Recherche – Detailansicht

Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1092–1094

Kategorie:

Systematische Theologie: Allgemeines

Autor/Hrsg.:

Price, Daniel J.

Titel/Untertitel:

Karl Barth's Anthropology in Light of Modern Thought.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2002. V, 322 S. gr.8. Kart. US$ 34,00. ISBN 0-8028-4726-9.

Rezensent:

Anne-Kathrin Finke

Das Buch ist eine für den Druck gekürzte Ph.D.-Schrift des Amerikaners Daniel J. Price, der im schottischen Aberdeen studiert hat und dort mit der Arbeit von Thomas F. Torrance, dem bedeutendsten Vermittler der Theologie Barths in Großbritannien, bekannt geworden ist. Auch mit seinem eigenen hier vorliegenden Ansatz fügt sich P. ein in die durch Torrance geformte und bis heute wenig hinterfragte britische Barth-Interpretation. Der Blick ist ganz auf die Kirchliche Dogmatik gerichtet, d. h. auf die Zeit, als Karl Barth die Wende vom dialektischen zum analogischen Denken vollzogen hatte (seine frühen Schriften werden nur noch als historisch notwendige Entwicklungsphasen verstanden), als er also seine Theologie in den Rang einer exakten Wissenschaft erhoben hat, in der das Objekt, Gott, der immer zugleich Subjekt seiner Erkenntnis durch den Menschen ist, auch die Methode des Nachdenkens über ihn bestimmt - eben so, wie es in anderen exakten Wissenschaften geschieht. Der Vergleichspunkt für Torrance ist hier vor allem die Physik in ihrer Prägung durch Einstein.

P. nun richtet sein Augenmerk weniger auf das Verhältnis der Theologie Barths zu den Naturwissenschaften als auf das Verhältnis zu den human sciences. Er betrachtet die Anthropologie Barths, wie sie in KD III/2 entwickelt ist, und vergleicht diese - geleitet von dem Wunsch, mögliche Anknüpfungspunkte für ein gegenseitig befruchtendes Gespräch zu finden - mit der modern object relation psychology, einer Richtung innerhalb der Psychologie, die in Großbritannien mit den Namen Melanie Klein, Donald Winnicott und dem schottischen Psychoanalytiker und object relations theorist W. Ronald D. Fairbairn (1889-1964) verbunden ist. Dessen Theorien, die speziell in der Arbeit mit schizoiden Patienten entwickelt wurden, sind Grundlage der Bemühungen des Vf.s, das Gespräch mit der Anthropologie Barths in Gang zu bringen - und repräsentieren bzw. füllen damit wohl auch den sonst unscharfen Begriff modern thought. Der Nachweis, dass die Theologie Barths diesem modernen Denken keineswegs ablehnend gegenüber steht, sondern es gerade auf der Grundlage seiner Theologie zu einem vertieften Gespräch zwischen Theologie und den Humanwissenschaften kommen kann, ist eine der Hauptintentionen der vorliegenden Arbeit.

Sie ist entsprechend der genannten Zielsetzung gegliedert. Der Darstellung der anthropologischen Entwürfe Barths und der object relations theory Fairbairns sowie ihrer Gemeinsamkeiten wird breiter Raum gegeben; vorgeschaltet sind geschichtliche Überblicke über das Menschenbild in Aufklärung und Idealismus sowie der von ihnen beeinflussten Theologie. Diese Kapitel, in denen P. das statische und platonisch-dualistische Bild des Menschen bei Denkern wie Descartes, Kant, Rousseau, Hegel oder Schleiermacher beschreibt, das beim Menschen in fataler Weise zwischen Körper und Geist, Vernunft und Gefühl, Theorie und Empirie unterscheidet, die interpersonale Dimension des ganzheitlichen Menschen außer Acht lässt und an die Stelle des biblischen Glaubens an Gott einen neuen Glauben an die Menschheit, an den absoluten Menschen als Maß aller Dinge gesetzt hatte, braucht er nicht zuletzt als Folie, vor der sich die beiden ihn interessierenden anthropologischen Entwürfe abheben können. Auch hier zeigt der Vf. sich deutlich von Torrance beeinflusst, der in seinem Werk nicht müde wird, die Überwindung des hellenistischen und neuplatonischen Dualismus als die eigentliche theologische Lebensleistung Barths zu beschreiben. Auf Seiten der Psychologie trifft der Vorwurf des anthropologischen Dualismus aber auch die Theorien Freuds, die mit ihrer einseitigen Betonung des menschlichen Instinkts nur die Trennung von body and soul, von unterschiedlichen, miteinander im Streit liegenden Kräften im Menschen, feststellen können (201).

Die alles entscheidende Gemeinsamkeit zwischen den Anthropologien Barths und der object relations psychology sieht P. deshalb darin, dass beide den traditionellen anthropologischen Dualismus des Westens überwinden, indem sie den Menschen essentiell als ein Beziehungswesen verstehen. Weil der Mensch nur in den Beziehungen zu anderen - dem Gegenüber, dem Objekt in der object relations psychology - sein und leben kann, kann es auch keine Einsicht in das menschliche Wesen geben, solange er von diesen Beziehungen isoliert betrachtet wird: "the human being can be understood only in the context of relationship to an other" (13 f.); "no accurate understanding of the human being can be derived if we look at a person in isolation from God and others" (97).

