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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1094–1096

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Schürger, Wolfgang

Titel/Untertitel:

Wirklichkeit Gottes und Wirklichkeit der Welt. Theologie im Konflikt der Interpretationen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. 363 S. gr.8 = Forum Systematik, 12. Kart. Euro 36,90. ISBN 3-17-017113-5.

Rezensent:

Doris Hiller

Theologie als Suchbewegung, Theologie unter dem Vorzeichen der Postmoderne, Theologie als offenes System, Theologie im bleibenden Widerstreit, im Konflikt der Interpretationen - in diesem Definitionsrahmen bewegt sich die an der Augustana-Hochschule Neuendettelsau angenommene, von Joachim Track betreute Habilitationsschrift von Wolfgang Schürger.

Ausgang und Ziel der Arbeit ist eine kontextuelle Theologie, die gegen alle Einheitsvorstellungen und Abstraktionen nach Verkettungen der brüchigen Wirklichkeitserfahrungen mit der biblischen Tradition fragt, um den Lebens- und Glaubensmöglichkeiten in ihrer perspektivischen Differenziertheit gerecht zu werden.

Eine erste Hinführung, zugleich Kapitel 1 der Arbeit, beleuchtet das Verständnis von "Erfahrung" und "Kontext" in der gegenwärtigen theologischen Diskussion. Die theologische Basis dieser Begriffsverbindung bilden die vom Vf. so genannten emanzipatorischen Theologien (Befreiungstheologie, feministische Theologie, schwule Theologie). Zwar signalisieren diese Theologien in ihrem Erfahrungsbezug das Offenhalten des Widerstreits. Auf Grund ihrer jeweiligen Kontextualität entbehren sie aber nicht einer gewissen partikularen Singularität. Dagegen allerdings scheint die traditionelle Theologie, zu der der Vf. überwiegend die deutschsprachige, protestantische Theologie des 20. Jh.s rechnet, den Weg in die Partikularität nur zögerlich einzuschlagen. Dieser würde, so der Vf., letztlich die völlige Aufgabe einer ohnehin fraglich gewordenen Universalität erfordern. In diesen traditionellen Ansätzen (Barth, Pannenberg, Tillich u. a.) zeigen sich schon auf Grund ihrer Vielfalt Ansatzmöglichkeiten für eine Wahrnehmung der Kontextualität, die, verbunden mit dem Denken der Postmoderne, die "Entwicklung ... eines neuen, kontextbezogenen theologischen Denkens" (88) vorzeichnen.

Eine zweite Hinführung erschließt als Kapitel 2 der Arbeit Definitionsansätze der Postmoderne im Horizont des Dekonstruktivismus (vor allem Vattimo, Lyotard, Derrida). Hier wird die Überwindung der Metaphysik angezeigt, die in der Proklamation der Nähe Gottes mündet, die wiederum zur Wahrnehmung der Differenzen in Gott führt. Theologie ist angesichts der uneinheitlichen Vielfältigkeit der Glaubenszeugnisse aufgefordert, "in neuer Weise über die Unverfügbarkeit Gottes nachzudenken" (146).

Das postmoderne Denken mit seiner Überwindung der großen Erzählungen ist in der US-amerikanischen Theologie rezipiert worden, wie der Vf. mit dem ersten Teil seines dritten Kapitels aufzeigt. Der Sorge um die öffentliche Relevanz der Glaubensaussagen gilt dort das Bemühen, eine Vermittlung mit dem gegenwärtigen "worldview" zu ermöglichen. Eine wesentliche Frage der daraus resultierenden a/theology ist deshalb gerade: Wie nicht sprechen? (M. Taylor). Die hermeneutische Konsequenz ist dann das Aufgeben einer vereinheitlichenden Metaerzählung und die Wahrnehmung der Perspektive des je Anderen, womit insbesondere die Ethik zum notwendigen Teil der Theologie wird.

Ob allerdings der im zweiten Teil dieser auf das Verhältnis von Theologie und Postmoderne zielenden Analyse markierte Schrecken der Postmoderne (176) in der Theologie des alten Kontinents wirklich noch so gewaltig ist, dürfte z. B. angesichts der Bemühungen im Bereich der ästhetischen Theologie angefragt werden. Ebenso kann die europäische Whitehead-Rezeption schon auf Grund der Arbeiten von Michael Welker nicht mehr generell als unbedeutend bezeichnet werden (178).

