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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1162–1164

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Mount, Christopher

Titel/Untertitel:

Pauline Christianity. Luke-Acts and the Legacy of Paul.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2002. X, 207 S. gr.8 = Supplements to Novum Testamentum, 104. Geb. Euro 79,00. ISBN 90-04-12472-1.

Rezensent:

Peter Müller

Das Bild, das in dieser überarbeiteten Chicagoer Dissertation von dem Lukasevangelium, der Apostelgeschichte und dem Erbe des Paulus entworfen wird, lässt sich folgendermaßen charakterisieren: Das (so genannte) Lukasevangelium und die Apostelgeschichte seien als gemeinsames, zusammenhängendes Werk einige Zeit vor 130 n. Chr. entstanden (168). Das zentrale Problem, das der Verfasser mit seinen zwei Bänden lösen wolle, "is that no one has yet succeeded in compiling a narrative to bring order, and thus historical reliability as that would be understood in Graeco-Roman culture, to the stories about the events associated with Jesus and his early followers" (170). Er greife auf das Markusevangelium zurück, keineswegs jedoch mit der Absicht, sein Werk neben jenes zu stellen. Vielmehr gehe er davon aus, dass er seine Sache besser macht als seine Vorgänger (Lk 1,1-4). Er verstehe sein Werk nicht als "Evangelium", sondern als historische Erzählung von Ereignissen der jüngsten Vergangenheit, und er bietet ein Verständnis von Geschichte "as moving according to a recognizable divine plan from a Christian perspective" (170). Dabei erhebe er den Anspruch des Historikers, und zwar auf eine Art und Weise, die im Kontext der zeitgenössischen hellenistischen Literatur verständlich ist (171).

Diesem übergeordneten Interesse, die Ausbreitung des Evangeliums von Jerusalem nach Rom historisch nachvollziehbar darzustellen, ordne er die Ereignisse aus dem Leben Jesu unter. Mit Auferstehung und Himmelfahrt sei die Geschichte noch keineswegs zu Ende. Sie gehe mit der Verkündigung der Apostel weiter, wobei Paulus die zentrale Rolle spiele, und zwar ein Paulus, "whose confrontation with unbelieving Jews comes to define Christianity as a distinct religion over against Judaism. No earlier texts about Jesus had taken much notice of Paul, nor had they required anything more than an account of the life of Jesus to define discipleship" (172). Dem Verfasser komme es darauf an, den Ursprung des Christentums auf eine Weise darzulegen, die das Christentum vom Judentum abhebe und als eigenständige Religion in der griechisch-römischen Welt etabliere. Zu diesem Zweck werde Paulus als Philosoph und römischer Bürger dargestellt, dessen Anrufung des Kaisers den entscheidenden Bruch zwischen Judentum und Christentum markiere. Hier werde klar, "that the religion associated with following Jesus is no longer determined by an immediate encounter with the words of Jesus (whether preserved in a written text like Mk or oral stories about Jesus, both associated as they are with Judaism) but by an understanding of the Christian's place in the history and culture of the Graeco-Roman world" (173). Dabei komme Paulus zentrale Bedeutung zu, allerdings nicht dem Paulus der Paulusbriefe (172), sondern einem Paulus, wie ihn der Verfasser von Lk-Apg verstehe: "Paul is portrayed as a Roman citizen, an orator, an eminent Pharisee, a called instrument of God's purpose for salvation: in short, an idealized participant in the fulfillment of biblical history as conceived by the Author of Lk-Acts, an idealized character bridging Jewish and Graeco-Roman society" (103). Der "Paulinismus" von Lk-Apg orientiere sich deshalb nicht an einer bestimmten Gruppierung innerhalb des frühen Christentums, sondern sei ein literarisches Konstrukt mit der Absicht, die Vergangenheit (Jesus, die Apostel, Paulus) mit der christlichen Gegenwart in der griechisch-römischen Welt zu verknüpfen (104). Dabei habe, wie M. in Kapitel 4 an verschiedenen Stationen des Paulus der Apg darlegt, dem Verfasser Paulustradition praktisch nicht zur Verfügung gestanden (109): "Pauline traditions, movements, or communities do not determine this legacy in early Christianity. Instead, this legacy is a literary construct created to serve the author's intention to narrate an ordered account of the events that have recently taken place concerning the preaching of the Christian message" (162). Die historische Erzählung von Lk-Apg ende damit, dass dem Christentum eine eigenständige Geschichte im Gegenüber zum Judentum zugeschrieben und die Gottesherrschaft im Kontext des römischen Imperiums situiert werde. "Christian existence has been defined in relation to the mission of Paul in the Roman Empire, not the life of Jesus associated as it was with Palestine and Jerusalem. There is no need for a third volume" (174).

