologin die Ursprünge der amerikanischen empirischen Religionspsychologie zu ihrem Forschungsgegenstand erklärt, dann drängt sich die Frage auf, welches erkenntnisleitende Interesse sie damit verbindet. Warum erscheint es sinnvoll und lohnend, sich mit wissenschaftlichen Ansätzen zu befassen, die schon längst überholt zu sein scheinen? Die Vfn. der vorliegenden Studie sieht den Sinn ihrer Arbeit in der Problematisierung des Verhältnisses von Theologie und Psychologie. Dabei geht sie jedoch im Hinblick auf die Verhältnisbestimmung nicht von zwei institutionell getrennten Wissenschaftsbereichen aus. Ihr geht es vielmehr darum, am Beispiel der empirischen Religionspsychologie grundsätzlich nach den Bedingungen zu fragen, unter denen es sinnvoll erscheint, spezifisch religionspsychologische Methoden, Erkenntnisse und Theorieansätze in- nerhalb der Theologie aufzunehmen und anzuwenden (26). Damit will sie einen Beitrag zur "kritischen Aufarbeitung der vergangenen und gegenwärtigen Rezeption der empirischen Psychologietradition durch die Theologie" (ebd.) leisten.

Mit dieser programmatischen Bestimmung sind die Intentionen und der Rahmen der weiteren Untersuchung umrissen, bei der sich die Vfn. nun exemplarisch auf die Pioniere der empirischen Religionspsychologie Granville Stanley Hall, James Henry Leuba und Edwin Diller Starbuck konzentriert. Ihr Anliegen ist es, deren Systeme zu entfalten und sie auf ihre philosophischen sowie religiös-weltanschaulichen Voraussetzungen hin zu untersuchen. Vor diesem Hintergrund soll dann beurteilt werden, "wie sich die Leitüberzeugungen des christlichen Glaubens zu ihnen verhalten und ob eine positive Rezeption der auf ihnen aufruhenden empirischen Theorien durch die Theologie geboten erscheint" (27).

Methodisch orientiert sie sich bei den Einzeldarstellungen in Anlehnung an Dilthey und Husserl an dem lebensphilosophischen hermeneutischen Grundsatz, die jeweils spezifischen Weltanschauungen wissenschaftlicher Arbeit auf dem Boden biographischer und lebensweltlicher Erfahrungen zu erheben. Durch dieses Vorgehen soll "das kategoriale Ursprungs- und Sinnfundament" (28) der drei Forscher freigelegt werden, das ihre Forschungen sowohl inhaltlich wie formal bestimmt. Die Freilegung der jeweiligen weltanschaulichen bzw. religiösen Prämissen erlaubt es, zu einer grundsätzlichen Bedingungsprüfung der empirischen Religionspsychologie innerhalb der Theologie zu gelangen. Erleichternd kommt der Vfn. in diesem Zusammenhang entgegen, dass von jedem der drei zur Diskussion stehenden religionspsychologischen Forscher autobiographische Selbstzeugnisse überliefert sind, auf die sie zurückgreifen kann.

Detailliert geht die Vfn. auf die relevanten hermeneutischen Aspekte der jeweiligen Selbstzeugnisse von Hall, der sowohl als Begründer der modernen Entwicklungspsychologie als auch der Religionspsychologie zu sehen ist, Leuba und Starbuck ein und beschreibt deren Lebenswerk nicht zuletzt auch im Rückgriff auf Autoren und geistige Strömungen, die einen maßgeblichen Einfluss auf die einzelnen Forschungsansätze hatten. Dabei verfolgt sie gelegentlich auch scheinbare Nebenwege, die jedoch für das Gesamtverständnis der religionspsychologischen Forschungen und Theorieansätze von Bedeutung sind.

