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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1157–1159

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Dietzfelbinger, Christian

Titel/Untertitel:

Das Evangelium nach Johannes. Teilband 1: Johannes 1-12. Teilband 2: Johannes 13-21.

Verlag:

Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2001. 406 u. 387 S. gr.8 = Zürcher Bibelkommentare, NT 4. Kart. Euro 82,00. ISBN 3-290-14743-6.

Rezensent:

Carsten Claussen

Im Anschluss an gewichtige Vorarbeiten in Vorlesungen, Aufsätzen und einer Monographie zu den johanneischen Abschiedsreden legt Christian Dietzfelbinger einen zweibändigen Kommentar zum Johannesevangelium vor. Einem Abschnitt zu den Einleitungsfragen folgt die ausführliche Kommentierung, die durch insgesamt 26 vertiefende Exkurse zu Themen wie "Eschatologie im Johannesevangelium" (I, 200-205), "Der Paraklet" (II, 155-171) oder "Der Jünger, den Jesus liebte" (II, 374- 79) angereichert wird.

Auf Anhieb ist dieser Kommentar zunächst durch die zahlreichen Fragen zu charakterisieren, denen der Autor sich stellt und die er seinen Lesern und Leserinnen nicht selten zum Weiterdenken hinterlässt: "Wie kann man, fragt der Leser, der aufmerksam und wach sich ins Johannesevangelium hineinbegibt, von dem einen Jesus [im Vergleich mit den Synoptikern; Anm. d. Rez.] in so unterschiedlicher Weise erzählen? In welcher Absicht geht das Johannesevangelium, wenn es die Jesusgeschichte erzählt und die Jesusverkündigung wiedergibt, einen so eigenen Weg? Indem wir diese Frage stellen, stehen wir vor dem Tor, das den Weg zum Verstehen dieses Evangeliums öffnet" (I, 11).

Für D. öffnet sich das hermeneutische Tor zum Verständnis des vierten Evangeliums durch zwei miteinander eng verknüpfte Grundeinsichten: Zum einen sieht er in der Christologie das theologische Proprium des Johannesevangeliums. Dessen Autor beanspruche gegenüber seinen Vorgängern näher "an der Christuswirklichkeit [zu] sei[n] als das Christusbild der Synoptiker" (I, 12), die dem vierten Evangelisten mindestens dem Material nach bekannt gewesen seien (I, 11). Johannes habe selbstbewusst seine synoptischen Vorgänger korrigieren wollen. "Die Synagoge" habe die Gemeinde im Gegenzug abgelehnt, "je tiefer und höher die johanneische Christologie ausgebaut wurde" (I, 16).

Zum anderen habe die Auslegung den Blickwinkel des Evangelisten zu berücksichtigen: Das Johannesevangelium sei durchgängig als Christusverkündigung in nachösterlicher Perspektive aufzufassen (I, 121). Nirgendwo in dem Kommentar tritt dies deutlicher hervor als bei den Abschiedsreden (Joh 13,31-17,26) und speziell im letzten Gebet Jesu in Joh 17.

Bereits in seiner Monographie "Der Abschied des Kommenden. Eine Auslegung der johanneischen Abschiedsreden" (WUNT 95, Tübingen 1997, 357) hatte D. die Bedeutung dieses Abschnittes herausgestellt. Der Kommentator sieht darin "nichts Geringeres als die Vollendung johanneischer Christologie" (vgl. jetzt: II, 249) und damit in Joh 17 in besonderer Weise einen Höhepunkt des Johannesevangeliums. Hier lege der von Gott in die Welt Gesandte Rechenschaft über sein Werk ab. Gleichzeitig bittet er den Vater um die Fortführung und Vollendung dieses Werkes in der Zeit der Kirche.

D. versucht das Johannesevangelium auf den verschiedenen Ebenen seiner Entstehung und Redaktion zu interpretieren. Joh 17 (und im Grunde das ganze Joh) charakterisiert er grundlegend als "meditative Selbstvergewisserung der Gemeinde" (II, 194), die in der Form eines Gebetes Jesu vor dem Beginn der Passion dargestellt wird. Damit verschmelzen die beiden Ebenen der nachösterlichen Gemeinde und des vorösterlichen Jesus. Dieses Prinzip der Horizontverschmelzung eröffnet für D. den hermeneutischen Zugang, ohne dessen ständige Berücksichtigung dieses Evangelium nicht verstanden werden könne (II, 194; vgl. II, 81).

Die nachösterliche Ebene wird in dieser Auslegung keinesfalls nur auf die Zeit der johanneischen Gemeinde beschränkt. Im Sinne existentialer Interpretation formuliert D., dass "apokalyptische Zukunftserwartung in die Erfahrung gegenwärtiger Erfüllung überführt wird" (II, 92). Ostern gehe dabei nicht in seiner geschichtlichen Einmaligkeit auf, sondern werde "in ein jeweils neu zu erlebendes Geschehen verwandelt" (II, 80). Auch die Parusie sei nicht an apokalyptische Einmaligkeit gebunden, sondern sie ereigne sich, "wenn ein Mensch in der Liebe zu Jesus ihn und seine Sendung verstanden hat und für sich gelten lässt" (II, 80). Der Paraklet verhelfe eben dazu (II, 163).

