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Ausgabe: | November/2003 |
Spalte: | 1193–1196 |
Kategorie: | Systematische Theologie: Dogmatik |
Autor/Hrsg.: | Essen, Georg |
Titel/Untertitel: | Die Freiheit Jesu. Der neuchalkedonische Enhypostasiebegriff im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie. |
Verlag: | Regensburg: Pustet 2001. 374 S. gr.8 = ratio fidei, 5. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7917-1743-X. |
Rezensent: | Bernd Oberdorfer |
Zu den bedenklichen Langzeitfolgen der großen Tradition protestantischer Dogmengeschichtsschreibung seit Loofs und Harnack gehört die allzu schnelle Bereitschaft, die dogmatischen Fragestellungen und Diskussionen der alten Kirche so zu "historisieren", dass sie ganz als Produkte eines vergangenen, vormodernen Wirklichkeitsverständnisses ohne inspirierende und orientierende Bedeutung für die gegenwärtige theologische Reflexion erscheinen. Umso bemerkenswerter ist es deshalb, dass der katholische Fundamentaltheologe Georg Essen sich in seiner Münsteraner Habilitationsschrift einem besonders intrikaten Aspekt der spätantiken christologischen Diskussion, dem "neuchalkedonischen Enhypostasiebegriff", mit dezidiert systematischem Interesse zuwendet. E. geht es freilich nicht um eine neuzeitkritische Repristination eines altehrwürdigen Theorems. Im Gegenteil arbeitet er als Aporie der Enhypostasielehre heraus, dass sie wegen des damit verbundenen Gedankens der "Anhypostasie" der menschlichen Natur Jesu die "Freiheit Jesu" nicht begrifflich zu wahren vermöge, ohne welche aber gerade "im Horizont neuzeitlicher Subjekt- und Personphilosophie" Jesu Personalität (und damit seine volle Menschlichkeit!) nicht glaubwürdig zu machen sei. Die sachgemäße neuchalkedonische "Intention" muss daher E. zufolge von ihrer geschichtlichen Realisierungsgestalt abgelöst und unter den Bedingungen der Moderne in neuer Form zur Geltung gebracht werden. Persontheoretisch schließt E. an die neoidealistischen Ansätze von Dieter Henrich und Hermann Krings an, die freilich der theologischen Vertiefung bedürften. In der theologischen Entfaltung stützt er sich besonders auf den christologischen Entwurf Wolfhart Pannenbergs, von dessen Freiheitsverständnis er sich aber kritisch abhebt.
Im ersten Kapitel rekonstruiert E. die christologische Begriffsbildung von den Kappadoziern über das Chalcedonense bis hin zu Maximus Confessor. Er orientiert sich dabei an den klassischen Leitfragen: "Wie lässt sich einerseits von der einen Hypostase sprechen, ohne die menschliche Natur hinsichtlich ihrer Vollständigkeit zu beeinträchtigen? Und wie lässt sich andererseits von zwei vollständigen Naturen sprechen ohne nestorianische Aufspaltung der Personeinheit?" (36) Die Enhypostasielehre antwortet darauf mit der Unterscheidung, dass Hypostase zu definieren sei als Î ëÙe ÂrÓÈ das heißt als Subsistenz beziehungsweise als Selbstand oder In-Sich-Stehen, während "eine physis ihr ÂrÓÈ âÓ ëÙÚ haben" kann (40), ohne dadurch aufzuhören, eine "ÊÛÈ åÈÎ" (46), also Individuum zu sein. Die Hypostase ist dann nur das formale "principium unionis, das den Naturen Selbstand und Existenz verleiht" (41). Der monotheletische Streit im 7. Jh. habe "die Lehrentwicklung dadurch auf ein neues Reflexionsniveau gehoben, dass die christologische Fragestellung verinnerlicht wurde" (55). Dabei habe der Dyotheletismus zwar zu Recht Jesus einen eigenen menschlichen Willen zugeschrieben, dessen Eigenständigkeit aber faktisch durch den "Ausschluss der Wahlfreiheit" (64) konterkariert.