Welches sind nun die Ergebnisse? Überzeugend arbeitet die Vfn. heraus, dass das Hauptanliegen Halls darin besteht, angesichts eines zunehmenden gesellschaftlich beobachtbaren religiösen Identitätsverlustes des Menschen, die moderne Kultur mit der christlichen Tradition im Rückgriff auf eine von der Evolutionstheorie geprägten "science of man" zu versöhnen (172). Darin offenbart sich jedoch ein grundlegender Konflikt. Er besteht darin, dass Hall zwar formal auf christliche Einsichten wie die Bekehrung als "Abkehr des menschlichen Herzens von der Sünde und seiner Hinkehr zum Höchsten Gut" (173) zurückgreift, sie aber im Sinne einer "materialistischen Immanenztheologie" umformt und gleichsam ihres christlichen Profils beraubt. Dadurch gelangt er zu einem monistischen Pantheismus, der aus theologischer Sicht unhaltbar erscheint. Das ursprüngliche Anliegen einer Versöhnung von Kultur und Religion löst sich bei Hall in einer empiristischen Wissenschaft auf, die sich unter der Hand als eine Art Ersatzreligion offenbart (vgl. 174), in der "die Geschichte der Menschheit als Heilsgeschichte der Bekehrung bzw. Wiedergeburt zum onto- wie phylogenetisch verwirklichten Menschentum eines superman" gedeutet wird (415).

Im Unterschied zu Hall geht es Leuba nicht darum, Wissenschaft und Theologie zu versöhnen, sondern unter dem Einfluss von Comte und Spencer kämpferisch die Theologie durch Wissenschaft zu ersetzen, um so die Religion vor weiterer Zersetzung innerhalb der Gesellschaft zu bewahren. Die Wissenschaft, die dies leisten kann und soll, ist die empirische Religionspsychologie. Ihre Aufgabe besteht darin, durch das Abstreifen metaphysischer Bindungen die Rückkehr zur Wesensnatur der Religion zu ermöglichen, die es erlaubt - auf die Menschheit bezogen - das soziale Dasein zu organisieren. Entsprechend steht bei Leuba nicht die Frage nach Ursprung und Entstehung von Religion im Vordergrund, sondern nach ihrer Funktion im Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens (vgl. 231). Die ideale Gestalt der Religion sieht er zum einen darin, dass sie mit den neuesten Erkenntnissen der "sciences" kompatibel sein muss (vgl. 251). Zum anderen muss sie in der Lage sein, die emotionalen und moralischen Bedürfnisse zu befriedigen, "für deren Erfüllung das Christentum traditionellerweise, wenn auch noch ungenügend und methodisch uneffektiv, zuständig war" (251). Wieso Leuba von einer idealen bzw. zukünftigen Gestalt von Religion sprechen kann, hängt damit zusammen, dass er empirisch nachzuweisen versucht, dass alle religiösen Phänomene letztlich als psychische Prozesse zu verstehen sind, die beliebig hervorgerufen werden können. Dies hat für den praktischen Umgang mit Religion die weitreichende Konsequenz, dass sich religiöse Einstellungen und Verhaltensweisen auf der Basis religionspsychologischer Forschungsergebnisse wissenschaftlich manipulieren lassen. Kirchliches Handeln selbst erscheint vor diesem Hintergrund überflüssig und durch wissenschaftliche Praxis ersetzbar. Damit gelangt Leuba zu einer völligen Demontage der traditionellen Kirchen und des christlichen Glaubens, die er durch eine neue, an der Wissenschaft orientierte kirchliche Lehre und entsprechende Institutionen ersetzt wissen will. Auf Grund dieser Einsichten wird Leubas Religionspsychologie letztlich zu einem Instrument religiöser und weltanschaulicher Manipulation.

