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Ausgabe:

November/2003

Spalte:

1150–1152

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Schüle, Andreas

Titel/Untertitel:

Israels Sohn - Jahwes Prophet. Ein Versuch zum Verhältnis von kanonischer Theologie und Religionsgeschichte anhand der Bileam-Perikope (Num 22-24).

Verlag:

Münster-Hamburg-Berlin-London: LIT 2001. 338 S. gr.8 = Altes Testament und Moderne, 17. Kart. Euro 30,90. ISBN 3-8258-5590-2.

Rezensent:

Markus Witte

Der in der alttestamentlichen und semitistischen Fachwelt durch seine grundlegende Arbeit Die Syntax der althebräischen Inschriften. Ein Beitrag zur historischen Grammatik des Hebräischen (AOAT 270, Neukirchen-Vluyn 2000) bekannt gewordene Vf. hat mit dem anzuzeigenden Werk ein sowohl aus exegetischer als auch aus systematisch-theologischer Perspektive höchst anregendes und vielfältiges Buch vorgelegt. So bietet der Vf. 1. eine umfassende philologische Analyse von Num 22-24 und der von ihm als älteste israelitische Bileam-Tradition angesprochenen Inschrift vom Tell Deir 'Alla, 2. eine forschungsgeschichtlich orientierte Diskussion einschlägiger literarkritischer Thesen zur Bileam-Perikope, 3. eine vor allem traditionsgeschichtlich angelegte Auslegung von Num 22-24 und 4. systematisch-theologische Abschnitte zur Genese und Bedeutung des hebräischen Kanons, zur israelitischen Religionsgeschichte, zum Phänomen des Monotheismus im Vorderen Orient sowie zum jüdischen Messianismus im Umkreis des Zweiten Tempels. Charakteristisch für die vorgelegte Arbeit ist die konsequente Berücksichtigung der Traditions-, Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte des auszulegenden biblischen Textes und das immer wieder geführte Gespräch zwischen historisch-kritischer Exegese, semiotischen Ansätzen, kulturanthropologischen Perspektiven und systematisch-theologischen Denkmodellen.

Dabei vertritt der Vf. im Blick auf Num 22-24 eine ebenso originelle wie zu kritischer Diskussion einladende These: In der literarisch einheitlichen Bileam-Erzählung in Num 22-24 spiegele sich ein innerisraelitischer Kommunikationsprozess zwischen der Gola und den nach der Katastrophe von 587 v. Chr. im Lande verbliebenen Judäern wider. Der israelitische Prophet Bileam stehe für das alte Juda, während das unmittelbar vor dem Einzug in das Westjordanland befindliche und von dem Seher in seinem gesegneten Zustand gepriesene Volk des Exodus das neue aus Babylon heimkehrende Israel symbolisiere. Traditionsgeschichtlich hänge Num 22-24 von der Inschrift vom Tell Deir 'Alla ab und sei seinerseits die Vorlage für alle weiteren Bileam-Texte im Alten Testament. Literaturgeschichtlich gehöre Num 22-24 in die Spätphase des Pentateuchs und habe seinen historischen Ort im Vorfeld der Formierung der Tora, die der Vf. in (allerdings unkritischem) Anschluss an die These einer persischen Reichsautorisation (vgl. 109 ff.) in die Zeit Esras und Nehemias verlegt. Auf Grund der Tendenz, deuteronomistische und priesterschriftliche Theologumena zu verknüpfen und in der Fluchtlinie deuterojesajanischer Texte ein Bild des neuen Israel in der Spannung zwischen realisierter und futurischer Eschatologie zu skizzieren, versteht der Vf. die Bileam-Erzählung als einen der zentralen "kanonisierenden Texte" des Alten Testamentes, d. h. als einen Text, der auf dem Weg zur Herausbildung des Kanons der hebräischen Bibel bereits präkanonische, in ihrer theologischen Konzeption aber divergierende Traditionstexte aktualisierend, exegesierend und vermittelnd fortschreibe und so deren Aufnahme in einen dialogisch strukturierten, vielstimmigen Kanon ermögliche.

Das ausführlich begründete Interpretationsmodell des Vf.s, biblische Texte als Ergebnis religionsinterner Kommunikationsprozesse zu verstehen (vgl. dazu pointiert: "Was bei Deuterojesaja als theologischer Diskurs durchgeführt wird, erscheint in Num 22-24 in narrativer Form", 194), vermag grundsätzlich zu überzeugen. Dennoch erheben sich an einigen Punkten seiner Analyse Fragen.