Diese Kritik konturiert E. in den folgenden Kapiteln im "Rückgriff auf wegweisende beziehungsweise kontrovers diskutierte christologische Ansätze der neueren Theologiegeschichte" (67), nämlich diejenigen Karl Rahners (68-85.118-121) und Piet Schoonenbergs (85-95.107-109.125-129), und kommt zu dem Schluss, dass die neuchalkedonische Enhypostasielehre unter den Bedingungen des neuzeitlichen Subjekt- und Freiheitsdenkens die Personalität Jesu nicht angemessen zur Geltung bringen könne.
Den epochalen denkgeschichtlichen Bruch diagnostiziert E. in der transzendentalphilosophischen Wende (Kapitel 5). Bei Kant und Fichte werde das Ich "entsubstantialisiert", indem es "allein vom Strukturmerkmal der Selbstreflexivität her verstanden" (202) werde. Fichte fasse "das Ich als formelles Freiheitswesen, genauer: als ursprünglich reflexive Tathandlung" (203). Damit sei "der neuchalkedonischen Enhypostasielehre ihre metaphysische Basis entzogen" (ebd.). Deshalb "steht eine vollständige Revision der bisherigen christologischen Denkform an, das Wagnis einer Denkformtransformation" (204).
Bahnbrechend habe in dieser Hinsicht Wolfhart Pannenberg gewirkt, dessen Ansatz im siebenten Kapitel ausführlich dargestellt wird. Durch die These, gerade in der geschöpflichen Selbstunterscheidung vom Vater erweise sich Jesus indirekt als personidentisch mit dem ewigen Sohn des ewigen Vaters, könne Pannenberg "den neuzeitlichen Einwand ausräumen (...), aufgrund der Personeinheit Jesu mit dem Sohn Gottes entbehre Jesus einer echt menschlichen Personalität" (212). Allerdings falle Pannenbergs Gedanke von der "theonomen Konstitution menschlicher Person und Freiheit" (238) hinter das transzendentalphilosophische Personverständnis zurück, da er "die Selbständigkeit menschlichen Daseins ausdrücklich nicht vom unbedingten Moment menschlicher Freiheit her begreif[e]" (237).
In seiner eigenen "programmatische[n] Skizze" (achtes Kapitel) würdigt E. zunächst dezidiert die "christliche[] Legitimität des neuzeitlichen Subjekt- und Personbegriffs" (243). Wie E. unter Berufung auf Henrich und Schleiermacher aufweist, impliziert die neuzeitliche "Freiheitserfahrung" die Einsicht, dass Freiheit "ihrer selbst nicht mächtig und schon gar nicht Ursprung ihrer selbst ist" (253). Henrichs "weitreichende These, bereits die Erfahrung der Unverfügbarkeit des eigenen Grundes von Selbstbewusstsein sei Anlass zu Dank" (255), lasse freilich die Ambivalenz dieser Kontingenzerfahrung unterbestimmt, die erst durch die Selbstoffenbarung von Gott als Liebe in Eindeutigkeit übergeführt werden könne (vgl. 255 f.). Gottes "Selbstoffenbarung als Liebe" macht nun "die wesentliche Bedeutung der Geschichte Jesu" aus (260). In der "Souveränität seiner Freiheit" habe Jesus sich ganz bestimmen lassen von seinem "Vertrautsein mit Gott und seine[r] Geborgenheit in ihm" (263; Herv. B. O.). Diese "Offenbarungseinheit Jesu mit Gott" impliziere aber "den Gedanken der Wesenseinheit" (267; vgl. Anm. 81!).
