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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1159–1162

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Gräßer, Erich

Titel/Untertitel:

Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 1,1-7,16.

Verlag:

Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus; Würzburg: Echter 2002. 280 S. 8 = Ökumenischer Taschenbuchkommentar zum Neuen Testament, 8/1. Kart. Euro 26,00. ISBN 3-579-00513-8.

Rezensent:

Theo K. Heckel

Erich Gräßer übernahm von seinem Lehrer Rudolf Bultmann die Liebe zum 2Kor, dem zugleich persönlichsten und sachlichsten aller Paulusbriefe (11; 36, z. T. Zitat Jülicher). G. strebt eine theologische Kommentierung an und zeigt sich wohltuend spröde gegenüber Modetrends wie etwa einer terminologisch aufgeblähten textlinguistischen oder rhetorischen Analyse. Konservativ bleibt G. auch bei der Literarkritik in Bahnen der Bultmannschule und erklärt den überlieferten 2Kor zu einer Briefsammlung, die mehrere Schriftstücke aus den Jahren 55/56 n. Chr. zusammenstellt. Die Briefteile stammen nach dieser Rekonstruktion aus unterschiedlichen Phasen einer zwischenzeitlich dramatischen Auseinandersetzung zwischen Paulus und seiner Gemeinde in Korinth.

Die erschlossene Abfolge nach G. ist folgende: Nachdem Paulus den 1Kor versandt hatte, dringen "Wandermissionare" (33) in die korinthische Gemeinde ein und kritisieren den Apostel, der sich mit einer Apologie seines Apostelamts wehrt (2,14-6,13; 7,2-4). Bei einem Zwischenbesuch des Apostels in Korinth brüskiert ihn ein einzelner "Unrechttäter" (7,12). Über die genaueren Umstände schweigt Paulus, und G. will nicht spekulieren, aber G. widerspricht einer Identifikation dieses Gegners mit dem Blutschänder von 1Kor 5 (91.276). Paulus bemüht sich in einer zweiten Apologie um seine Gemeinde, dem mit 2Kor 2,4 sog. "Tränenbrief", der nach G. in 2Kor 10,1- 13,10 erhalten geblieben ist. Erst Titus kann dem Apostel von einer bereits erfolgten Gemeindezucht gegen den Paulusgegner berichten und ermöglicht so den versöhnlichen Brief, der in 2Kor (1,1 f.) 1,3-2,4; 7,5-16 erhalten geblieben ist. Die Verse 13,11-13 könnten ursprünglich zu diesem Versöhnungsbrief gehört haben (32). In 2Kor 8 und 2Kor 9 sieht G. zwei unabhängige Verwaltungsschreiben, die G. in diesem Teilband (noch) nicht genau zuweist (vgl. 31.35). 2Kor 6,14-7,1 hält G. für eine nachpaulinische Interpolation und lehnt dabei explizit und begründet zahlreiche Versuche ab, den sprachlich und inhaltlich auffälligen Abschnitt für ein durch Paulus eingefügtes Zitat zu erklären (264 f.).

Diese Rekonstruktion führt G. besonnen vor, freilich kümmert er sich nicht um den Redaktor und dessen Absichten. Von diesem Redaktor erfahren wir nur, dass er "in Unkenntnis des wirklichen Streitverlaufs" (34) paulinische Schriftstücke zusammenstellt, um diese zeitlos gültig zu machen. Wann und wo dies geschehen sein sollte, fragt G. nicht. Eine Tendenz, die dialogische Theologie des Apostels in "Zeitlosigkeit" zu überführen, zeigt m. E. auch der Eph. Lässt sich der erschlossene Redaktor in der Paulusschule verorten? Wie verhält sich der Redaktor der Briefzusammenstellung zum Interpolator von 2Kor 6,14-7,1? Die "judenchristliche[] Paränese" (265) passt jedenfalls ungleich schlechter in die Paulusschule als der erschlossene Briefredaktor. Da wir von den ersten Bearbeitern notgedrungen in unserer Sichtweise des Paulus sehr beeinflusst bzw. auch eingeschränkt werden, wären hier vielleicht genauere Überlegungen sinnvoll. Testimonien zum 2Kor bietet G. nicht, ebenso entfallen Ausführungen zur Wirkungsgeschichte. Vermutungen zum ursprünglichen zeitgeschichtlichen Hintergrund hält G. im 2Kor insgesamt für weniger bedeutsam als etwa im 1Kor (34), z. T. erklärt er die Rekonstruktion historischer Hintergründe für "irrelevant", so zu 1,8 (62).

