Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1196–1198

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Martikainen, Eeva

Titel/Untertitel:

Religion als Werterlebnis. Die praktische Begründung der Dogmatik bei Wilhelm Herrmann.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 215 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 99. Geb. Euro 39,00. ISBN 3-525-56218-7.

Rezensent:

Rainer Mogk

Wenn zur Befreiung der Theologie aus der Knechtschaft der Philosophie die Metaphysik wiederum mit philosophischen Argumenten ausgetrieben wird, kann die Dogmatik nicht wirklich frei werden. Ausgehend von dieser Hypothese (25 f.32) untersucht die finnische Neuzeittheologin Martikainen den auch für das 20. Jh. bedeutsamen Ansatz von Wilhelm Herrmann, den sie hauptsächlich - aber ihrer Meinung nach für das Gesamtwerk gültig - aus der Religionsschrift von 1879 erhebt. Um die Kantischen Wurzeln der gängigen Metaphysikkritik in der Dogmatik zu erhellen, zeichnet M. nach, wie Herrmann vom Selbstgefühl ausgehend eine auf Kant, Schleiermacher, Lotze und den Neukantianer Cohen gestützte und doch eigenständige Dogmatik grundlegt. Auch die Konsequenzen der Herrmannschen Metaphysikkritik für seine Dogmatik will M. aufzeigen.

Herrmanns Denkweise wird als "praktisch" charakterisiert - freilich nicht im Sinne der "praktischen Vernunft" - sondern insofern Herrmann Religion als spontanes Erlebnis des Selbstgefühls definiert (29). Weil erst das Selbstgefühl den Menschen zur Person macht (61), kommt ihm "im Denken Herrmanns die Stellung eines zentralen philosophischen Begriffs" zu (30). Damit bleibt Herrmann zwar "auf der Linie Schleiermachers, gelangt aber andererseits durch die Definition des Gefühls als Selbstgefühl in die Nähe Lotzes und der Kantinterpretation der Neukantianer" (47). M. fragt von daher in einem ersten Teil ihrer Arbeit nach dem Verhältnis des religiösen Selbstgefühls zum erkenntnistheoretischen und ethischen Subjekt.

Das Grundproblem Herrmanns erblickt M. darin, dass Herrmann zwar die eine Wirklichkeit als Bedürfnis der Person behauptet, aber im Zuge seiner Metaphysikkritik die Einheit der Vernunft bzw. die theoretische Erkenntnis eines Dinges an sich ablehnt (35). "Das Kriterium für die Realität der Welt ist letztendlich der Mensch als Person, d. h. als fühlendes und wollendes Wesen, welches Werte setzt und sie in seinem Willen verwirklicht, mit anderem Wort als Subjekt, das außerhalb der reinen Erkenntnis steht" (78). Das Ding an sich wird also dem Werterlebnis des Subjekts zugeordnet (55). Das Selbstgefühl schafft Wirklichkeit und ist damit anders als bei Kant und Schleiermacher aktiv (58 f.). Sein Inhalt ist das Gefühl vom Wert der eigenen Existenz als Person in der Unterscheidung von der Natur bzw. Welt (87). Dadurch erhält die Religion individuellen Charakter, der sie dem Bereich rationaler Realität entzieht. Die Person erfährt ihr Ziel an sich selbst im religiösen Erlebnis, kann es aber nur mit Hilfe der Ethik erreichen, insofern sie durch das Moralgesetz zur Freiheit von der Kausalität der Natur gelangt. Damit führt Religion zur Ethik. Umgekehrt bleibt eine Ethik ohne Religion reine Abstraktion (112 f.).

