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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1204–1206

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Hanisch, Helmut u. Siegfried Hoppe-Graff

Titel/Untertitel:

"Ganz normal und trotzdem König" - Jesus Christus im Religions- und Ethikunterricht.

Verlag:

Stuttgart: Calwer Verlag 2002. 219 S. Kart. Euro 17,90. ISBN 3-7668-3764-8.

Rezensent:

Wilhelm Schwendemann

Nach der letzten empirischen Forschungsarbeit zur Bibelrezeption legen jetzt Helmut Hanisch und Siegfried Hoppe-Graff eine religionspädagogisch-psychologische Arbeit zur Rezeption und Vermittlung von Jesusbildern und Christusvorstellungen bei Jugendlichen des 6. Schuljahres vor. Die Ethikschülerinnen und -schüler hatten ab dem 5. Schuljahr Ethikunterricht. Die Religionsschülerinnen und -schüler nahmen ab dem ersten Schuljahr am Religionsunterricht teil. Die Forschungsfrage geht dem für Jugendliche bestimmenden relevanten Jesus- bzw. Christusbild nach.

Die Autoren orientieren sich am kognitionspsychologisch basierten Begriff von Jesus Christus und an der Beziehung dieses Begriffs zu Glaubensäußerungen und Glaubenspraxis der Jugendlichen. Im Begriff, so die Annahme, repräsentiere sich auf kognitive Weise Realität (9); zu ihr gehören psychische, physische aber auch geistige oder andere Erscheinungen oder Wirklichkeiten, die durch Begriffe sprachlich repräsentiert und resymbolisiert werden und sich zu Begriffsnetzen oder -strukturen verdichten. Gleichzeitig dienen Begriffe dem Denken als Handwerkszeug und strukturieren dieses. Begriffe, so die zweite Annahme, seien aber auch individuelle Konstruktionsleistungen der jeweiligen Person und ihrer Kompetenz, Umwelt und Wirklichkeit zu verarbeiten. Die Konstruktionsprozesse der Begriffsbildung seien den Verarbeitungsprozessen Assimilation und Akkommodation zugeordnet und somit individuell bestimmt bei gleichzeitiger Kulturabhängigkeit. Deshalb seien Begriffe in der Regel idiosynkratisch. Eine Aufgabe schulischen Unterrichts, speziell des Religionsunterrichtes, sehen die beiden Autoren in der Angleichung der transindividuellen und idiosynkratischen Bedeutung von Begriffen. Begriffe, vor allem Begriffsnetze, seien demnach gegenüber Informationswissen die umfangreicheren kognitiven Einheiten. Im Fall der Frage nach der Bedeutung Jesu Christi im Leben der Schüler und Schülerinnen ist zu unterscheiden, dass der Begriff von Jesus Christus umfangreicher als das Wissen über Jesus Christus ist und dass das Wort Jesus Christus gegenüber dem Begriff von Jesus Christus defizitär bleiben muss.

Nur über Begriffe aber, nicht durch Anhäufung von Informationswissen, so die Autoren, könne es gelingen, der Welt einen Sinn zu verleihen. Ausgangspunkt der Untersuchung ist ein adulter Zielbegriff, der aber im Beispiel von Jesus Christus multivalent besetzt ist; es gibt also keinen eindeutigen theologisch präzisen Ziel- und Referenzbegriff! Möglich ist aber, gewisse allgemeine Merkmale des Begriffs von Jesus Christus zu erfassen, die in der Stichprobe der Jugendlichen auftauchen können. Das bedeutet für die Untersuchung, dass der Zielbegriff so etwas wie eine erschließende, heuristische Funktion hat, der zur Messlatte dessen wird, was bei den Jugendlichen gefunden wird. Der wissenschaftstheoretische Hintergrund der Studie ergibt sich aus den Konstruktionen, d. h. bei den befragten Jugendlichen geht es darum zu beschreiben, welche Konstruktionen von welchen Teilbegriffen bedient werden.

Das Ergebnis: Fünf Jugendliche am Evangelischen Gymnasium (Religionsunterricht) wissen nicht, wann Jesus geboren ist, zudem wurden chronologische Daten aus dem Leben Jesu mit Daten aus der Kirchen- und Profangeschichte bzw. dem Kirchenjahr vermischt. Deutlich ist, dass manchen Jugendlichen noch das Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge in dieser Altersstufe fehlt; die Vorstellungen über Land, Kultur usw. in Bezug auf den historischen Jesus sind entweder zu diffus oder fehlen. Das bedeutet, dass ihnen wichtige Teilbegriffe für die Eigenkonstruktion dessen, was mit Jesus Christus gemeint ist, fehlen. Theologische Vorstellungen auf Grund dieser Voreinstellungen sind deshalb wenig ausdifferenziert. Auch der Religionsunterricht selbst scheint nicht viel dazu beizutragen. Gleichzeitig lässt sich aber in manchen Teilbereichen beobachten, dass das biblische Wissen umfangreicher als in den gegebenen Antworten zu Beginn der Interviewphase ist. Auch wird die Gottessohnschaft Jesu idiosynkratisch interpretiert, was auf die meisten Aussagen dogmatischer Natur zutrifft. Jesus ist als Mensch wichtig, der fest an Gott geglaubt hat (118), was in den Rekonstruktionen der Schüler und Schülerinnen eine Schlüsselrolle einnimmt. Jesus wird zwar als Gottes Sohn gesehen, was aber damit inhaltlich gemeint ist, bleibt persönlicher Konnotation überlassen. Diese Deutungen können aber im Zweifelsfall ein vertieftes christologisches Verständnis geradezu behindern. Was der Tod Jesu bedeutet, kann von den Jugendlichen (noch) nicht ausgesagt werden.

