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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1096–1098

Kategorie:

Praktische Theologie

Autor/Hrsg.:

Fechtner, Kristian

Titel/Untertitel:

Schwellenzeit. Erkundungen zur kulturellen und gottesdienstlichen Praxis des Jahreswechsels.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus 2001. 278 S. m. 35 Abb. 8 = Praktische Theologie und Kultur, 5. Kart. Euro 29,95. ISBN 3-579-03484-7.

Rezensent:

Thomas Klie

Wer im Hinblick auf den Gesamtzuschnitt der Praktischen Theologie ein vergleichsweise randständiges Thema zum Gegenstand einer großen wissenschaftlichen Arbeit macht, ist gleich in doppelter Weise legitimationspflichtig. Es muss nicht nur der enge thematische Rahmen begründet werden, sondern ebenso die fachspezifische Relevanz der behandelten "Marginalie". In seiner Marburger Habilitationsschrift argumentiert Fechtner diesbezüglich zum einen mit der exemplarischen Dichte zivil- bzw. familienreligiöser und liturgischer "Legierungen" zum Jahreswechsel. Und zum anderen geht es ihm um den Kasus-Charakter des gottesdienstlichen Geschehens an Silvester bzw. am Neujahrstag im Kontext der "lebensweltlich gültigen Festagende". Die Anordnung der für diese kontextuelle Liturgik wichtigen Bezugsgrößen geschieht in Gestalt einer praktisch-theologischen "Schwellenkunde" (W. Benjamin). Der besondere Reiz dieser Herangehensweise besteht vor allem in der Verschränkung von kasualtheologischen und kulturhermeneutischen Überlegungen. Die Ausgangsthese: "Der Jahreswechsel-Gottesdienst ist als ein jahreszyklischer Kasualgottesdienst in lebensgeschichtlicher Perspektive zu verstehen" (31).

Zur Validierung dieser These zieht der Autor vier argumentative Linien aus. Nach den einleitenden Bemerkungen zur Exemplarik des Themas und zum leitmotivischen Gebrauch des "Schwellen"-Begriffs (I; 13 ff.) wird die Jahreswende eingezeichnet in eine praktisch-theologische Perspektive (II; 23 ff.), eine kulturhermeneutische (III; 38 ff.) sowie eine gottesdienstliche Sichtweise (IV; 112 ff.). Die Pointe der Arbeit liegt in Abschnitt V (160 ff.), wo F. Gottesdienstverläufe und Predigten einer empirischen Analyse unterzieht. Das (leider mit 6 Seiten recht knappe) Fazit (VI; 229 ff.) gilt den Konvergenzen zwischen der kasualtheologischen und kulturhermeneutischen Perspektive. Kulturtheorie und Theologie werden hier nicht - etwa im Sinne einer bloßen Affirmation des Bestehenden - unkritisch identifiziert, noch werden beide Sinnsichten dialektisch-theologisch gegeneinander ausgespielt. Die Multiperspektivität dient dazu, die "Schnittstellen zwischen dem kirchlichen Geschehen und der kulturell-lebensweltlichen Situation genauer zu bestimmen und zu interpretieren" (161).

F.s praktisch-theologische Bewertung des überindividuellen "Kasus" Jahreswechsel als eines Ausdrucks "integraler Festtagspraxis" (Cornehl) spiegelt den derzeitigen disziplinären Common sense. Die Zeit zwischen den Jahren rückt in der religiösen Wahrnehmung des spätmodernen Subjekts ganz nah an andere biographisch bedeutsame Kasualien und Feste. Kasual- wie Festzyklus sind heute primär familienreligiös grundiert; sie bilden einen "eigenständigen Typus liturgischer Praxis": Die kirchlichen Handlungen aus Anlass der Jahreswende unterliegen darum nur noch sehr bedingt einer "liturgischen oder homiletischen Binnenlogik". Im Protestantismus ist das "Kasuelle" der Jahreswendegottesdienste seit je "ein bestimmender Wesenszug seiner liturgischen Praxis" (133). Ihren wahrnehmbaren Bedeutungsüberschuss beziehen sie aus ihrem kulturellen und lebenszyklischen Kontext; sie haben sich im Laufe der Zeit "eingebürgert". Und dieser Kontext - so F. - zeichnet sich aus durch die individuelle Teilhabe und durch seinen Charakter als sog. "kulturelle Institution" (41 ff.).