Barth kam zu seiner anthropologischen Einsicht und zu seinem Verständnis des wahren Menschen, wie sie in KD III/2 ausgeführt wird, auf der Grundlage seiner Trinitätslehre. (Ob das dynamische Verständnis des dreieinigen Gottes schon Grundlage der biblischen Anthropologie sei, wie P. mehrfach betont, darüber ließe sich allerdings streiten.) Die Anthropologie Barths ist deshalb in der Deutung des Vf.s eine ganzheitliche, dynamische, relationale und damit eben: trinitarische Anthropologie. Das Menschsein des Menschen entfaltet sich in Analogie zum trinitarischen Wesen Gottes. Entsprechend des dynamischen Verhältnisses des dreieinigen Gottes (Vater, Sohn und Geist) zu sich selbst und auf Grund der analogia relationis wird der Mensch in seinem Menschsein bestimmt durch seine Beziehungen: zu Gott, zu sich selbst, zu anderen Menschen (96). Um zu verstehen, wer der Mensch ist, müssen wir auf den Menschen Jesus blicken, in dem Gott sich uns geoffenbart hat. So wie Jesus nie ohne Beziehung zu Gott war und ohne sie nicht erkannt werden kann, können wir auch den Menschen ohne seine interpersonalen Züge nicht erkennen: "the human essence is reflected in the being of the man Jesus, a man who lived his life in encounter with God and others ... Human essence, therefore, is relational." (162 f.)

Fairbairn kam zu seiner anthropologischen Bestimmung durch Beobachtungen an Menschen, bei denen der elementare soziale Objektbezug schon in der Kindheit Störungen ausgesetzt war. Er entwickelte vor dem Hintergrund dieser Arbeit ebenfalls eine dynamische und soziale Sicht des Menschen und betonte dabei als Grundlage das dem Menschen innewohnende Bedürfnis, zu anderen Menschen (den objects) von Liebe und Verständnis getragene Beziehungen aufzubauen. Über Freud hinausgehend wird es für wesentlich erachtet, dass der Mensch von Geburt an nicht nur nach libidinöser Befriedigung, sondern ebenso nach Beziehungen zu einem Gegenüber strebt. Die Identität des Individuums entwickelt sich in der subjektiven Geschichte komplexer sozialer Interaktionen und wird geformt durch früheste Beziehungserlebnisse. Ein Verstehen und eine mögliche Hilfe für den Menschen kann es deshalb nicht losgelöst vom Verständnis dieses Beziehungsgeflechts geben.

Deutlich und in durchaus sympathischer Weise wird die Arbeit von dem seelsorgerlichen, aus der pastoralen Praxis geborenen Interesse des Vf.s begleitet, das sich artikuliert als Wunsch, dem von Zweifeln und Ängsten geplagten modernen Menschen Lebenshilfe zu eröffnen. Um diesen Weg "for the healing of persons in a modern world" (230) zu ebnen, bietet nach P. die Anthropologie Barths ebenso Ansatzpunkte wie die object relations theory Fairbairns. Die Frage stellt sich allerdings, was es für die Eigenständigkeit und Unersetzbarkeit der Theologie bedeutet, wenn die ganze Summe der "dynamic trinitarian anthropology" Barths letztlich auf die Formel gebracht werden kann: "there is no authentic humanity apart from fellow humanity" (307). Als solches von seiner Natur her auf Beziehungen hin angelegtes Sozialwesen wird der Mensch eben auch von der object relations psychology angesprochen. Dass für den Theologen Barth die Grundlage der menschlichen Gemeinschaft in der dynamischen und relationalen göttlichen Natur selbst zu finden ist, steht auf der einen Seite. Auf der anderen steht offenbar jedoch die Möglichkeit, zu zumindest vergleichbaren Einsichten in das Wesen des Menschen auch ohne den Weg über die Trinitätslehre zu gelangen. Wäre es bei den "intriguing similarities" im Menschenbild zwischen der Theologie Barths und der object relations psychology, wie P. sie beide beschreibt, nicht folgerichtig zu sagen, dass eine wahre Erkenntnis des Menschen auch unabhängig von biblischen und theologischen Einsichten vorstellbar und möglich ist - etwa über den Weg von psychoanalytischen oder psychotherapeutischen Beobachtungen? Oder führt die Suche nach einer neuen natürlichen Theologie, die sich schon Torrance zur Aufgabe gemacht hat - einer natürlichen Theologie jenseits des alten Streits um Natur und Gnade - und die gerade um des Gespräches mit anderen Wissenschaften willen immer wieder von theologischer Seite aus betrieben wird, nicht auch in Sackgassen hinsichtlich der Einzigartigkeit biblisch-theologischer Einsichten in das Wesen des Menschen? Im Bereich der Anthropologie bietet das Buch von P. Anregungen genug für eine Diskussion dieser Frage.