Stellt D. auch mit Recht die Akzentsetzung einer präsentischen Eschatologie im Johannesevangelium heraus, so ist doch seine Annahme einer gleichzeitigen, praktisch vollständigen Zurückdrängung apokalyptisch-futurischer Vorstellungen zu hinterfragen. Nicht zuletzt die häufig in theologischer Nähe zur johanneischen Gemeinde angesiedelten Qumrantexte (etwa 1QH) legen ein differenziertes Miteinander von gegenwärtigem Heil und Enderwartung nahe. Die Annahme, dass die johanneische Gemeinde ihre Ursprünge im palästinischen Judenchristentum gehabt habe (I, 15), hätte nicht nur in diesem Zusammenhang eine stärkere Berücksichtigung antik-jüdischer Quellen zur Folge haben müssen.

Weitere Fragen wirft die akribisch durchgeführte literarkritische Trennung verschiedener Schichten auf. Wie kann einerseits festgestellt werden, dass "der Aufbau des Johannesevangeliums (...) einen durchdachten Plan des Verfassers [verrät]" (I, 12), wenn D. sich andererseits zu komplexen literarkritischen Rekonstruktionen genötigt sieht? So seien etwa für die Abschiedsreden verschiedene Autoren aus dem Schülerkreis des Evangelisten und eine Endredaktion anzunehmen (II, 190.251).

Sind solch literarkritische Beobachtungen wirklich tragfähig genug, um gar verschiedene historische Szenarien der einzelnen Reden zu rekonstruieren, wie D. sie als konkrete Auseinandersetzungen und Krisen der johanneischen Gemeinde nach innen und außen darstellt? Wie aussagekräftig sind die fraglos zu beobachtenden Akzentsetzungen der einzelnen Abschiedsreden, wenn gleichzeitig zugestanden wird, dass die antiken Zeitgenossen "schon sehr genau hinsehen [mussten], um in der Masse dieser vielfach schwierigen Texte das jeweils eigene Gesicht der einzelnen Rede zu entdecken" und dass "es noch größerer Mühe [bedarf], um eventuelle Widersprüchlichkeiten aufzudecken" (II, 251)? Und schließlich: War nicht das Ziel der Auslegung davon unabhängig ein ganz anderes (und zwar synchrones)? So hatte der Autor selbst formuliert "Wir lesen sie [die Abschiedsreden; Anm. d. Rez.] vielmehr als theologische Reflexionen eines [sic] urchristlichen Autors, die mit dem Anspruch einhergehen, daß hier die Christusbotschaft bis zu ihren letztmöglichen Äußerungen vorangetrieben wurde, daß also in diesen Reflexionen ein letztverbindliches Wort Christi zu hören ist" (II, 24; vgl. ders., Abschied des Kommenden, 3).

Fragen gibt schließlich auch die Spannung zwischen geschichtlichem Rückgriff und theologischer Verarbeitung auf. Kann man wirklich folgern, dass die Worte des irdischen Jesus für Johannes und seinen Schülerkreis für deren Nachfolge nicht tragfähig genug gewesen seien (II, 91), wenn doch der johanneische Rückgriff auf den historischen Jesus zeigt, dass dessen "echte[s] Menschsein" als "Voraussetzung der gesamten johanneischen Christologie" (I, 97) anzusehen ist? Gerade in diesem Zusammenhang wird jedoch wiederum deutlich, wie D. seine Leserschaft in die Fragen und Auseinandersetzungen mit hineinnehmen will, aus denen das vierte Evangelium selbst erwachsen ist.

D. hat als profilierter Prediger und Exeget eine Auslegung für jene geschrieben, die das Johannesevangelium auf die Kanzeln tragen. Er hat nicht weniger einen profunden Beitrag zur wissenschaftlichen Diskussion verfasst, der um die Probleme der Auslegung des vierten Evangeliums weiß. Umso mehr wäre eine stärkere Einbeziehung und Auseinandersetzung mit der gegenwärtigen Johannesforschung wünschenswert gewesen. D. will seine Leser und Leserinnen - nicht selten auf homiletische Weise - in die Fülle seiner eigenen Fragen an das vierte Evangelium mit hineinnehmen. Dabei ist D. ohne Frage ein gewichtiger Beitrag zur Exegese des Johannesevangeliums gelungen. Er hat ein Werk für jene verfasst, die sich den Fragen und Anfragen des Johannesevangeliums und seiner Auslegung stellen und sich nicht mit vorgefertigten Antworten zufrieden geben wollen. Dass sich dabei Rückfragen zu Wort melden, mag als konsequent angesehen werden.