Die notwendig spekulative Literarkritik sollte nicht überbewertet werden. Weite Teile seines Kommentars bleiben auch bei abweichenden literarischen Annahmen bedeutungsvoll. G. bleibt bei seiner Auslegung in der überlieferten Reihenfolge. Allerdings kann Paulus, wenn G. seine eigene Rekonstruktion ernst nimmt, in 2,17 nicht auf etwas "schon in 1,12b" (115) Herausgestelltes zurückgreifen.

Der Kommentar ist in seinem Umfang wohlausgewogen. Die Bibliographien sind insbesondere bei älterer Literatur gut auf deren bleibende Relevanz hin beschränkt; Übersetzung, Analyse, Einzelexegese und Zusammenfassung folgen. G. bündelt die theologisch relevanten Ergebnisse abschließend gerne zweimal, zunächst in einer "Zusammenfassung", dann in einer "Summa".

Der Kommentar richtet sich weitgehend an einschlägig akademisch ausgebildete oder sich in Ausbildung befindliche Leserinnen und Leser. G. bietet griechische Wörter grundsätzlich in einer manchmal etwas eigentümlichen Umschrift ("enggegramenê", 121; "splangchna", 254), nur in Zitaten dürfen griechische Worte bleiben (z. B. 68.71.151). Ob G. mit dieser Umschrift ein für das Altgriechische verlorenes Schaf rettet und nicht vielmehr 99 andere ohne Tipp für die rechte Betonungssilbe lässt?

Die Einzelexegese bietet etwas zu oft gute Argumente gegen die vorangestellte, meist an Luthers Version angelehnte Übersetzung, so etwa zu 5,7: "Die übliche Übersetzung: Wir wandeln im Glauben, nicht im Schauen ... ist anfechtbar" (195), die Übersetzung des Abschnitts bietet aber genau diesen Wortlaut; ähnliche Differenzen zeigen sich bei 1,1 (vgl. 46), 1,9 (63), 1,12 (71); 5,11 (209); 6,4 (241).

G. versteht es, seine Auslegungen mit treffenden Zitaten zu beschließen. Neben der Kommentarliteratur (vor allem Zeilinger; Wolff; Thrall; auch Furnish; Martin) schöpft G. dabei aus einem reichen theologischen Fundus weit über die neutestamentlichen Fachgrenzen hinaus, so dass G. etwa Martin Luther (z. B. 196.234), Paul Gerhardt (194) oder Schalom Ben Chorin (202) zu Worte kommen lässt. Dominant, ja fast auf jeder Seite genannt ist dabei Bultmann. G. setzt sich wohl mit jeder Zeile dessen Kommentars auseinander, unterschlägt freilich auch die übrigen Werke des Meisters nicht. Dabei übersteigt G.s Liebe zur theologischen Sache manchmal erkennbar die Verehrung des Lehrers, nämlich dann, wenn er Bultmann widerspricht (so 118.126.194.195.220.246).