Angesichts religiöser Zerfallserscheinungen will Starbuck Religion auf doppelte Weise retten und ins rechte Licht rücken. Zum einen möchte er die Religion dem Agnostiker zugänglich machen. Zum anderen will er dem religiösen Apologeten den Weg zur wissenschaftlichen Erforschung seines Gegenstandsbereiches eröffnen (410). Getragen ist dieser Forschungsansatz von der Überzeugung, dass für den Menschen Wissenschaft und Religion von gleichrangiger Bedeutung sind und die Ausklammerung der Religion aus der Wissenschaft wie der Wissenschaft aus der Religion einen großen Verlust darstellt. Auf dem Weg der Vermittlung zwischen Religion und Wissenschaft gelangt Starbuck zu einer wissenschaftlichen Neuinterpretation des Christentums, bei der er "seine quäkerische Immanenzspiritualität mit einem pantheistisch interpretierten Evolutionismus" verbindet (417). Der Vfn. erscheint dieser Ansatz "auf den ersten Blick als überaus sympathisch" (417). Bei näherer Betrachtung erweist es sich jedoch als problematisch, dass der Wert der religiösen Erfahrung, von der sich Starbuck leiten lässt, nicht als offene Variable gesehen, sondern durch Starbucks persönliche Lebenseinsichten inhaltlich definiert wird. Auf welche Engführungen seine empirische Religionspsychologie, die mit Entwicklungspsychologie identisch ist, letztlich hinausläuft, wird an seiner aus ihr abgeleiteten Pädagogik deutlich. Sie führt dazu, dass an die Stelle kirchlich bestimmter Bildungsinstitutionen säkularisierte Ersatzformen treten (417).

Auf Grund der ausführlichen Beschreibung und Diskussion der religionspsychologischen Ansätze von Hall, Leuba und Starbuck kann die Vfn. den Nachweis erbringen, dass sich die genannten Autoren von dem biographisch verankerten Interesse leiten lassen, der durch die neuen Wissenschaften verursachten Marginalisierung des Christentums entgegenzutreten. Dabei bedienen sie sich der wissenschaftlichen Rationalität und versuchen mit ihrer Hilfe, die fundamentale Bedeutung der Religion für das menschliche Leben zu rehabilitieren (414). Aber gerade hierin liegt die theologische Schwäche der religionspsychologischen Systeme.

Indem sie auf wissenschaftliche Rationalität und die in ihr impliziten weltanschaulichen Prämissen zurückgreifen, sind sie genötigt, theologische Inhalte der christlichen Tradition umzudeuten und neu zu interpretieren. Daraus ergibt sich für die Vfn. die Schlussfolgerung, dass die Theologie von den klassischen Systemen der drei Pioniere "wohl kaum konstruktive Beiträge für die eigene Theoriearbeit" entnehmen kann. Damit will sie jedoch nicht einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber der Psychologie das Wort reden, sondern sie hält "eine entschlossene Entfaltung von psychologischer Selbsterkenntnis unter dezidiert theologischen Bedingungen" für geboten (423). Für das Selbstverständnis der Religionspsychologie bedeutet dies zugleich, dass es sie nicht als eigenständige Disziplin geben kann, weil ihr ein genuines Praxisinteresse fehlt, das immer nur auf dem Boden einer bestimmten Religion oder Weltanschauung erwachsen kann (423).

Die Arbeit zeichnet sich dadurch aus, dass sie konsequent ihrer Fragestellung treu bleibt und zu klaren nachvollziehbaren Thesen gelangt. Zugleich enthalten ihre Ausführungen eine Fülle an Anregungen für die wissenschaftliche Weiterarbeit. Selbst weist sie auf die Notwendigkeit hin, die Wirkungsgeschichte der drei religionspsychologischen Ansätze näher zu verfolgen. Dabei erscheint es nötig, neben ihren Auswirkungen auf die Theologie die pädagogischen und religionspädagogischen Impulse näher ins Auge zu fassen, die von ihnen ausgegangen sind. Resümierend ergibt sich am Ende der Untersuchung die Mahnung an die Theologie, Ergebnisse der empirischen Forschung aus dem Bereich der Religionspsychologie nicht pauschal und unbefragt zu übernehmen, sondern sie vor der Rezeption sorgsam auf ihre hermeneutischen Voraussetzungen und wissenschaftstheoretischen Implikationen zu überprüfen.