Das zweibändige Werk Lukas-Apostelgeschichte habe nun allerdings in der ab 130 n. Chr. einsetzenden innerchristlichen Auseinandersetzung um die Ursprünge eine wesentliche Rolle gespielt und sei dabei funktionalisiert worden. Die Konstruktion der christlichen Anfänge werde jetzt mit Sammlungen autoritativer Texte verknüpft. In dieser Auseinandersetzung seien die beiden Teile des Doppelwerkes - entgegen ihrer eigenen Intention - voneinander getrennt und als Evangelium einerseits, als Apostelgeschichte andererseits verstanden worden (174). Die für das Verständnis des zweiten Teils als Apostelgeschichte maßgebliche Bedeutung komme Irenäus zu, der die apostolische Tradition (anders als Marcion) nicht durch Paulusbriefe, sondern mit Hilfe des Paulusbildes der Apostelgeschichte interpretiert habe. In seiner Absicht "to construct his genealogy of apostolic truth and the true preaching of the Gospel, he reconfigured the pieces of tradition that were available to him from earlier generations of Christians, filled in what was missing, and constructed a suitable account of the origin of Christianity. In this undertaking, the second volume of Lk-Acts, obscure prior to the writing of Irenaeus, became crucial. The Acts of the Apostles emerged as the decisive text or what became the construction of Christian origins preserved in the shape of the New Testament" (177). Irenäus habe die "Apostelgeschichte" aus der Vergessenheit geholt und behauptet, dass von demselben Autor ein verlässliches Evangelium stamme; dies zeige, dass alle Apostel in ihrer Lehre übereinstimmten:

"What for the author of Lk-Acts had been the second volume of a description of the historical development of Christianity out of Judaism in the context of the Hellenistic culture became for Irenaeus the basis for a static construction of Christian origins based on the unity of all the apostles in the proclamation of the Gospel delivered to them by Jesus" (177).

Die Überschrift Apostelgeschichte passe zwar nicht zum Werk, dafür aber zu Irenäus' Absicht, und er habe außerdem eine Biographie des Verfassers vorgelegt, die Lukas mit Paulus verband (177 f.). Auf diese Weise habe er wesentlichen Anteil an der "polemical reconstruction of Christian origins proposed at the end of the second century to bring order to a diversity of religious movements associated with Jesus"(180).

An dieses von M. entwickelte Bild der Apostelgeschichte und der Paulusrezeption sind eine Reihe von Fragen zu stellen:

Warum macht M. sich nicht die Mühe, die von ihm angenommene Abfassungszeit von Lk-Apg "sometime before about 130" (168) näher zu begründen?

Warum werden jüngere Versuche, in der Apg historisch wertvolle Überlieferung zu entdecken, von M. ignoriert? Und ist es wirklich so ausgeschlossen, Paulustradition in der Apg zu finden, wie M. (z. B. 8) meint?

Ist das Ziel des Paulus, der Einheit "des Christentums" zu dienen (8), wirklich lediglich ein literarisches Konstrukt - oder lassen sich in den Paulinen nicht gerade dafür Belege finden?

Angenommen man würde M.s Hypothese akzeptieren: Wieso sollte man (anders als er es faktisch empfiehlt, 7) nicht dennoch die Paulusbriefe neben dem lukanischen Doppelwerk lesen, im Sinne eines proof reading?

Wenn es sich bei Lk-Apg tatsächlich um ein Doppelwerk handelt, warum spielt dann dessen erster Teil für die Interpretation des zweiten bei M. eine so geringe Rolle? Sind insbesondere Sätze wie "Christian existence has been defined in relation to the mission of Paul in the Roman Empire, not the life of Jesus associated as it was with Palestine and Jerusalem" (174) angesichts der Tatsache, dass die Hälfte des Doppelwerkes sich zentral mit eben diesem Jesus in und um Jerusalem beschäftigt, wirklich angemessen?

Wie kommt M. zu dem (naiven) Geschichtsbild einer ab etwa 130 n. Chr. einsetzenden innerchristlichen Auseinandersetzung um die Ursprünge? Lassen sich nicht längst vor Lk-Apg, in den Paulusbriefen und bei Mk, konkurrierende Deutungen christlicher Tradition und Existenz feststellen, die auch literarisch wirksam geworden sind?

Wie soll man es verstehen, dass M. selbst im Rahmen seiner zentralen Überlegungen zu Irenäus anders lautende Auffassungen (vgl. z. B. Noormann, Rolf, Irenäus als Paulusinterpret, WUNT 2.66, Tübingen 1994) einfach ignoriert?

Welche hermeneutische Relevanz hat es schließlich, dass M., bevor er auf Texte aus der Apg eingeht, sich vor allem von Irenäus (wie er ihn versteht) schon hat sagen lassen (Kapitel 2), wie die Apg zu lesen sei?

Die Fragen mögen genügen. Sie machen deutlich, dass nach der Lektüre des Buches die Zahl der ungeklärten Fragen diejenige der nachvollziehbaren Antworten übersteigt.