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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1190–1193

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Assel, Heinrich

Titel/Untertitel:

Geheimnis und Sakrament. Die Theologie des göttlichen Namens bei Kant, Cohen und Rosenzweig.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2001. XII, 412 S. gr.8 = Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie, 98. Geb. Euro 66,00. ISBN 3-525-56211-X.

Rezensent:

Friedrich Lohmann

Die Habilitationsschrift Assels stellt sich, den beiden im Titel genannten Begriffen entsprechend, eine doppelte Aufgabe: Wiedergewinnung der im neuzeitlichen Protestantismus abhanden gekommenen Dimension des Geheimnisses (1-11) und "Vertiefung" des protestantischen Sakramentsverständnisses, namentlich der Abendmahlslehre (z. B. 361). Beides bedingt sich gegenseitig: "Im selben Maße, in dem wir Sakramente als sichtbare Verheißung des Namens verstehen lernen, lernen wir die Homologie des HERRN Jesus Christus, die eucharistische Benediktion und die Doxologie des trinitarischen Namens als hörbares und sagbares Geheimnis verstehen" (360). Gesucht ist eine Umorientierung der theologischen Methodik (20) im Sinne einer rationalen Mystagogie (6) bzw. einer pneumatologischen Eschatologie (11) sowie "ein neuer Begriff vom Sakrament" (17), und das Buch versteht sich als Vorarbeit in dieser Richtung. A. verweist dazu nur en passant auf den begriffsgeschichtlichen Zusammenhang von mysterion und sacramentum (3) und geht in erster Linie theoriegeschichtlich vor. Im Zentrum steht die Auslegung einschlägiger Passagen aus dem Werk I. Kants, F. Rosenzweigs und H. Cohens (wobei anzumerken ist, dass sich die Ausführungen zu Cohen, anders als es der Untertitel der Arbeit vermuten lässt, auf kleinere Exkurse und Anmerkungen beschränken). Dass mit Rosenzweig und Cohen gerade jüdische Religionsphilosophen als Gesprächspartner gewählt werden, ist kein Zufall. "Nicht die vielbeschworenen schicksalhaften Umformungsprozesse neuzeitlichen Christentums, sondern das im Zuge jüdischer Emanzipation im Prinzip gleichberechtigte Gegenüber mindestens zweier Kulte und Gottesdienste des göttlichen Namens ist die entscheidende tektonische Verschiebung der christlichen Theologie der neueren Zeit. Die daraus resultierende, essentiell dialogische Konstitution christlicher Eschatologie und Theologie ist irreversibel" (20 f.). "Der kontradiktorische, begründet unentscheidbare Widerspruch der christlichen und jüdischen Homologie des göttlichen Namens bildet in der vorliegenden Untersuchung den Zugang zur Frage nach dem eschatologischen Geheimnis göttlicher Unendlichkeit" (5). Die Arbeit ist daher auch als ambitionierter Beitrag zum jüdisch-christlichen Dialog zu verstehen. Hinzu kommt, dass Rosenzweig und Cohen in der Sicht A.s eine entscheidende Weichenstellung auf dem Weg zur gesuchten theologischen Neubestimmung von Geheimnis und Sakrament markieren, denn sie werden einesteils als dezidert "eschatologische[] Religionstheorien" (19) in den Blick genommen, andernteils gilt: "Sie spitzen die Aporetik des Geheimnisses semiotisch zu" (15), wobei beides in Anknüpfung und Widerspruch zu Kant und dessen Religionstheorie und "semiotische[m] Programm" (15) geschieht. Mit dem Stichwort "Semiotik" ist der - neben dem theoriegeschichtlichen, jüdische und christliche Religionsphilosophie ins Gespräch bringenden - zweite durchgehende Strang genannt, denn die gesuchte Neubestimmung geschieht entscheidend im Rückgriff auf symboltheoretische Überlegungen.