Allerdings gelangt der Vf. durch die postmodernen Suchbewegungen hindurch am Ende dieses Abschnitts zu einer "tastenden Theologie" (198), die von der notwendigen Durchkreuzung der Meta-Erzählung ausgeht und das nicht mehr rückgängig zu machende Wissen um die Fragmentarität und Fragilität des Lebens und der Wirklichkeit zur grundlegenden Interpretationsaufgabe der Theologie werden lässt.

Dies lässt den Vf. in seinem vierten Kapitel zunächst noch einmal die unhintergehbaren Vorzeichen der Postmoderne resümieren (Sprachlichkeit, Erfahrung/en von Differenz, das referentielle In-der-Welt-Sein des "Es gibt"). Konsequenz aus dem postmodernen Ansatz ist für den Vf. ein "schwaches" Denken, das die Systematik einer Theologie im Konflikt der Interpretationen unter der eschatologischen Perspektive einer trinitarischen Gottesrede strukturiert. Dabei ist, so der Vf., die Vielfalt der Interpretationen gegen eine konstruierte Einheit der Wirklichkeit ins Gespräch zu bringen mit der bleibenden Bedeutung der biblischen, ebenso in ihrer Vielschichtigkeit und Kontextualität wahrzunehmenden Zeugnisse. Weil, wie der Vf. zeigt, im trinitarischen Denken der "Spalt" in Gott, seine Identität in der Nicht-Identität offengehalten wird, können von daher, insbesondere in der Verbindung mit einer kenotischen Christologie die Grundzüge einer postmodernen, emanzipatorischen Theologie aufgezeigt werden. Ausgehend von den innerbiblischen Verkettungen der Vorstellungen von Gott, dem Schöpfer, von Jesus Christus als lebenseröffnender Nähe Gottes und von Gottes Gegenwart in seinem Geist strebt der Vf. in der Wiederaufnahme der befreiungstheologischen Ansätze neue Verzweigungen der Gottesrede in den Kontext der Erfahrungsvielfalt an. Das Grundmuster aller Verkettung von Glaubensaussagen, Erfahrungen und Kontexten zeigt sich in der Eröffnung neuer Lebensmöglichkeiten im Horizont der Wahrnehmungsperspektiven der Nähe Gottes. Darin mündet zuletzt "die Suche nach Formen lebensbezogener Spiritualität" (330) aus. Lob und Dank, Bitte und Fürbitte sind, so der Vf., Ausdrucksformen, die dennoch der bleibenden Differenz in Gott gerecht werden, dessen segnendes Handeln aber als wirkmächtige Zusage zugleich die Nähe zum Menschen garantiert.

"Als Suchprojekt weiß Theologie auch um die Möglichkeiten des Scheiterns ..." (327). Ob es sich wirklich um ein Scheitern der Verkettungen, ein Scheitern der Interpretationen handelt oder ob es sich um erfahrungsgeleitete und kontextuell bedingte Umwege handelt, die auf Grund der offen gehaltenen und theologisch offen zu haltenden Vielfältigkeit der trinitarischen Gottesrede zu einem nicht gerade postmodern oder emanzipatorisch reflektierten immerwährenden Neuanfang theologischen Denkens (Karl Barth) führen, kann wohl grundlegend diskutiert werden.

Die vielschichtigen und verzweigten Diskussionsaspekte, die der Vf. in jedem Kapitel seiner Arbeit beleuchtet und die Übernahme enigmatisch-avantgardistischer Begriffsbildungen (DifferÄnz, das Nicht-nicht-Nicht-Seiende, Gott) erschweren allerdings den reflexiven Zugang und damit die produktive Auseinandersetzung mit dem vorgelegten Ansatz. Formal auffällig sind eine gewisse Redundanz der Gedankenführung und einige Zitatwiederholungen.

Schließlich lässt die aus der Rede von der Unverfügbarkeit Gottes abgeleitete Annahme, es handle sich bei den "schwachen" Erzählungen von Gott nur um Abschattungen von Gott selbst, anfragen, ob nicht dann doch wieder ein als Regulativ gedachtes einheitliches Gottesbild im Hintergrund vermutet werden muss. Dies gerade will der Vf. aber mit einer Theologie aus postmoderner Perspektive auf "den Spuren der Nähe Gottes" (336) überwinden.