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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1100–1102

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Hölscher, Lucian [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland. Von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg. Hrsg. v. L. Hölscher unter Mitarbeit v. T. Bendikowski, C. Enders, M. Hoppe.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. Bd. 1: Norden. XVI, 750 S. 4. Bd. 2: Osten. XXXIV, 826 S. 4. Bd. 3: Süden. XXXIV, 724 S. 4. Bd. 4: Westen. XXIV, 726. 4. Lw. 4 Bde. im Schuber. Euro 348,00. ISBN 3-11-016905-3.

Rezensent:

Monika Wohlrab-Sahr

In ihrem "Datenatlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland" betreiben Lucian Hölscher und seine Forschergruppe eine ausgesprochen produktive Art der "Resteverwertung" angefallener Materialien (V): Sie erschließen erstmals systematisch - auf Kirchenkreisebene - die statistischen Erhebungen der protestantischen Landeskirchen Deutschlands zu den Äußerungen des kirchlichen Lebens. Die gesammelten Daten sind für die Jahre 1880 bis 1930 vollständig - für manche Gebiete begann die Erhebung bereits früher - und reichen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs. Der Atlas umfasst Statistiken zum Abendmahls- und zum Teil zum Kirchenbesuch, zu Taufen, Trauungen und Beerdigungen, zum Konfessionswechsel und zu den Kirchenwahlen.

Die Autoren verorten ihr Werk im Kontext einer "religiösen Geographie", wie sie in der ersten Hälfte des 20. Jh.s von Gabriel LeBras und Fernand Boulard entwickelt wurde. Sie verstehen darunter "die quantitative Verteilung religiöser Institutionen, Verhaltensweisen und Gesinnungen im politisch-sozialen Raum", ausgehend von der Annahme, "dass räumliche Verhältnisse das religiöse Verhalten sozialer Gruppen wesentlich mitbestimmen" (1). Demnach käme dem Gesichtspunkt der räumlichen Distanz bei religionsgeschichtlichen Untersuchungen besondere Relevanz zu.

Mentalitätsgeschichtliche Untersuchungen wollen die Autoren mit ihrem Material explizit nicht ersetzen, diesen aber eine solide quantitative Grundlage geben. Gerade die Interpretation von Teilnahme oder Nichtteilnahme an kirchlichen Riten bedarf weiterer Informationen etwa über kirchliche und "weltliche" Sanktionierungen, über den Rückhalt der Kirche in bestimmten sozialen Milieus, sowie über den Einfluss kirchenkritischer Bewegungen. Umgekehrt kann das Datenmaterial aber auch indirekte Hinweise auf entkirchlichte Milieus und deren Kontextbedingungen oder auch auf die Verbreitung von "Kirchlichkeit" als einer Form der "religiösen Mentalität" (4) geben.

Die Autoren selbst gehen bereits einen Schritt über die bloße Präsentation der Daten hinaus und interpretieren sie im Hinblick auf zentrale Tendenzen der religiösen Entwicklung in Deutschland. Diese sollen im Folgenden kurz präsentiert und mit einigen soziologischen Kommentaren versehen werden.

1. Obwohl Deutschland auf Grund der konfessionellen Patt-Situation einen strukturellen Sonderfall darstellt, kommt es seit Mitte des 18. Jh.s tendenziell zu einer Vermischung der Konfessionen auf engem Raum. Dies dokumentiert sich vor allem in den konfessionellen Mischzonen anhand von Mischehen und Konfessionswechseln. Der Vergleich dieser Gebiete zeigt, dass parallel zur konfessionellen Vermischung die Zahl der Mischehen zunimmt und sich - unabhängig von den verhängten Sanktionen - bei kirchlichen Trauungen diejenige Konfession durchsetzt, die in der entsprechenden Region in der Mehrheit ist. Das Gewicht sozialer Konformität scheint also insgesamt größer zu sein als das direkter Sanktionierung und gezielter ideologischer Beeinflussung.