Der erste Teil der Untersuchung (23-192) steht unter dem Titel: "Hoffnung und Geheimnis bei Immanuel Kant". Die Interpretation von Passagen vor allem aus den drei Kritiken, der Religionsschrift und der kurzen religionsphilosophischen Abhandlung "Das Ende aller Dinge" führt auf einen ambivalenten Befund. Einerseits lasse Kant durch die Einschränkung der Ebene des theoretischen Wissens, durch die Rede vom rezeptiven Urteilssinn sowie dem sich aufdrängenden "Faktum" des moralischen Bewusstseins Raum für das göttliche Geheimnis im Sinne einer sich menschlichen Bemächtigungsversuchen entziehenden, aber in genuinen geschichtlichen Zeichen (Kant: "Ver- heissung", "signum prognosticon") praktisch symbolisierten Hoffnung. Die "Frage nach Hoffnung", verknüpft mit der "Frage, ob sich menschliche Hoffnung nicht als endlicher, kreatürlich-rezeptiver, nicht-transzendentaler und nicht-apriorischer Urteilssinn zu vollziehen habe" (25), sei der eigentliche "Maßstab der Philosophie Kants" (23). Kant könne insofern als "hervorragende[r] Vertreter" "einer rationalen Mystagogie", die Religionsschrift als "Form negativer katechetischer Theologie" und nicht etwa "problematischer Prototyp idealistischer Religionsphilosophien" gelesen werden (167). Sie bleibe aber auf halbem Wege stehen, indem sie mit ihrer Kultkritik jedwede Form der Mitteilung dieses Geheimnisses eliminiere, obwohl eine solche nach Analogie der in der "Kritik der Urteilskraft" entwickelten Theorie des Schönen durchaus systemkonform wäre. Denn diese Theorie lasse sich fortschreiben im Sinne der Zeichentheorie Nelson Goodmans und ihrer zentralen Kategorien "Exemplifikation", "metaphorischer Ausdruck" und "dichte Beschreibung". Diese symboltheoretische Pointe des Kantschen Programms, die "der Transzendentaltheorie querlaufenden Ein- sichten der Dritten Kritik sollen als theologische Chance begriffen werden" (82), auch wenn Kant in der Religionsschrift hinter diesem Programm zurückbleibe. "Das Schöne als ikonische, beschreibbare, mitteilungs- und zustimmungsfähige Idee läßt fragen, ob nicht das inexponible Geheimnis ikonisch zu sehen, zu hören, zu schmecken, zu fühlen und zu beschreiben ist. Aber die Darstellungsform der Religionsschrift wird dieser Möglichkeit nicht gerecht. So bleibt die Erhabenheitstopik eines Mysteriums, das sich negativ anzeigt, ohne mitteilbar zu sein. Im negativistischen Geheimnis kristallisiert sich die Aporie des Hoffens bei Kant" (192). Resultat: Kants Theologie ist nicht nur negativ, sondern "negativistisch". In seiner Gottesidee bleibt der Primat letztlich doch beim Element "Idee" und nicht beim Element "Gott", dem göttlichen, sich in ikonischen Zeichen mitteilenden Namen (vgl. 182). Dieser wird, Grundoperation der Kritik, eliminiert.