G. arbeitet wiederholt die christologische Grundausrichtung der paulinischen Ausführungen heraus, so zeigt er gleichsam das theologische Bauprinzip in den Winkeln des paulinischen Gelegenheitsschreibens, etwa zu 6,8-10 (247) oder 7,10 (275). G. argumentiert klar, seine theologisch gehaltvollen Deutungen sind durch exegetische Einzelbeobachtungen nachvollziehbar gemacht und philologisch "geerdet". In wenigen Einzelfällen erklärt G. mit etwas hemdsärmelig groben Rastern Grundsatzfragen, etwa wenn G. die Wahrheitssuche bei den Philosophen mit der Frage "Was ist Wahrheit" von der theologischen Wahrheitssuche abgrenzt, die danach frage: "Wer ist wahr" (150). Gelegentlich wünscht man sich zu den Erklärungen eine Erklärung, und sei es eine existentiale, etwa wenn G. zur gegenwärtigen Bedeutung der "Neuen Schöpfung" (2Kor 5,17) abschließend festhält: "Damit ist kein mystisches Verhältnis zu Christus bezeichnet, auch keine Symbolik, sondern ein eschatologisches Faktum" (223; z. T. Zitat Bultmann, GuV 1, 171).

Einzelne theologische Aussagen werden Widerspruch erfahren, wenn G. den Sühnegedanken für 5,11-6,10 zu einem Nebenmotiv erklärt, das auf 5,21 zu beschränken sei (232-236). Der einzige als solcher gekennzeichnete Exkurs des Buches mit der Überschrift: "Zur Sühnetodvorstellung bei Paulus" (235 f.) versucht sehr gedrängt, die unterschiedlichen Positionen zur Frage zu nennen. Diskussionsbedarf besteht m. E. bei G.s Behauptung, Paulus halte die Verbindung der Korinther zu ihm als Gründungsapostel für "heilsnotwendig" (so 268 mit Zeilinger).

Zu zwei weiteren Themen vermisse ich eine zusammenhängende Darstellung: 1) Einmal zu den Wechseln im Numerus des Subjekts. G. muss wiederholt zu diesem Thema Stellung nehmen, er nennt auch immer wieder neue Lit. (30 f.50.56.77.214.219 u. ö.), doch bleibt er bei einer m. E. etwas misslichen Notlösung, wenn er die Numeruswechsel für unbedeutend erklärt. Wenigstens einmal stützt diese Lösung eine weitreichende These, denn nur wenn der Wechsel vom "ich" in 2,13 zum "wir" in 7,7 unbedeutend ist, passen die Stücke 2,13/7,5 "wie die Bruchstellen eines Ringes" (Weiss) zusammen (vgl. 271). 2) Ein zweiter vermisster Exkurs betrifft die Gegner. Wiederholt nennt G. "catchwords" der vermuteten Gegner, etwa in 2,14 (108), 2,15 (111), 5,6 (193), 5,10 (199). Zu 5,1-10 vermerkt G., dass Gegnereinfluss unbestreitbar sei (182). Gelegentlich heißt es, Paulus nehme die Terminologie der Gegner auf und mache aber etwas ganz anderes mit den Worten (so etwa 201). Was machten denn die Gegner? Wie kommen sie dazu, dualistische Anthropologie (so zu 5,1-10) und Berufung auf Mose (so 268) zusammenzudenken? Eine Zusammenstellung der einzelnen, bei G. behutsam erschlossenen Gegnerargumente würde erlauben, hinter der paulinischen Polemik auch deren positives Anliegen in Ansätzen zu verstehen. Dafür ist wohl mehr historische Rekonstruktion nötig, um die dialogische Theologie des Paulus zu verstehen. G. folgt in seiner Auslegung der durch den Redaktor vorgegebenen Leserichtung, die Paulus aus seinen konkreten Auseinandersetzungen herauslöst und so seine Dialoganteile als zeitlose Zeugnisse anbietet.

G. hat einen wichtigen Kommentar geschrieben, der nicht nur Bultmanns Kommentar (Der zweite Brief an die Korinther, KEK.S, hrsg. v. E. Dinkler, Göttingen: Vandenhoeck 1976, 2. Aufl. 1987) gleichsam aktualisiert, sondern auch neben den bedeutendsten deutschsprachigen Kommentaren seinen Platz verdient. Der Verkaufspreis entspricht dem Inhalt, nur die Ausstattung des Bandes als Taschenbuch bleibt hinter diesen Vorgaben zurück. Eine gebundene Bibliotheksausgabe mit einem vergrößerten Satzspiegel wünscht sich zumindest der Rez.