2. Während Konfessionswechsel insgesamt vor allem in industriellen Ballungszentren auftreten, finden sie sich in den religiösen Mischzonen verstärkt auch auf dem Lande, und es profitieren von ihnen insbesondere religiöse oder weltanschauliche Gemeinschaften außerhalb der Landeskirchen (14). Insgesamt lässt die konfessionelle Adhäsionskraft in religiösen Mischgebieten schneller nach als in rein konfessionellen Gebieten. Auch dies lässt sich soziologisch als ein Indiz für die Bedeutung sozialer Konformität und deren Aufweichung durch Prozesse religiöser Pluralisierung deuten.

3. Die meisten Indikatoren zum evangelisch-kirchlichen Leben in Deutschland verweisen auf einen Rückgang der Kirchlichkeit, für den bereits die Zeit der Aufklärung eine entscheidende Zäsur darstellte, der sich aber auch im 19. Jh. nahezu unvermindert fortsetzt.

4. Not- und Kriegszeiten wirken - wider Erwarten - auf den Prozess der Entkirchlichung zum Teil sogar beschleunigend. So kommt es vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, nach einem kurzen sprunghaften Anstieg der Abendmahlsbeteiligung unmittelbar zu Beginn des Krieges, zu einem massiven Rückgang der Teilnahme an kirchlichen Riten. Ein ähnliches Muster zeigt sich während des Zweiten Weltkrieges: Nach einer verstärkten Hinwendung zur protestantischen Kirche in Form von Kircheneintritten, Taufen, Trauungen und Abendmahlsbeteiligungen im Jahr 1933 kommt es in der zweiten Hälfte der 30er Jahre zu einem starken Rückgang der Kirchlichkeit. Dieser Zusammenhang bedarf dringend weiterer historischer und soziologischer Aufschlüsselung. Vor allem angesichts der Zahlen zum Ersten Weltkrieg entsteht der Eindruck, dass das Kriegsgeschehen selbst - nach einer anfänglichen religiösen Sammlung - säkularisierend wirkt. Eine Interpretation im Sinne einer Theodizee-Problematik, wie sie in der Religionssoziologie seit ihrer prominenten Behandlung etwa bei Peter L. Berger1 weitgehend aus der Mode gekommen ist, drängt sich hier auf.

5. Gegenläufig zum allgemeinen Muster des Niedergangs setzt sich die kirchliche Beerdigung, die zu Beginn des Erhebungszeitraums teilweise nur bei 50 % liegt, auf breiter Ebene durch, so dass sie (unter den Evangelischen) zu Beginn des Ersten Weltkrieges fast überall zu annähernd 100 % praktiziert wurde. Im Hinblick auf den Tod - so die Autoren - habe die Kirche langfristig eine Deutungskompetenz gewonnen, die sie in anderen Bereichen schon längst verloren hatte (17).

6. Während die Städte im 16. und 17. Jh. oft noch Zentren des religiösen Lebens waren, beginnt dort in der zweiten Hälfte des 18. Jh.s ein rapider Verfall der Kirchlichkeit, mit einem Tiefpunkt Mitte des 19. Jh.s. Seitdem nähern sich die ländlichen Gegenden in dieser Hinsicht den Städten zunehmend an. Damit verbindet sich nach Ansicht der Autoren auch ein qualitativer Wandel: Gottesdienstbesuch und Teilnahme am Abendmahl, die bereits im 18. Jh. vom Zwang zur lediglich informell sanktionierten Sitte geworden seien, würden zunehmend zu einem individuellen Bekenntnisakt, während sich die Beerdigung zunehmend zur sozialen Sitte entwickelt habe.

