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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

911 f

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Benad, Matthias [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Friedrich von Bodelschwingh d. J. und die Betheler Anstalten. Frömmigkeit und Weltgestaltung.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 1997. 304 S. gr.8. DM 49,80. ISBN 3-17-014980-6.

Rezensent:

Reinhard van Spankeren

Die ostwestfälische Großstadt Bielefeld ist bekannt durch einen mäßig erfolgreichen Fußballverein und einen Nahrungsmittelkonzern, dessen Backpulver und Kochbücher in keinem deutschen Haushalt fehlen dürften. Kirchlich bietet "Bethel bei Bielefeld Barmherzigkeit bei baldiger Barzahlung", wie der Volksmund zu berichten weiß, was ganz wesentlich auf die Initiative "Vater" Bodelschwinghs in der zweiten Hälfte des 19. Jh.s zurückgeht. Friedrich von Bodelschwingh d. Ä. war nun aber nicht, wie viele meinen, der erste, sondern der zweite Leiter der später nach ihm benannten von Bodelschwinghschen Anstalten und tatsächlich so etwas wie der eigentliche Gründervater der bis heute weltweit größten diakonischen "Komplexanstalt" (J. Degen). Seinem Sohn Friedrich von Bodelschwingh d. J., genannt "Pastor Fritz", vererbte er gewissermaßen die von ihm geschaffenen Anstalten und die damit verbundenen Arbeitsfelder - dementsprechend wird dieser in der älteren, hagiographisch gestimmten Literatur als "Nachfolger und Gestalter" tituliert. Zweifellos folgte der Sohn dem Vater nicht nur in der Funktion, sondern auch theologisch und mental, kirchenpolitisch und in manch anderer Hinsicht; allein schon die Daten seiner Amtszeit als Anstaltsleiter (1910 bis zu seinem Tod 1946) machen aber deutlich, daß Fritz von Bodelschwingh gezwungen war, in den Umbrüchen des 20. Jh.s ein eigenes Profil zu entwickeln - im Spannungsfeld von "Frömmigkeit und Weltgestaltung", wie es der Untertitel dieses von Matthias Benad herausgegebenen Sammelbandes treffend anspricht. Angesichts der herausragenden diakonischen und kirchlichen Bedeutung Bethels für die Gesellschaftsgeschichte des deutschen Protestantismus im 20. Jh. darf dieses aus acht größeren Aufsätzen und vierzehn Workshop-Beiträgen bestehende Buch höchste Aufmerksamkeit beanspruchen.

In seinem Einleitungsaufsatz porträtiert Matthias Benad in einem kritischen Durchgang durch die ältere Literatur "Frömmigkeit, Theologie und Amtsverständnis bei Friedrich von Bo-delschwingh". Anschließend stellt JochenChristoph Kaiser "Fritz von Bodelschwingh als Diakoniepolitiker" vor. Stefan Kühl beleuchtet "aus internationaler Perspektive" Eugenik und Ermordung geistig Behinderter und psychisch Kranker. Joachim Kuropka informiert über einen wichtigen katholischen Zeitgenossen Bodelschwinghs, den münsterischen Bischof Clemens August Graf von Galen, und Carsten Nicolaisen würdigt "Fritz von Bodelschwingh als Kirchenpolitiker". Fachliches und methodisches Neuland betritt Hans Walter Schmuhl in seiner präzise aus den Akten rekonstruierten Untersuchung "Fritz von Bodelschwingh, die Kirche und der medizinische Fortschritt". Der Autor zeigt, daß die Professionalisierungsgeschichte der (modern gesagt) personenbezogenen sozialen Dienstleistungen auch im kirchlichen Bereich äußerst konfliktträchtig war, längst nicht so harmonisch, wie es das biblische Bild vom Leib und den Gliedern suggeriert. Ähnlich wie Schmuhl hier das Verhältnis von Ärzten und Theologen beleuchtet, hat Michael Häusler das Verhältnis von Diakonen und Theologen analysiert; diese Fragestellung sollte diakonie- und kirchengeschichtlich weiterverfolgt werden.

Ein Arbeitsfeld, das ab den 1920er Jahren in Bethel immer wichtiger wurde, untersucht Hans Joachim Schwager in seiner Studie über "Friedrich von Bodelschwingh als Pädagoge", und der abschließende dieser größeren Aufsätze von Bernd Walter behandelt "Zwangssterilisation und Planwirtschaft im Anstaltswesen. Die Konfrontation der v. Bodelschwinghschen Anstalten in Bethel mit den rassenhygienischen Maßnahmen des NS-Regimes".

Die anschließenden Workshop-Beiträge, meist Kurzberichte über Dissertationsprojekte, bieten eine reichhaltige Fundgrube moderner Diakoniegeschichte in einer breiten Vielfalt von Zugriffen und Fragestellungen. Über Diakonie in der DDR läßt sich hier ebenso etwas erfahren wie über Diakone, Diakonenbräute und Diakonissen, über BethelFrömmigkeit und diakonische Theologie, über Kirchenbau und über Umbrüche der Jahre nach "1968". Besonders wertvoll sind einzelne Korrekturen des bisherigen Forschungsstandes. So kann etwa Christian Zechert in seiner empirischen Analyse von Krankenakten der psychiatrischen Frauenklinik Magdala nachweisen, daß sich Zeitzeugenaussagen zum Verhalten des Betheler Arztes Karsten Jaspersen aus den Akten nicht verifizieren lassen.

Den von Bodelschwinghschen Anstalten gebührt Anerkennung für ihre Förderung historischer Selbstaufklärung auf diesem hohen Niveau. Legendenbildung und Hausgeschichtsschreibung sind passé, was der Glaubwürdigkeit einer Institution, die auch "spendenbittende Öffentlichkeitsarbeit" (Werner M. Ruschke) betreiben muß, aber letztlich zugute kommen dürfte. Angesichts der prototypischen Bedeutung Bethels für die Geschichte des Protestantismus verdient der Studienband intensive Rezeption.