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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1154–1157

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Cousland, J. R. C.

Titel/Untertitel:

The Crowds in the Gospel of Matthew.

Verlag:

Leiden-Boston-Köln: Brill 2002. XIII, 361 S. gr.8 = Supplements to Novum Testamentum, 102. Lw. Euro 105,00. ISBN 90-04-12177-3.

Rezensent:

Matthias Konradt

Die von Cousland erstmals in einem monographischen Rahmen unternommene Bestimmung der Rolle und Funktion der Volksmengen in der mt Jesusgeschichte ist für die - in der neueren Forschung kontrovers diskutierte - Frage nach der Stellung des Evangelisten zu Israel von elementarer Bedeutung. C.s differenzierte Studie leistet dazu einen wertvollen Beitrag.

Nach einer kurzen Einleitung (Teil I, Kap. 1, 3-27), in der C. in knapper Form die bisherige Forschungsgeschichte überblickt, widmet sich der zweite Teil (Kap. 2-4, 29-98) zunächst der Bestimmung der Identität der Volksmengen. Im Vergleich mit Mk und Lk habe Matthäus die Volksmengen, zu deren Bezeichnung er konsequent ochlos/ochloi verwendet (39 f.), stärker als Handlungsfigur mit eigenem Profil konzipiert (Kap. 2, 31-51). Die Volksmengen seien bei Matthäus "a literary construct" (43 [ff.]). Kap. 3 (53-73) analysiert die ethnische Identität der Volksmengen als durchgehend jüdisch, was nicht impliziere, dass ochlos ohne weiteres mit laos (= Gottesvolk Israel) gleichbedeutend sei (Kap. 4, 75-95). Vielmehr unterscheide Matthäus zwischen den Volksmengen einerseits und den Führern des Volkes andererseits. C. verweist hier insbesondere auf die von ihm als "programmatisch" gewertete (98), wesentlich durch Ez 34 beeinflusste (87) metaphorische Bezeichnung der Volksmengen als "Schafe" in 9,36; 10,6, die eine Kritik an den Autoritäten als schlechten Hirten impliziere (86-94).

Die genannte Metaphorik steht im Zentrum des dritten und ausführlichsten Teils der Studie mit der Überschrift "rex et grex" (99-203), in dem C. die positiven Züge der mt Darstellung der Volksmengen in ihrem Verhältnis zu Jesus analysiert. C. gibt zunächst einen Überblick über Jesu Wirken an den Volksmengen durch Verkündigung, Lehre, Heilungen und Speisungen (Kap. 5, 101-123). Matthäus betone dabei besonders Jesu heilende Tätigkeit; mit ihr erweise Jesus sich als der davidisch-messianische Hirte des Volkes.

Mit Kap. 6 (125-144) nimmt C. sodann die Reaktion der Volksmengen auf Jesu Wirken in den Blick. C. hebt hier vor allem auf die Differenz zu den Jüngern ab: Das Erstaunen der Volksmengen angesichts der Lehre Jesu (7,28; 22,33) und ihre Verwunderung über Jesu Heilungen (9,33; 15,31) umschließen "no commitment or faith" (129); der Lobpreis Gottes (9,8; 15,31) sage nichts Genaues über die Einstellung zu Jesus (134 f.). Allerdings erkennt C. in der direkten Rede der Volksmengen von 9,33 über 12,23 bis zu 21,9 ein sich entwickelndes christologisches Bewusstsein (141 f., ferner 191-195): Der heilende Jesus wird als Davidssohn akklamiert.

Nach einer Untersuchung des auf die Volksmengen bezogenen Gebrauchs von akoluthein, den C. von der Verwendung des Verbs als terminus technicus für die Nachfolge der Jünger abgrenzt (Kap. 7, 145-173: in Mt 12,46-50 sind es anders als in Mk 3,31-35 nicht die Volksmengen, sondern die Jünger, die Gottes Willen tun; es fehlt bei den Volksmengen der Ruf in die Nachfolge [vgl. Mt 16,24 mit Mk 8,34]; die Volksmengen "follow Jesus in order to be ministered to" [167], sie sind die Schafe, die ihrem Hirten folgen [169-171]), wird in Kap. 8 (175- 199) die Bedeutung der Davidssohnakklamation (21,9) näher erörtert. C. wendet sich gegen die These, dass Matthäus mit der Verwendung des Davidssohntitels im Munde der Volksmengen deren Unglauben herauszustellen suche (195), und verweist auf den komplementären Charakter der nicht in ein starres, hierarchisch organisiertes Schema zu pressenden christologischen Titel im MtEv (180). Der auf das irdische Wirken Jesu an Israel bezogene Davidssohntitel sei im MtEv im Zusammenhang der Darstellung Jesu als des davidisch-messianischen Hirten zu verstehen (187). Mit 21,9 lasse Matthäus die Volksmengen Jesus als ihren Messias ausrufen. Mehr freilich nicht: Eine volle christologische Erkenntnis, die implizierte, "to recognize Jesus as David's Lord" (198), besitzen die Volksmengen nicht. Zwischen den jüdischen Autoritäten und den Jüngern nehmen sie eine Mittelstellung ein (201 f.).

Unter der Überschrift "Death and the Prophet" handelt C. im vierten Hauptteil (205-262) die negativen Züge in der mt Darstellung der Volksmengen ab. Die Bezeichnung Jesu als eines Propheten in 21,11 (vgl. 21,46), worunter nicht der eschatologische Prophet wie Mose zu verstehen sei (208-217), liest C. als Signal für das bevorstehende gewaltsame Ende Jesu (217- 222), und zwar so, dass dieses durch die Worte der Volksmengen in 21,11 in Gang gesetzt werde (223). Die Volksmengen würden dabei schließlich selbst unter dem Einfluss ihrer boshaften Anführer zu "prophet-killers" (224).

