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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1098–1100

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Gehring, Hans-Ulrich

Titel/Untertitel:

Seelsorge in der Mediengesellschaft. Theologische Aspekte medialer Praxis.

Verlag:

Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag 2002. XI, 360 S. 8. Kart. Euro 39,90. ISBN 3-7887-1904-4.

Rezensent:

Christian Grethlein

Die von Albrecht Grözinger begleitete Baseler praktisch-theologische Habilitationsschrift entfaltet und begründet die These: "Seelsorgerliches Handeln bedarf gegenwärtig und künftig verstärkt einer medialen Kompetenz, die in theologischer Theoriebildung zu reflektieren und in pastoraler Praxis aus- und einzuüben oder allererst zu entwickeln wäre." (3) Dies erfolgt in drei großen Teilen: "Kasuelle Praxis - Lebenskunst der Übergänge" (7-76), "Mediale Praxis - Agenturen der Vermittlung" (77- 204), "Seelsorge als mediale Praxis - Elemente einer poimenischen Medienkunde" (205-346).

Der erste Teil charakterisiert nach Referat und Auswertung der einschlägigen soziologischen, philosophischen und poimenischen Beiträge zur reflexiven Pluralisierung der Lebensverhältnisse unter dem Stichwort der "Transversalität" die Grundanforderung an heutige Seelsorge. Von daher erscheinen glei- chermaßen die Fähigkeit zur "Differenz-Erfahrung" (Grözinger) wie zur "Kohärenzarbeit" (Pohl-Patalong) konstitutiv für eine Seelsorge, die sich als "die Kultivierung einer Lebenskunst der Übergänge" (45) versteht. Inhaltlich konturieren zehn "Grundspannungen" (47 f.) dieses Seelsorge-Konzept, die dann im zweiten Teil immer wieder kriteriologisch aufgenommen werden. Es folgt eine knappe Ausführung des bisher Entwickelten auf Konzepte der Kasualpraxis hin. Hier kommt dann das Medien-Thema in den Blick. Ihm geht der Vf. im 2. Teil nach.

Angesichts der nach wie vor zu konstatierenden weitgehenden Ausblendung der Medien-Thematik in konzeptionellen Arbeiten der Praktischen Theologie, und eben auch der Seelsorge-Lehre, kommt dem Teil "Mediale Praxis - Agenturen der Vermittlung" besondere Aufmerksamkeit zu. In zwei jeweils wieder in sich zweifach untergliederten Anläufen zu "Mediengeschichte" und "Medienreligion" breitet der Vf. hier zu berücksichtigende Beiträge vor allem aus den Medienwissenschaften aus. Entgegen einer Beschränkung des Medienverständnisses auf die Massenmedien bzw. bestimmte technische Konfigurationen wird breiter und zugleich für die Seelsorge-Thematik spezifischer angesetzt: "Medien sind jene Vermittlungsformen, in denen und durch die seelsorgerlich relevante Kommunikation geschehen kann" (82; sprachlich unschön und auch sachlich problematisch ist allerdings die das ganze Buch durchziehende Rede von "medial vermittelt" u. ä.). Von da aus sind in der "Mediengeschichte" nicht nur von Epikur bis McLuhan die gängigen Medien-Theorien im Blick, sondern auch von der Telefonseelsorge bis zur Talk-Show im Fernsehen verschiedene Kommunikations-Formen. Die Orientierung an der "Lebenskunst der Übergänge" enthält - wie wiederholt gezeigt wird - durchaus kritisches Potential gegen heutige Praxis. Unter "Medienreligion" wird die diesbezügliche theologische Diskussion kurz skizziert, wobei die Entwürfe von Günter Thomas und Wolfgang Nethöfel ausführlich dargestellt und diskutiert werden. Von Letzterem übernimmt der Vf. die Bestimmung von (Jesus) Christus als "Urmedium" (201 ff.), das den Ausgangspunkt für den dritten Teil bildet. Dabei ist ihm bewusst: "Ein solcher material-theologischer Zugang zur Medienfrage ist waghalsig." (203)

Normativer Einsatz im dritten Teil ist - mit dem Vorangehenden unvermittelt - die Annahme, dass von "Christus als ... Urmedium" her für die seelsorgerliche Kommunikation "Strukturen erkennbar, Formprinzipien und Kriterien zu gewinnen sind" (203). Diesem "Urmedium" werden im Weiteren ein "Ursymbol", das Kreuz, eine "Urszene", Joh 19,23-30, und eine "Urgeste", der Segen, an die Seite gestellt. Leider beginnt hier die Klarheit der Ausführungen in überbordernden Metaphern unterzugehen. Die Kriterien medialer Seelsorgepraxis, "Konsum", "Symbol", "Personalität" und "Gesicht" werden in für den Rez. nicht durchschaubarer Weise aus der "Urszene", dogmatischen Lehrbildungen und einzelnen neuen Theoriebildungen hergeleitet und dann an einer Vielzahl poimenischer Arbeiten - ich zähle auf gut dreißig Seiten 13 referierte und kritisierte Ansätze - erprobt. Vor allem bleiben in diesem Teil empirische Befunde zur Rezeption medialer Kommunikation unberücksichtigt. Erst nach dem folgenden, "Miniaturen medialer Seelsorgepraxis" überschriebenen Abschnitt mit einer weiteren Vielzahl kurz vorgestellter Literatur führt dann der abschließende Abschnitt zum "Seg[n]en: Mediale Praxis in den Übergängen des Lebens" zu einer nachvollziehbaren Konzentration.

Insgesamt stellt das Buch eher eine Problembeschreibung als schon eine Lösung dar. Die Vielzahl der referierten und bedachten Literatur aus Medienwissenschaften, Psychologie, Theologie und speziell Poimenik markiert den Rahmen, innerhalb dessen heute Seelsorge bedacht werden muss. Die Vermittlung zwischen situationsanalytischem Befund und theologischen Einsichten ist aber tatsächlich "waghalsig". Die Metaphorik bei der theologischen Kriterienbildung lässt nur noch eine assoziative, keine argumentative Vermittlung mit den heutigen Problemstellungen zu. Manches, wie die Betonung der Bedeutung von "Kopräsenz" scheint einleuchtend, müsste aber noch einmal hinsichtlich des tatsächlichen Umgangs von Menschen mit neuen Medien überprüft werden. Allein die Aufgabe liegt jetzt klar vor Augen - und dies ist zweifellos ein nicht gering zu schätzendes Verdienst der Arbeit: die Gewinnung von theologischen Kriterien für die Beurteilung und Gestaltung von Seelsorge unter den Bedingungen der Mediengesellschaft. Die hier versuchte einseitige christologische Herleitung greift offensichtlich zu kurz, nicht zuletzt wegen des "garstigen Grabens" und der recht differenzierten Mediennutzung vieler Individuen. Könnte die Wirkung des Christusgeschehens, wie sie explizit in jedem Gottesdienst gefeiert wird und so auch empirischer Analyse zugänglich ist, nicht besser den Begründungszusammenhang für die Kriteriengewinnung abgeben?