Im zweiten Teil der Untersuchung geht es um die Frage, inwieweit Herrmanns formale praktische Denkweise seine Dogmatik auch material bestimmt (31) bzw. wie Herrmann das philosophisch begründete religiöse Erlebnis mit dem Inhalt des historischen Christentums vermittelt (115). Der christliche Glaube als geschichtliche Religion ermöglicht es für Herrmann der Person, sowohl ihre Freiheit zu verwirklichen als auch ihr Bedürfnis nach Einheit der Wirklichkeit zu befriedigen. Mit dieser Verbindung von individuell-religiösem Erlebnis und Kantischer Ethik wird durch Metaphysikkritik das "ursprüngliche Christentum" herausgearbeitet. Gleichzeitig steigt für M. durch den Anspruch, das Problem der Einheit der Wirklichkeit gerade durch die geschichtliche Religion zu lösen, die Philosophie gleichsam durch die Hintertür wieder in die Theologie ein. Weil Herrmann seine individualistische Religion auf wissenschaftlich akzeptable Weise explizieren will, gerät er laut M. in einen inneren Widerspruch (124). Herrmann will einerseits die Geschichtlichkeit des Christentums nicht metaphysisch begründen, andererseits knüpft er sie faktisch an seine praktische Denkweise. In der Christus-Offenbarung erfährt der Glaubende die vollkommene sittliche Persönlichkeit, die er noch anstrebt, bereits als geschichtliches Faktum. Damit bildet der Kantisch-ethische Freiheitsbegriff den Inhalt des Evangeliums (162). Geht es Luther laut M. in der Theologie um Gott für uns und sind die Sätze der Dogmatik Sätze des Evangeliums (192), versteht Herrmann Lehre als sittlich reflektierten Ausdruck des Glaubenserlebnisses (159) und nicht als Gegenstand des Glaubens.

M. schließt noch einen geschichtlichen Exkurs über das Verhältnis von (aristotelischer) Metaphysik und Dogmatik an, der in Reflexionen über die (metaphysiklose) postmoderne Gegenwart mündet. Statt solcher Zersplitterung der Kultur verbunden mit dem Rückzug der Theologie in ein eigenes Sprachspiel fordert M. einen Dialog der Theologie mit der zeitgenössischen Physik über die Metaphysik.

M. arbeitet einen unlösbaren Selbstwiderspruch zwischen der Kant überbietenden bzw. zu Ende führenden (171), hyperkritischen Metaphysikkritik Herrmanns und seinem eigenen philosophisch bestimmten Ansatz heraus, der seine Dogmatik erheblich vorherbestimmt. Dazu stellt sie Herrmanns schwer verstehbare Religionsschrift weitgehend treffend dar (wiewohl - und darin Herrmann ähnlich - die Gedanken mitunter schwerfällig entfaltet werden) und betont zu Recht seinen kryptischen Ansatz beim Selbstgefühl, durch den ihm Originalität und Selbständigkeit gegenüber seinen philosophischen Gewährsmännern zukommt. Hier wäre m. E. ein weitergehender Vergleich mit Lotzes Philosophie bzw. Ontologie (definiert denn schon Lotze Religion als Selbstgefühl [172]?) hilfreich gewesen. Bei den Ausführungen, die belegen sollen, wie Herrmanns Ansatz seine Dogmatik prägt, fehlt insbesondere beim Verhältnis von äußerer Offenbarung und innerem Erlebnis und der Rolle der Ethik die Tiefenschärfe. M. würdigt nicht genug, auf welche (verschiedenen) Arten Herrmann der äußeren Offenbarung in Jesus Christus eine konstitutive Bedeutung zumessen will. Zum Beispiel bleibt das Erlebnis des Vertrauens als Anknüpfungspunkt für die Christusbegegnung (aus der "Ethik") völlig außer Betracht. So bekommt M. Herrmanns Dogmatik nicht klar zu Gesicht und der herausgestellte Selbstwiderspruch Herrmanns verliert an Plausibilität. Das hängt mit der unbegründeten These von der wesentlichen Einheitlichkeit des Herrmannschen Denkens zusammen (ein quellenkritischer Umgang mit den verschiedenen Auflagen der "Ethik" wird versprochen [28], aber nicht durchgeführt) und damit, dass wesentliche Forschungspositionen zur Metaphysik und Christologie bei Herrmann nicht mitbedacht werden. Auch wurde unverständlicherweise die Herrmann-Literatur der letzten Jahre gar nicht berücksichtigt. Schließlich bleibt bis zum verwirrenden Schlussexkurs unklar, ob und wie M. selbst die Metaphysik für die Theologie rehabilitieren will, d. h. von welchem Standpunkt aus sie argumentiert. Trotzdem lenkt M. die Aufmerksamkeit auf die wunden Punkte der Herrmann-Interpretation und auf die grundsätzliche Frage nach der Bedeutung der Metaphysik für die Prolegomena der Dogmatik.