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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1183 f

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hein, Markus

Titel/Untertitel:

Die sächsische Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges (1945-1948). Neubildung der Kirchenleitung und Selbstreinigung der Pfarrerschaft.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 327 S. gr.8. m. 1 Abb. = Herbergen der Christenheit, Sonderband 6. Kart. Euro 18,80. ISBN 3-374-01918-8.

Rezensent:

Hans Otte

Die vorliegende Arbeit ist keine umfassende Darstellung der Geschichte der sächsischen Landeskirche nach dem Zweiten Weltkrieg; sie behandelt nur die beiden Aspekte, die im Untertitel genannt werden. Diese waren allerdings für den Fortbestand der sächsischen Landeskirche zentral. Denn die sächsische Landeskirche hatte zu den "zerstörten" Landeskirchen gehört, deren Kirchenleitung bis zum Kriegsende einen scharfen deutschchristlichen Kurs durchgehalten hatte. Dringlich war also eine Neubildung der Kirchenleitung und die "Reinigung" der Pfarrerschaft, die - wie in den meisten Landeskirchen - in Gruppen zerfallen war.

Die kirchliche Neuorganisation wurde durch die Aufteilung des Landes in zwei verschiedene Besatzungsgebiete erschwert; den Süden und Westen des Landes hatten amerikanische, den Osten und Norden sowjetische Truppen besetzt. Deshalb musste für die jeweiligen Besatzungsgebiete eine eigene Kirchenorganisation aufgebaut werden. Als erstes gelang dies im Raum Leipzig. Hier konnte der Superintendent mit Vertretern der Leipziger Fakultät ein Konsistorium bilden, dessen Autorität sowohl von der amerikanischen Besatzungsmacht als auch von der Pfarrerschaft anerkannt wurde. Solche überkommenen institutionellen Stützen fehlten im Raum Zwickau. Hier organisierten Pfarrer, die der Bekennenden Kirche angehörten, zusammen mit Vertretern der Mitte eine vorläufige Kirchenleitung. Dagegen ergriff im russisch besetzten Ostsachsen ein langjähriges Mitglied des Landeskirchenamts, Geheimrat Erich Kotte, die Initiative. Er war als Mitglied der Bekennenden Kirche aus seiner Leitungsposition gedrängt worden und bildete nun mit dem kommissarischen Superintendenten Dresdens, Lic. Franz Lau, eine neue Kirchenleitung. Lau, theologisch profiliert und als Leiter des Predigerseminars in Lückendorf mit vielen jüngeren Theologen bekannt, war 1941 aus der Bekenntnisgemeinschaft ausgetreten, hatte aber auch Distanz zu den Repräsentanten der "Mitte" und selbstverständlich zu den Deutschen Christen gehalten. Nach dem verheerenden Bombenangriff vom 13. Februar 1945 hatte er die evangelische Kirche in Dresden reorganisiert; so wuchs ihm bald genügend Autorität zu, um als "Landessuperintendent" die theologische Leitung der Landeskirche zu übernehmen.

Dem Vf. gelingt es, ein Porträt des (späteren) Kirchenhistorikers als Mann der ersten Stunde zu zeichnen: In den Auseinandersetzungen mit den Deutschen Christen, die nach dem Umbruch nicht von ihrem Posten weichen wollten, erwies sich Lau als Seelsorger, der die Nöte der DC wohl wahrnahm, aber daran festhielt, dass Einsicht in das eigene kirchlich-theologische Versagen die Voraussetzung des Neuanfangs war.

Als sich dann die Amerikaner aus Sachsen zurückzogen, konnten die Dresdner ihren Führungsanspruch durchsetzen. Der Vf. kann dafür zwei Gründe namhaft machen: Die Dresdener Führung betonte, dass die Neuorganisation bis zum Zusammentritt einer Synode und der Wahl eines Landesbischofs vorläufig sei, und es gelang ihnen, extreme Vertreter der Beken- nenden Kirche und die Deutschen Christen aus dem "Beirat" fernzuhalten, der die Rechte der Synode bis zu deren ordentlicher Neuwahl wahrnahm.

