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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1086–1088

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Shakespeare, Steven

Titel/Untertitel:

Kierkegaard, Language and the Reality of God.

Verlag:

Aldershot-Burlington-Singapore-Sydney: Ashgate 2001. X, 252 S. gr.8 = Transcending Boundaries in Philosophy and Theology. Geb. £ 40,00. ISBN 0-7546-1561-8.

Rezensent:

Ulrich Lincoln

Kann man Gott Realität zuschreiben, unabhängig von menschlichem Denken und Sprechen? Oder ist der Ausdruck "Gott" lediglich als Teil einer kulturellen Grammatik zu verstehen? Die Frage nach dem Realitätsstatus Gottes, wohlbekannt aus der analytischen Religionsphilosophie, steht am Beginn des vorliegenden Buches, das die Leser auf eine weitreichende Gedankenfahrt mitnimmt. Angeregt durch die "anti-realistischen" Interpretationen von Don Cupitt versucht der Vf. auf dieser Fahrt, die Realismusdebatte mit der Philosophie Sören Kierkegaards in Verbindung zu bringen. Dieser für deutsche Kierkegaardleser ungewohnte Fahrplan erweist sich im Verlauf der Reise als ebenso anregend wie gelegentlich verwirrend. Den Konvergenzpunkt der Realismusdebatte mit Kierkegaards religiöser Schriftstellerei sieht der Vf. im Begriff der Sprache. Denn Aussagen über den Realitätsstatus Gottes hängen von der jeweils in Anschlag gebrachten Sprachauffassung ab. Demzufolge besteht eine erste Hauptaufgabe des Buches darin, eine Kierkegaardsche Sprachtheorie zu rekonstruieren.

Eine einleitende Verortung Kierkegaards im Horizont älterer und zeitgenössischer linguistischer Ansätze zeigt den Dänen als Vertreter einer pragmatisch-rhetorischen Sprachauffassung, im Unterschied zu einem designativen Modell. Demzufolge ist Sprache für Kierkegaard ein unhintergehbares Netz von Bedeutungen, das in der linguistischen Praxis von Kommunikation gründet, ohne dabei einen unmittelbaren Zugang zur Realität zu ermöglichen. Ein kräftiger anti-rationalistischer und, wenn man so will, anti-propositionaler Zug in Kierkegaards Sprachtheorie wird hier vom Vf. freigelegt, was kaum überrascht. Gleichwohl ist damit die philosophische Entscheidung zwischen Realismus und Anti-Realismus für den Vf. noch nicht gefallen: Lässt Kierkegaards performative Sprachauffassung einerseits propositionale Repräsentationsmodelle der Sprache und damit verbundene einfache Realitätsannahmen hinter sich, so zielen doch seine Texte andererseits mit ihrer indirekten Kommunikationsstrategie gerade auf die Öffnung zu einer "Realität" und "Andersheit" jenseits der kommunikativen Akte. Die Spannung zwischen performativer Sprache und unreduzierbarer Fremdheit wird als die grundlegende Ambivalenz der Sprache in Kierkegaards Sprachbegriff herausgearbeitet.

Zugleich kann der Vf. zeigen, dass Versuche, diese Ambivalenz einseitig aufzulösen, bereits in Kierkegaards Werk destruiert werden: So erweist etwa eine Analyse des Verführers aus Entweder-Oder, dass eine radikal-romantische, streng anti-propositionale Sprachauffassung in der Konsequenz zu einem metaphysischen wie ethischen Nihilismus führt. Auf der anderen Seite steht der Versuch, dem ambivalenten und indirekten Charakter der Sprache durch Schweigen zu entkommen - ein Motiv, das in Kierkegaards Texten starke Resonanz findet. Doch der Vf. belegt, dass das Schweigemotiv zwar eine Grenze der Sprache aufzeigt, aber nicht einen Weg hinter sie zurück in einen Raum der unmittelbaren, nicht-sprachlichen Bezugnahme auf die Welt. Auch das Schweigen Abrahams hat letztlich semiotische Funktion, wie eine von Derrida geleitete Lektüre von Furcht und Zittern zeigt: Schweigen als Form des Gottesverhältnisses verweist auf das Paradox der Verantwortung, auf die "irreducible otherness of people and things to one another" (139).

Damit ist nun auch eine erste Antwort auf die Frage nach der Realität Gottes angebahnt: Der Vf. schlägt den Begriff eines "ethischen Realismus" vor, um Kierkegaards Position in dieser Frage zu benennen. Damit ist eine Strategie gemeint, die einen Mittelweg findet zwischen a) einem Anti-Realismus, der "Gott" nur als Chiffre für menschliche Kommunikation versteht, und b) einem Realismus, der den Gegenstand religiöser Sprache als objektivierbar ansieht. Das Verhältnis von Realismus und Anti-Realismus wird auf Climacus' ethischen Begriffen von Objektivität und Subjektivität abgebildet: Gott hat Realität innerhalb einer bestimmten, "befreienden" Kommunikationsform, deren verborgener Grund gleichwohl den Subjekten als absolut Anderer gegenübersteht.