"Kultur" wird mit Geertz als ein semiotisches "Gewebe" von ineinandergreifenden Systemen auslegbarer Zeichen bestimmt. Die (kurze) methodologische Besinnung auf die Geertz'sche "dichte Beschreibung" (44 ff.) erweist sich für den Gang der Untersuchung als produktiv und sinnvoll, zumal die wenigsten der sich selbst als "phänomenologisch" verstehenden Untersuchungen zur kirchlichen Praxis Rechenschaft geben über ihre Analyseinstrumente. Husserls Forderung nach größtmöglicher methodischer Strenge im Hinblick auf das Verständnis der "Sachen selbst" wird praktisch-theologisch oft leider nur in kleiner Münze zurückgezahlt. "Dicht" beschreibt F. vor allem eine Folge der TV-Serie "Lindenstraße" (51 ff.). Er rahmt seine kundige Darstellung durch die Exegese weiterer Texturen aus der medialen Gegenwartskultur, wie z. B. von Jahreshoroskopen aus der Boulevard-Presse (91 ff.), der Neujahrsansprache des Bundeskanzlers (96 ff.) sowie diverser Jahresrückblicke (105 ff.). Das Sample zeigt, dass F. mit einem deutlichen "Sinn fürs vermeintlich Triviale" (233) Gegenwartskultur als Popkultur apostrophiert.

Der Sinn dieser hermeneutischen Miszellen liegt vor allem darin, die in den nachfolgenden homiletischen und liturgischen "Grundlinien" reflektierten Gottesdienste als in eine bereits gedeutete Wirklichkeit eingelagerte Deutungsvollzüge zu charakterisieren. Die Gottesfeiern zwischen den Jahren stellen - so die These - gewissermaßen "Über-Interpretationen" dar; sie sind liturgisch inszenierte Deutungen von lebensweltlich längst codierten Deutungen. Diese These leuchtet ein, doch es bleibt zu fragen, ob diese Bestimmung nicht analog für grundsätzlich alle kasuellen und agendarischen Anlässe zutrifft. Die Inszenierung von Deutungskonflikten ist doch eher typisch für eine Gesellschaft der generalisierten Kommunikation.

Die empirische Untersuchung, der 245 Predigten und "liturgische Materialien" aus 89 Gottesdiensten zu Grunde liegen (Jahreswende 1996/97; hessen-nassauische Landeskirche), belegt die sinkende Bedeutung des Neujahrsgottesdienstes und eine im Gegenzug ansteigende Bedeutung der Feier am Altjahresabend. Dies führt F. u. a. auf die Herausbildung ganz eigener Ausdrucksformen zurück (symbolische Gestaltungen des Übergangs; Verlesung von Kasualien; Beichte/Abendmahl; Liedgut). Die homiletische Erhebung zielt nicht auf eine umfassende Bestandsaufnahme, sondern sie fokussiert wiederum auf den Kasus, d. h. auf die Merkmale einer "situationsauslegenden Homiletik" (Daiber). Das unter dieser Fragestellung wenig überraschende Ergebnis: Das Gros der eingesandten Manuskripte "bewegt sich im Horizont des Jahreswechsels, gewinnt Themen, Gestaltungselemente, Plausibilität und Sinn in ihm und an ihm" (202).

F. zeichnet seinen Gegenstand in überzeugender Weise ein in den derzeit wahrnehmbaren Kasualisierungsprozess, der sowohl das Teilnahmeverhalten wie auch die Inszenierungsüblichkeiten umfasst: "Vom Gottesdienst als Konvention zum Gottesdienst als Veranstaltung" (230). F. stimmt diesbezüglich kein kulturkritisches Lamento an, gilt doch sein Interesse weniger den normativen Aspekten einer "okkasionellen" Liturgik und Homiletik als vielmehr der "sozio-kulturellen Realität gelebter Religion" (232). F. gelingt es, trotz der Fülle der dargebotenen Theoriezugriffe (Semiotik: Geertz; Ritologie: van Gennep, Turner; Phänomenologie: Cassirer, Waldenfels; Soziologie: Berger, Luckmann) eine klare Gedankenführung beizubehalten. Der Erkenntnisgewinn des jeweiligen Kapitels wird präzise benannt und für das jeweils folgende Kapitel fruchtbar gemacht. Das hält die "Schwellenzeit" in allen Passagen gut lesbar und verständlich. Auch der eilige und der praktisch-theologisch weniger ambitionierte Leser kommen hier zu ihrem Recht.