Die im Rahmen der eigentlichen Exegese der Bileam-Perikope (Kap. 2) vertretene literarische Einheitlichkeit wird eher postuliert als detailliert aufgewiesen. So entkräften die Hinweise auf bestimmte Stilelemente und auf die philologische Kohärenz von Num 22-24 kaum die Argumente, die in der bisherigen Forschung für die Annahme literarischer Mehrschichtigkeit geltend gemacht wurden, auch wenn diese nicht im Sinne einer Quellenhypothese, sondern eines Fortschreibungsmodells zu erklären ist.

Zentral für die Auslegung von Num 2-24 als Thematisierung eines religionsinternen Konflikts des nachexilischen Israel ist - wie sich bereits aus dem Titel des Buches ergibt - das Verständnis Bileams als eines wahren Israeliten und verlässlichen Jahwepropheten. Dies schließt der Vf. zum einen aus der Herkunft Bileams aus Aram (Num 23,7), die er vor allem mit der aramäischen Herkunft der Erzväter und mit Dtn 26,5-10 korreliert, und aus der historisch und philologisch begründeten Verortung der Deir-'Alla-Inschrift im direkten Einflussbereich Israels, zum anderen aus einem Vergleich mit dem in der Bileam-Perikope erkennbaren Monotheismus (vgl. Kap. 6) und mit dem Prophetenbild, das im Schatten des Deuteronomismus, Deuterojesajas und der in Jer 23, Dtn 18 und Mi 3 fixierten Kriterien wahrer Jahweprophetie stehe (vgl. Kap. 7). Das Phänomen, dass Bileam außerhalb von Num 22-24 - mit Ausnahme von Mi 6,5 - sowohl im Alten Testament als auch in der frühesten außerbiblischen Rezeption bei Josephus und bei Philo durchgehend als eine negative Größe verstanden wird, muss der Vf. dann zwangsläufig als ein - in gewisser Weise tragisch zu nennendes - "Ergebnis der innerisraelitischen Traditionsentwicklung" interpretieren (74 f.). Es fragt sich aber zunächst, ob die Verortung Bileams im Umkreis der Vorfahren bzw. Verwandten "Israels" tatsächlich so gesichert ist. Die vom Vf. vorgetragene Alternative, petôrâ (Pethor) in Num 22,5 nicht, wie zumeist üblich, mit dem assyrischen Ort Pitru zu identifizieren, sondern als sprechenden Namen für "Land der Zeichendeuter" (vgl. pâtar, "deuten") zu verstehen (25 u. 143 ff.), halte ich noch für bedenkenswert. Hingegen erscheint mir die Identifikation des in Num 22,5 und 24,14a genannten Volkes mit "Israel" im ersten Fall aus textgeschichtlichen, im zweiten aus literargeschichtlichen Gründen zweifelhaft. Sodann dürften die Abhängigkeits- und Rezeptionsverhältnisse zwischen Num 22-24 einerseits und den anderen Bileam-Texten des Alten Testamentes andererseits nicht so einlinig sein, wie es der Vf. vorträgt, der Mi 6,5, Neh 13,1 f., Dtn 23,4 f.6ab.6b, Num 31,8.16, Dtn 23,6aa und Jos 24,9 f. (und zwar in dieser literargeschichtlichen Folge, vgl. 92 ff.) insgesamt von Num 22-24 abhängig sein lässt.

Überzeugender ist die Interpretation der in den Bileam-Sprüchen als gesegnet angesehenen Größe Israel-Jakob vor dem Hintergrund des deuterojesajanischen Jakob-Verständnisses (was der Vf. mit dem nicht ganz glücklichen Begriff "das jakobinische Israel" versieht, vgl. 156 ff.) und die Einschreibung der in meinen Augen zutreffend eschatologisch verstandenen Bileam-Sprüche in Num 24,3 ff.15 ff. in den nachexilischen Messianismus (vgl. Kap. 8). Der Erhebung der als Zielpunkt der Bileam-Perikope angesehenen vielschichtigen messianischen Hoffnung, wie sie sich vor allem im Symbol des "Sterns aus Jakob" (Num 24,17) niedergeschlagen habe, ist der Schluss des Buches gewidmet, in dem der Vf. nochmals engagiert sein Konzept einer Verknüpfung religionsgeschichtlicher Analysen, theologischer Erwägungen und hermeneutischer Überlegungen vorführt. Auch hier bleiben kritische Rückfragen, z. B. im Blick auf die religionsgeschichtliche Parallelisierung von Num 24,8 und 24,17 mit Hag 2,23, Sach 3,8 und 6,12. Dennoch bieten gerade die grundsätzlichen Überlegungen zu Deutungsvarianten von Messianismus im Verbund mit den Ausblicken auf die Hermeneutik F. D. E. Schleiermachers und die Philosophie A. N. Whiteheads zahlreiche Kontaktstellen zur intensiven Diskussion zwischen Exegese und Systematischer Theologie.