Eine solche negative Theologie genügt dem Vf. allerdings nicht. Mit dem Begriff der "Analogie der Kommunikation" versucht er zu zeigen, wie man Gott als einen auch positiv prädizierbaren Audruck denken kann. Demnach beschreibt Kierkegaard die Praxis religiöser Kommunikation in Formen von Zeugnis und Nachfolge als Analogiemodell für Gottes Kommunikation mit der Welt: Gott als Autor der Welt ist indirekt erkennbar in kreativen Prozessen der Selbstverleugnung und unendlichen Verantwortung. Solche analogen Prädizierungen haben freilich keinen objektiven, sondern einen regulativ-grammatischen Wert. Und Begriffe wie Wahrheit und Realität sind nicht mehr als kognitive, sondern als existentielle Funktionen zu verstehen.

Der Vf. verfolgt mit seiner Kierkegaard-Interpretation das Programm einer "rhetorischen Theologie" (226), das er im abschließenden Kapitel theologisch zu verorten versucht. Jenseits der Aporien radikaler Sprachkritik und narrativer Neo-Orthodoxie findet der Vf. in Derridas Rede von der "Gabe" ein Modell, das die Sprache als Antwort auf die absolute Andersheit Gottes zu verstehen lehrt. Damit sind für den Vf. die Intentionen einer postmodernen, an der Sprache orientierten Kierkegaard-Interpretation gewahrt, ohne in die Falle eines voreiligen theologischen Anti-Realismus zu fallen.

Die Fahrt ist an ihr Ende gelangt, und dem lesenden Fahrgast bleibt ein kurzer Rückblick: Das Buch bietet sehr interessante Interpretationen Kierkegaardscher Texte, geschrieben in einer luziden Sprache (wenn man von den für angelsächsische Publikationen nicht untypischen Rechtschreibfehlern bei deutschen Zitaten absieht) und einer ausgesprochen klaren Darstellungsform. Dem korrespondiert freilich nicht immer eine Klarheit in der Argumentation. Insbesondere die leitende Frage nach dem Realismus wirkt wie ein Fremdkörper. Oft scheint es dem Vf. weniger um das in der sprachanalytischen Diskussion thematisierte und von ihm auch als Ausgangsproblem benannte Problem des Realitätsstatus von Aussagen zu gehen als vielmehr um die Frage eines ethischen und kulturellen Nihilismus; doch dies sind zwei völlig verschiedene Debatten, die zu unterscheiden wären. Auch die Grundbegriffe der Realismus-Debatte selbst bleiben unklar: Die Differenz zwischen der sprachanalytisch-erkenntnistheoretischen Frage (gibt es eine Realität unabhängig von unserem Denken und Sprechen?) und der theologischen Realismusfrage (welche Realität entspricht dem Ausdruck "Gott"?) wird weitgehend unterlaufen bzw. beide Hinsichten werden unbefragt gleichgesetzt. Die häufige Rede von "the (wholly, absolut, irreducible etc.) Other" im Sinne der Philosophie Levinas' und Derridas unterstreicht nur diese Diffusion: "The Other" scheint der Begriff einer theologisch gedachten absoluten Wirklichkeit zu sein, den sowohl Realisten als auch Anti-Realisten verfehlen; allerdings hatten sie nach einer solchen Realität auch gar nicht gefragt.

Die zum Ausgangspunkt genommene Realismusfrage ist offensichtlich zu eng für diese Untersuchung und ihre Antwort. Auch den Texten Kierkegaards passt der Realismus-Anzug meistens nicht; diejenigen Werke, in denen Kierkegaard die Realitätsfrage als ontologische Frage nach der "Wirklichkeit" der Existenz verfolgt, nämlich die Climacus-Schriften, werden vom Vf. in dieser Hinsicht zu wenig ausgeschöpft. Das Buch ist immer dort am stärksten, wo es dem Problem der Sprache in Kierkegaards Texten nachgeht. Schließlich ist zum Begriff der Analogie zu fragen, ob damit das Problem der Realität Gottes wirklich gelöst oder nicht vielmehr nur verschoben ist; denn auch eine Analogie setzt einen nicht-analogen Satz über die Existenz Gottes voraus - mithin einen Glaubenssatz. Eine Analyse des Glaubensbegriffs sucht man aber vergeblich in diesem Buch.

Wer wissen will, wie aus der philosophischen Realismusdebatte etwas für die Theologie zu gewinnen ist, der wird von dem Buch enttäuscht werden. Wer aber nach anregenden Interpretationen zu Kierkegaards Sprachauffassung und nach einem frischen Nachdenken über das Wesen religiöser Sprache sucht, für den gibt es hier durchaus etwas zu entdecken.