Die Autoren fanden heraus, dass zum Aufbau differenzierter Begriffe von Jesus Christus ein kommunikationsorientiertes, aufgeschlossenes Umfeld in Familie und Religionsunterricht notwendig ist, in dem die Jugendlichen in die Lage gebracht werden, ein eigenes religiöses Begriffsrepertoire zu entwickeln und zu differenzieren. Hierbei genügen weder der persönliche Glaube an Jesus Christus noch angehäuftes Informationswissen. In den Äußerungen der befragten Jugendlichen lässt sich durchaus auch ein Mangel an Abstraktheit und Kohärenz beobachten. Daraus lässt sich folgern, dass der Religionsunterricht oder sonstige religiöse Bildungseinrichtungen ihre Zielsetzungen noch nicht erreicht haben. Grundsätzlich sind die Ergebnisse der Jugendlichen, die am Ethikunterricht teilnehmen, mit denen aus dem Religionsunterricht vergleichbar.

Es fällt jedoch auf, dass die historische Zuordnung teilweise noch schwächer, aber teilweise sehr viel präziser ausfällt, d. h. es gibt nach oben und unten Spitzen, aber ein breites Mittelfeld fehlt. Die Weihnachtsgeschichten sind bei den evangelischen Schülern und Schülerinnen bekannter als im Ethikunterricht; die historisch-soziale Zuordnung der Verhältnisse Jesu fällt bei den Ethikschülern nahezu vollständig aus. Die Verkündigung Jesu wird von den Ethikschülern moralisch wahrgenommen, Wunder werden entweder abgelehnt oder überhaupt nicht thematisiert; auch glauben die meisten Ethikschüler nicht an die Auferstehung; die Beziehung Gott-Jesus wird idiosynkratisch interpretiert. Der Tod Jesu ist jedoch für die meisten Schüler und Schülerinnen belanglos; auch die Beziehung zu Jesus Christus wird kritisch bis aggressiv beurteilt. Bewunderung an Jesu Verhalten erregt allenfalls die moralische Konsequenz seiner Lebenshaltung und Lebensführung. Jesus bleibt aber in den Konstruktionen der Jugendlichen eine mehr oder weniger museale Gestalt. Fehlender Glaube und fehlende religiöse Sozialisation führen bei den Ethikschülern zu immanenten christologischen Konstrukten, d. h. Jesus wird als "normaler" oder "einfacher" Mensch eingestuft. Grundsätzlich sei, so die Autoren, zwischen dem Akt des Glaubens und dem Glauben als Gegenstand des Bewusstseins zu unterscheiden, wobei aus der Studie hervorzuheben ist, dass im statistischen Sinn der Glaube an Jesus Christus nichts mit dem Glauben als Gegenstand des Bewusstseins zu tun hat. Der Begriff Jesus Christus setzt als Konstruktion des Bewusstseins Glauben nicht voraus. Der Glaube ist aber auch nicht "eine Gewähr für komplexe Kognitionen zu Jesus Christus" (193). Kognitionen sind keine Bedingung des Glaubens und der Glaube ist keine Bedingung für komplexe Kognitionen. Hanisch/Hoppe-Graff machen den Vorschlag, im Begriff von Jesus Christus eine komplexe kognitive Struktur zu sehen, die sich unterscheidet von Glauben an Jesus Christus als affektiv-motivationaler Struktur, wobei beide Dimensionen der Entwicklung des Selbstwertkonzeptes und der jugendlichen Identität zugeordnet seien. Fokussiert werden beide Dimensionen in einer neuen positionierten Reflexion über das jugendliche Selbst. Zu betonen seien die Pluralität von Individualisierungen bei Jugendlichen.

Die religionspädagogischen Konsequenzen der Untersuchung liegen auf der Hand: Jugendliche müssen z. B. im Religionsunterricht reading literacy Kompetenzen erwerben, um überhaupt in religiösen Angelegenheiten sprachfähig zu werden. Diesbezüglich erscheint es unumgänglich, vor allem die theologische Begriffsbildung und gedankliche Klarheit zu fördern, um sich zum eigenen Glauben und eigenen religiösen Konstrukten verhalten zu können. Gängige Fachdidaktiken seien begriffstheoretisch kritisch zu hinterfragen. Auch die Ausbildung von Religionslehrern und -lehrerinnen sei kritisch unter die Lupe zu nehmen, inwieweit eine allgemeine Perspektivenplanung hinreichend ausgebildet ist. Notwendig dabei sei, darauf zu achten, wie Kinder und Jugendliche ihre religiösen Begriffe bilden und auf welche Kategorien sie zurückgreifen.