Der zweite Teil des Werks (193-360) baut auf diesem Ergebnis auf. Der religionstheoretische Dissens zwischen Cohen und Rosenzweig wird auf die "Alternanz" zwischen "Idee" und "Name" bei Kant zurückgeführt. Cohen versteht Gott als Idee, in der Vernunft heimisch und in der Geschichte wirksam (vgl. 223). Für Rosenzweig hingegen hängt alles an der Offenbarung des unverfügbaren göttlichen Namens. Die daraus sich ergebende "namenstheologische Bemühung Rosenzweigs" (214), wie sie vor allem im "Stern der Erlösung" dokumentiert ist, wird von A. mit spürbarer Sympathie nachgezeichnet. Dabei werden verschiedene Kernpunkte von Rosenzweigs Theologie hervorgehoben: das Erlebnis der Hoffnung als eingestandener Ausgangspunkt (vgl. das Zitat 194), die Rede von Offenbarung als "Zentralbegriff" (218), das Verständnis von Theologie als Logik und Grammatik des göttlichen Namens (237-268), das Schöpfungsverständnis im Sinne eines allem menschlichen Rückfragen vorgegebenen "Schon da" der Dinge (269-308; Zitat: 307), das Verständnis von Ethik nicht als Reflexion, sondern als "Beschreibung der Lebensform Gesetz" (309-332; Zitat: 330) sowie die Theorie der Liturgie (333-360), für die das Höchste des Gottesdiensts nach Rosenzweigs eigenen Worten "nicht das gemeinsame Wort ist, sondern die gemeinsame Gebärde" (zit. 344). Gerade der letzte Punkt, die konstitutive Bedeutung des Gottesdiensts (vgl. 194) und in ihm wiederum die Dialektik verbaler und ikonischer Zeichen, wird von A. hervorgehoben, denn hierin sieht er den entscheidenden Fortschritt gegenüber der "negativistischen" Religionstheorie Kants. "Das Geheimnis der Hoffnung des Namens, der über allen Namen ist, zu erlernen, ist Ziel des Sterns der Erlösung. Die Unendlichkeit des Namens zeigt sich in ikonischen Zeichen der Liturgie als Dichte, welche die unaussprechliche Hoffnung exemplifiziert und metaphorisch ausdrückt. [...] Negativität der Hoffnung ist also nicht das letzte Wort, vielmehr der Übergang zur dichten Beschreibung ikonischer Zeichen: Diese sucht liturgische Gesten als Ausdruckszeichen nicht-aussagbarer Hoffnung zu beschreiben" (346).

Rosenzweig selbst hat gelegentlich eine Analogie zwischen "jüdische[m] Lernen" und christlichem Sakrament festgestellt (zit. 197.319). Es ist daher kein großer Schritt mehr, wenn A. die christlichen Sakramente genau im Sinne der beschriebenen "ikonischen Zeichen der Liturgie" deutet: "Sakramente als ikonische Zeichen des Geheimnisses des göttlichen Namens begründen Theologie als Grammatik und dichte Beschreibung" (356). Der Schluss des Werks, ursprünglich ein eigenständiger Vortrag, entwirft Grundzüge dieses neuen Sakramentsverständnisses am Beispiel des Abendmahls. Wo die Sprache angesichts der durch das erste Gebot gezogenen Grenze versage, bedeute die Feier des Mahls den Übergang "vom Gebet zum richtigen Schweigen" (369), zur sich-mitteilenden Präsenz des Erhofften in der gemeinsamen Zeichenhandlung. A. greift hier auf die semiotischen Kategorien Goodmans zurück, um über das traditionelle repräsentationstheoretische Abendmahlsverständnis hinauszukommen.

A. hat ein eindringliches Werk verfasst, dessen bei aller Vielschichtigkeit hohe gedankliche Geschlossenheit aus obiger Zusammenfassung deutlich geworden sein dürfte. Gleichwohl sind aus der Sicht des Rez. einige Anfragen zu stellen, von denen die beiden wichtigsten in der gebotenen Kürze wenigstens angedeutet seien.

1. Kant-Deutung. A. hebt die "Leistung der sog. ontologischen Kantinterpretation" (26) besonders Gerhard Krügers hervor, lässt sich "durch die Kant-Interpretationen französischer Phänomenologen" (29) anregen und verbindet sie "mit den zeichentheoretischen Analysen Josef Simons" - "gegenwärtig die interessanteste, deutschsprachige Kant-Interpretation" (ebd.). Begriffe wie "Faktizität", "Kreatürlichkeit" oder "Rezeptivität" bilden denn auch in A.s Kant-Exegesen den Cantus firmus. Die Originalität der hier vorgelegten Sicht besteht (1) in der These einer semiotischen Pointe der Kantschen Philosophie samt dem Bezug auf die Symboltheorie Nelson Goodmans, (2) in der These vom Primat der religiösen Hoffnungsfrage bei Kant und (3) in der These einer durch und durch aporetischen Struktur der Philosophie Kants, die im Rückgriff auf Lévinas als deren "Alternanz" bezeichnet wird.