Mit Kap. 10 (227-239) wendet sich C. der Rolle der Volksmengen in der Passionsgeschichte zu. C. fasst 26,55 als Indiz auf, dass die gegen Jesus agierenden Volksmengen keine anderen sind als die, die ihm vorher zugehört haben. In der Verurteilungsszene 27,15-26 habe Matthäus sodann die Verantwortlichkeit der Volksmengen für den Tod Jesu betont. In pas ho laos in 27,25 sieht C. die Volksmengen mit ihren Führern vereint (235). Die Wendung wird also, entgegen einigen neueren Thesen, nicht als Wechselbegriff zu ochlos (V. 24) verstanden, sondern im Sinne von "ganz Israel" (vgl. 81-83). Gleichwohl sieht C. die Volksmengen bzw. Israel damit nicht definitiv abgeschrieben: "Even after the symbolic merging at 27:25, Israel is not viewed by Matthew as a single massa perditionis" (238). Die Möglichkeit der Vergebung bleibe offen (239); auch nach der Kreuzigung kenne Matthäus, wie die Erzählung von der Bewachung des Grabes beweise (27,62-66; 28,11-15), noch eine Differenzierung zwischen den Volksmengen und den Autoritäten.

In Kap. 11 (241-260), das im Aufbau der Arbeit nachklappend wirkt, rundet C. den vierten Hauptteil durch eine Analyse der Gleichnisrede in Mt 13 ab. Matthäus setze in V. 10-17, 18-23 die nicht-verstehenden Volksmengen (13,13-15,19) dezidiert von den verstehenden Jüngern (13,23) ab.

Im knappen fünften Teil (Kap. 12, 265-300) entfaltet C. schließlich die These, dass die Volksmengen im MtEv wie die Jünger und die jüdischen Autoritäten als für die Gegenwart des Evangelisten transparente Größe zu fassen seien. In der Darstellung der Volksmengen spiegele sich die Situation der nicht-christusgläubigen jüdischen Volksmengen, welche die Adressaten der noch andauernden Israelmission der Kirche sind. Nach mt Verständnis heiße dies: Sie sind "recipients of the church's ministry, particularly its healing ministry" (276). Dieser Aspekt fehlt hingegen im Missionsbefehl in 28,18-20, worin C. eine gewichtige Differenz zwischen dem Fokus der Israelmission und der Ausrichtung der Völkermission erkennt (276, vgl. 113). C. verbindet dies freilich nun mit der traditionellen These, dass das Reich Gottes von Israel auf das neue Gottesvolk, die Kirche, übergegangen sei (285), und C. macht ferner 27,25 als Wendepunkt zur universalen Völkermission namhaft (288). C. operiert dabei näherhin mit einem diffizilen Nebeneinander von Affinität und Differenz zwischen den Autoritäten und den Volksmengen, das er in der Rede von einer "dual economy" begrifflich auf den Punkt zu bringen sucht: Nicht nur die Autoritäten würden von Matthäus verurteilt (21,43), sondern auch die Volksmengen (13,10-23), aber aus unterschiedlichen Gründen und mit verschiedenen Zukunftsperspektiven. Während die Autoritäten definitiv vom Reich Gottes ausgeschlossen sind, gibt es für die Volksmengen noch Hoffnung (285 f.). Eine kurze Zusammenfassung (301-304) rundet die Arbeit ab.

C.s Studie ist gründlich gearbeitet. Die positiven oder negativen Züge im mt Bild der Volksmengen werden nicht zu Gunsten der jeweils anderen heruntergespielt. Dass sich an in der gegenwärtigen Forschung kontrovers diskutierten, zum Teil in ihrer Konsequenz weit reichenden Einzelfragen - wie etwa an der Deutung von 27,24 f. - Anfragen entzünden können, versteht sich von selbst. Für das Gesamtverständnis von einiger Bedeutung ist ferner z. B., dass C. die Volksmengen als einheitliche Größe fasst und also die galiläischen Volksmengen und die an der Inhaftierung und Verurteilung Jesu beteiligten Volksmengen als ein und dieselbe Handlungsfigur begreift. Schon die auffallende Gegenüberstellung der Volksmengen mit der ganzen Stadt Jerusalem in 21,10 f. evoziert die Frage, ob Matthäus hier nicht differenzierter konzipiert hat. Dies gilt dann auch für 27,24 f.

Zu hinterfragen ist zugleich C.s übergreifender Ansatz. C. stellt zum einen die Funktion der Volksmengen im Rahmen der mt Entfaltung der Christologie in den Vordergrund und betont zum anderen die Differenz zwischen den Volksmengen und den Jüngern. Letzteres ist im Zusammenhang der - m. E. fragwürdigen - These zu sehen, dass die negative Darstellung der Volksmengen der Legitimation der privilegierten Position der Kirche in der Heilsgeschichte diene (300) - hier bilden eher die Autoritäten des Volkes das entscheidende Gegenüber. Ist die angesprochene Differenzierung im Gebrauch von akoluthein gut nachvollziehbar, so ist andererseits zu fragen, ob Matthäus durch den vermehrten Gebrauch von akoluthein mit Bezug auf die Volksmengen ebendiese assoziativ nicht näher an die Jüngerschaft/Gemeinde heranrückt, als C. konzediert. Und daran schließt sich die Frage an, inwiefern in der im Grundsatz positiven Zeichnung der galiläischen Volksmengen ekklesiologischen bzw. missionstheologischen Aspekten ein größeres Gewicht beizumessen ist, als dies bei C. erscheint.