7. Die protestantische Kirchlichkeit weist ein massives regionales Gefälle auf, wobei insbesondere die bevölkerungsarmen Regionen, aber auch diejenigen mit einer hohen Dichte an Kirchen und Pfarrstellen in einem mittleren Nord-Süd-Gürtel eine deutlich höhere Beteiligung am kirchlichen Leben aufweisen als die westlichen und östlichen "Ränder". Eine offene Frage dabei ist, welche Rolle hier dem jeweils regionalen Typus von kirchlicher Kultur und Sitte zukommt.

8. Im Hinblick auf die Abendmahlsbeteiligung lässt sich bereits im Jahr 1910, wenn man etwa Hessen (Hessen-Kassel 78,8 %; Waldeck-Pyrmont 69,7 %) und Thüringen (29,8 %) vergleicht, die spätere deutsche Teilungsgrenze erkennen. Dies spricht dafür, dass im Osten Deutschlands nicht erst das sozialistische Regime das kirchliche Leben ausgehöhlt hat, sondern bereits eine ältere Unkirchlichkeit der Rezeption sozialistischer, aber auch nationalsozialistischer Überzeugungen den Boden bereitet hat (7).

9. Differenziert zu beurteilen ist die Rolle der Kirchlichkeit in den protestantischen Diaspora-Regionen. Entgegen einem verbreiteten Vorurteil ist die Kirchlichkeit nur in denjenigen Diaspora-Regionen höher, in denen die protestantischen Gemeinden schon seit Jahrhunderten fest verankert sind. Dort, wo sie erst Ende des 18. Jh.s Fuß fassen konnten, unterscheiden sie sich nicht vom konfessionellen Kernland. Dies ließe sich als Relativierung der These amerikanischer Religionssoziologen interpretieren, der zufolge religiöse Pluralisierung sich positiv auf die kirchliche Beteiligung auswirkt.2 Generell liegen mit dem Atlas nun Daten vor, die eine Grundlage für eine differenzierte Auseinandersetzung mit dieser These liefern könnten.

Dem Konzept der religiösen Geographie, wie es die Autoren verwenden, liegt die Annahme zugrunde, dass religiöse Gesinnung vor allem über ihre rituellen Formen erfasst werden muss, also auf kollektive Manifestationen angewiesen ist. Soziologisch kundige Leser und Leserinnen fühlen sich hier vermutlich an die Auseinandersetzung Anfang der 60er Jahre erinnert, in der Thomas Luckmann3 vehement gegen eine vor allem an Organisationsinteressen orientierte, auf die Zählung kirchlicher Beteiligung abstellende und insgesamt eher theorieferne Kirchensoziologie zu Felde zog. Der Datenatlas scheint auf den ersten Blick vor allem für eine solche "Kirchensoziologie" anschließbar. Die Interpretationen, die die Autoren anstellen und die Forschungsperspektiven, die sie aufzeigen, zeigen aber, dass dieses Material gerade für eine theoretisch inspirierte Religionssoziologie, die an Fragen der Stabilisierung und Auflösung sozialer Milieus, an Prozessen sozialen und kulturellen Wandels und an den Mechanismen, die Konformität und Abweichung hervorbringen, interessiert ist, von großem Nutzen sein könnte. Welche Rolle letztlich dem Konzept räumlicher Distanz gegenüber diesen soziologischen Konzepten zukommt, wäre gemeinsam mit Historikern zu diskutieren. Viele der Schätze, die sich in den Statistiken des Datenatlasses verbergen, müssen erst noch gehoben werden. Schade nur, dass nicht auch eine derartige Sammlung für das "katholische Deutschland" vorliegt.

Fussnoten:

1) Berger, Peter L.: Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1988.

2) S. z. B. Stark, Rodney/Iannaccone, Laurence R.: A Supply-Side Reinterpretation of the "Secularization" of Europe, in: Journal for the Scientific Study of Religion 33/1994, 230-252.

3) Luckmann, Thomas: Neuere Schriften zur Religionssoziologie, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 12/1960, 315- 326.