All das betont A. nicht zuletzt im Gegenzug zur "gängige[n] theologische[n] Kritik" (48) an Kant, der A. eine Fixierung "auf das überkommene Kant-Bild" und dadurch ein mehrfaches Übersehen der eigentlichen Pointen Kants vorwirft (25). Die Beweislast ist also groß, und die Stichhaltigkeit der hier vorgelegten Interpretation muss an den Texten Kants selbst ausgewiesen werden. A. präsentiert demgemäß groß angelegte Exegesen, doch der Rez. gesteht, dass es ihnen nicht gelungen ist, ihn zu überzeugen. Die Kant-Deutung A.s wirkt konstruiert, die theologische und semiotische Ausgangsfrage an die Texte des Königsbergers herangetragen.

Der Rez. plädiert demgegenüber dafür, Kant durchgängig ausgehend von seinen Aussagen im subjekt- und vernunftzentrierten Sinne der Kopernikanischen Wende, die er ja nicht umsonst zum Programm seiner kritischen Philosophie erklärt hat, zu verstehen. Kants Theologie bleibt unter diesem Gesichtspunkt genauso "negativistisch" - nur erscheint dies dann nicht als Zurückbleiben gegenüber seinem Programm (so A. 168), sondern als dessen Konsequenz.

2. "Rationale Mystagogie". Auch das theologische Programm, das im Hintergrund des gesamten Werks steht, ist durch einen hohen Überbietungsanspruch gekennzeichnet. "Die Untersuchung gräbt [...] an den großen Traditionsschichten neuzeitlicher, radikalchristologischer Offenbarungstheologie und Offenbarungsphilosophie vorbei und hinter sie zurück" (1 f.). Wo diese bei der Offenbarung Gottes ansetzen, plädiert A. für einen (Neu-)Ansatz der theologischen Methode beim Geheimnis. "Die Furcht vor dem Geheimnis des Namens ist Anfang der Weisheit und der Methode" (203; vgl. 5). Aber: Gibt es nicht auch gute, in der Sache selbst liegende Gründe, die ein Ausgehen der christlichen Theologie bei der geschichtlichen Selbstoffenbarung Gottes in Jesus Christus und eben nicht beim Geheimnis des unendlichen Gottes legitimieren? Von dieser Ausgangsfrage aus wäre sodann A.s Konzeption des Verhältnisses von Juden- und Christentum zu hinterfragen. Dass jüdische und christliche Theologie einander im Geheimnis nahe sind, hat bereits Martin Buber festgestellt. Buber hat jedoch unter dem Stichwort "Inkarnationslosigkeit" des Judentums treffend auf die bleibende Differenz verwiesen. A. spricht selbst von einer Kontradiktion zwischen jüdischem und christlichem Glauben, in der er dezidiert eine christliche Perspektive vertreten will (vgl. 2). Er präsentiert dann aber, aus dem nicht hoch genug zu schätzenden Bemühen um Dialog, ein Modell christlichen Glaubens und christlicher Theologie, das deren entscheidenden Anstoß nicht recht zur Geltung kommen lässt.

All diesen Anfragen zum Trotz ist A.s Untersuchung ein wertvolles Buch. Es ist keine leichte Lektüre. Wer sich auf sie einlässt, wird in mehrfacher Hinsicht belohnt: durch eine an Aufschlüssen reiche, wenn auch in vielem diskutable Interpretation Kants, durch eine pointierte Darstellung der Theologie Rosenzweigs und durch fundamental- und abendmahlstheologische Überlegungen, die zum Weiterdenken provozieren.