Im Folgenden (vgl. 272-291) diskutiert E. im Licht dieser Konzeption verschiedene Aspekte der Christologie wie die Frage des Selbstbewusstseins Jesu, ehe er einen "hypothetische[n] Lösungsvorschlag" für das Problem formuliert, wie sich die "Freiheit des göttlichen Sohnes" und die "Freiheit Jesu" zueinander verhalten (291; vgl. 291-316). Dabei versteht er "unter dem Begriff der Person die gehaltliche Selbstvermittlung des Ich beziehungsweise die reale Freiheit"; die "Realgenese des Ich zur Person" vollzieht sich "als ein geschichtlicher Prozess" (296). Während menschliche Freiheit "in der unabschließbaren Differenz von formaler Unbedingtheit und materieller Bedingtheit als inhaltsvoller Freiheit" existiert (ebd.), kann "die Freiheit Jesu deshalb mit der des göttlichen Sohnes identifiziert werden, weil Jesus der nicht mehr (symbolisch) vermittelten Unmittelbarkeit der Liebe des Vaters ursprünglich gewiss war" (ebd.). Die Freiheit Jesu ist darum zu bestimmen "als Einheit von ursprünglich-unbedingtem Sich-Entschließen und ursprünglich trinitarisch vermittelter Fülle des Inhalts" (297). Gleichwohl gilt, "dass die Lebensgeschichte Jesu für den inkarnierten ewigen Sohn eine Fortbestimmung seines göttlichen Personseins bedeutet, die seine ewige Selbstidentität als Sohn nicht aufhebt" (312). In einem das Werk beschließenden "Ausblick" deutet E. trinitätstheologische Konsequenzen seines christologischen Entwurfs an.
E.s intensive Studie bewegt sich durchgängig auf hohem analytischem und argumentativem Niveau. Bemerkenswert ist, dass die Affirmation der neuzeitlichen Transzendentalphilosophie nicht einhergeht mit einer Abwendung von den Problembeständen der dogmatischen Tradition, sondern im Gegenteil fruchtbar gemacht werden soll für die Reformulierung einer trinitätstheologisch entfalteten Christologie unter veränderten Denkbedingungen.
Allerdings ist E.s Vertrauen in die philosophische und theologische Leistungsfähigkeit dieses Modells auffällig ungebrochen. Die nachidealistische Metakritik am Subjektparadigma wird ebenso wenig berücksichtigt wie der (in neuerer Zeit besonders markant von Ingolf U. Dalferth vorgebrachte) theologische Vorwurf, die subjektivitätstheoretisch vorgehenden Theologen instrumentalisierten dieses Paradigma, indem sie auf der Suche nach Anschlussrationalitäten dessen Leerstellen mit ihren Theologumena besetzten. In Frage stehen darf dabei freilich nicht der legitime Versuch, Denkmodelle daraufhin zu untersuchen, inwieweit sie als Explikationshilfen oder Plausibilisierungsformen für den christlichen Glauben geeignet sind. Strittig ist vielmehr nur, inwieweit das Subjektivitätsmodell eine mögliche oder gar die einzig noch mögliche Form der rationalen Verantwortung des christlichen Glaubens in der Moderne darstellt.
Was das für E.s Argumentation zentrale Person- und Freiheitskonzept betrifft, so sind hier zweifellos weiterführend seine Überlegungen zum Verhältnis von unvermittelt-formalem Ich-Sein und inhaltlich vermitteltem Person-Werden. Christologisch ist freilich zu fragen, wie sich das unmittelbar trinitarisch vermittelte Personsein Christi und sein inkarnatorisch vermitteltes Person-Werden zueinander verhalten. Grundsätzlicher Klärung bedarf zudem, inwiefern Freiheit als ursprüngliche Tathandlung (Selbstsetzung) zu verstehen ist und Wahlfreiheit einschließt.
Doch selbst wenn hier Fragen offen sind, bleibt der Eindruck eines vorzüglichen, scharfsinnig analysierenden und konzeptionell wohldurchdachten Werkes, an dem die christologische Diskussion nicht wird vorbeigehen können.