Die Arbeit des Beirats und seiner Ausschüsse wird im zweiten Teil der Arbeit deutlich, der sich mit der "Selbstreinigung" der Pfarrerschaft beschäftigt. Hier waren die Vorgaben der Besatzungsmacht zu berücksichtigen, doch konnte die neue Kirchenleitung ihren Standpunkt durchsetzen, dass die Kirche selbst bestimmen musste, wer ihr Predigtamt verwaltete. Die Pfarrer mussten in einer Erklärung ihr Verhältnis zu den Deutschen Christen und zur "NS-Bewegung" darlegen; diese Erklärung war eine Voraussetzung für die Überprüfung und damit für die weitere Beschäftigung im Pfarramt. Der Vf. beschreibt ausführlich, wie sich die Ausschüsse bildeten, die über den Verbleib belasteter Pfarrer zu entscheiden hatten, und wie dann über die einzelnen Betroffenen verhandelt wurde. Schärfer geprüft wurde das Verhalten der Superintendenten; aber auch hier kam es letztlich nur zu wenigen Entlassungen und einigen Versetzungen. Der Vf. zeichnet detailfreudig das Schicksal sämtlicher Superintendenten nach, die zwischen 1933 und 1948 amtiert hatten. Diese Darstellung, die auch als Vorlage für die Fortschreibung des Pfarrerbuchs dienen kann, ist auf Grund der schwierigen Quellenlage unterschiedlich. Zum Teil liefert der Vf. nur ein Datengerüst, zum Teil bietet er eine instruktive Biographie. Leider verzichtet er auf eine zusammenfassende Charakterisierung dieser Gruppe, die deren Profil - z. B. als Generationskohorten und als Angehörige unterschiedlicher theologischer Schulen - verdeutlicht hätte. Ein Dokumentenanhang, Personallisten und ein gut gearbeitetes Personalregister beschließen das Buch.

Insgesamt bietet die Arbeit einen spannenden Ausschnitt aus der Geschichte der sächsischen Landeskirche nach dem Zweiten Weltkrieg. Der Vf. zeigt, wie der Übergang von der zerstörten Landeskirche in der NS-Zeit zu einer anerkannten Landeskirche im kommunistischen Herrschaftssystem ohne tiefe Brüche möglich wurde; dies war neben Erich Kotte als Repräsentanten der Rechtskontinuität Franz Lau zu verdanken, der zwischen den verschiedenen Gruppen vermitteln konnte. Eine besondere Stärke der Veröffentlichung ist die Würdigung der oft vernachlässigten Gruppe der Superintendenten, die - sofern sie nicht Deutsche Christen waren - als weithin respektierte Amtsträger den Fortbestand der Landeskirche auf der mittleren Ebene sicherten. Allerdings bleibt zu bedauern, dass sich der Vf. ganz auf die binnenkirchliche Perspektive beschränkte und sogar darauf verzichtete, staatliche und kirchliche Quellen außerhalb Sachsens heranzuziehen. Er begründet das wenig plausibel damit, dass so einer "vorschnellen Beurteilung und ... Einordnung gewehrt" werde (22); durch den Verzicht auf die Außenperspektive und auf den expliziten Vergleich mit dem Vorgehen westdeutscher Kirchen begibt er sich der Möglichkeit, dem sächsischen Vorgehen ein schärferes Profil zu geben. Das Umfeld der Landeskirche bleibt undeutlich, insbesondere die Dynamik, die der von der Besatzungsmacht und den Kommunisten vorangetriebene soziale Wandel entfaltete.

Kurzum: Der Vf. hat eine Schneise durch das Dickicht der neuesten Kirchengeschichte Sachsens geschlagen, es bleibt aber noch viel Raum, um das Geschehen in der sächsischen Landeskirche nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs zu beschreiben.