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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1084–1086

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Schönecker, Dieter, u. Thomas Zwenger [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kant verstehen. Understanding Kant. Über die Interpretation philosophischer Texte.

Verlag:

Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2001. 344 S. 8. Geb. Euro 49,90. ISBN 3-534-15207-7.

Rezensent:

Hans Schleiff

Die Herausgeber dieses Buches baten einige der bedeutendsten Kantforscher unserer Zeit, sich die Frage zu stellen, was sie eigentlich tun, wenn sie interpretieren. In den Artikeln, die diese daraufhin schrieben, legten sie am Beispiele Kants dar, welche Schwierigkeiten, aber auch welche Möglichkeiten es für sie gibt, die Gedanken eines anderen Menschen zu verstehen und richtig wiederzugeben. Eine Sammlung sehr verschiedener Ansätze, Zielrichtungen und Resultate ist dabei herausgekommen, in der noch ein wenig der Unterschied zwischen der amerikanischen ("analytischen") und der deutschen ("kontinentalen") Zugangsweise erkennbar ist.

Karl Ameriks stellt in seinem Aufsatz "Text and Context: Hermeneutical Prolegomena to Interpreting a Kant Text" die "positivistische" Position der "pragmatischen" gegenüber: "Positivistisch" ist die Meinung, aus Kants Schriften eindeutige und feststehende Aussagen entnehmen zu können, sei es zu bestimmten Fragen des Lebens oder zu einer bestimmten Stufe innerhalb einer geistesgeschichtlichen Entwicklung wie beispielsweise der von Descartes zu Nietzsche. "Pragmatisch" dagegen ist die Meinung, eine jede Philosophie sei Rhetorik und praktische Überredung, und jeder könne in ihr eine Bestätigung seiner eigenen Überzeugung finden, wie beispielsweise eine Bestätigung des modernen Subjektivismus in Kants Aussage, dass der Mensch in sich selbst seine Vernunft antreffe (Kr. d. r. V. A XIV). In beiden Fällen ist Lernen als Selbstveränderung nicht möglich. Ameriks verbindet beides im hermeneutischen Zirkel: Vom eigenen Vorverständnis herkommend kann der Mensch in gründlicher Exegese der philosophischen Texte und im aufmerksamen Bedenken des historischen Zusammenhanges, in dem sie stehen, sich seiner selbst bewusst werden und sich verändern, um von daher dann die Texte neu zu verstehen.

Marcia Baron zeigt in ihrem Aufsatz "Reading Kant Selectively", dass man eine Schrift oder eine Philosophie nur dann verstehen kann, wenn man ihre Kernaussage erfasst. Von daher kann man dann erkennen, was Randaussagen oder gar der Kernaussage widersprechende Aussagen sind. Vom Geist der Schrift her können und sollen die einzelnen Aussagen der Schrift geprüft und kritisiert werden. Es gibt in Kants Schriften einige wenige rassistische und sexistische Aussagen, die man getrost außer Acht lassen sollte. Die Gefahr bei dieser Vorgehensweise ist allerdings, dass man bei dem einmal erlangten Verständnis der Kernaussage stehen bleibt und es nicht mehr durch die Randaussagen in Frage stellen lässt.

In "The Poetics of (Philosophical) Interpretation" stellt Ermanno Bencivenga fest, dass es hilfreich für das Verständnis einer Philosophie sein kann, wenn ein anderer Mensch mit anderen Worten sie erklärt, doch das ist nur dann so, wenn der Interpret selbst von dem Grundgedanken der Philosophie erfasst ist und ihn mit Freude und Engagement vorträgt.

In "Naturalizing Kant" untersucht Paul Guyer, wieweit die der Vernunft entspringenden Urteile und Empfindungen empirisch verstanden und erklärt werden können. Weil der Mensch ein endliches Vernunftwesen ist, sind sein ästhetisches Empfinden, seine der Zeitlichkeit unterworfene Erfahrung und seine Willensfreiheit empirischer Untersuchung zugänglich.

Heiner F. Klemme führt in seinem Artikel "Perspektiven der Interpretation: Kant und das Verbot der Lüge" verschiedene neuere Versuche systematisch geordnet vor, Kants absolutes Verbot der Lüge richtig zu verstehen. Er zeigt, dass die grundsätzliche Erwägung, ob und wie es möglich und gefordert ist, niemals zu lügen, mit der historischen Frage, was Kant selbst gemeint hat, immer wieder in Beziehung gesetzt werden muss.

Eine "Erwägungsorientierte Hermeneutik am Beispiel der Kritischen Philosophie Kants" stellt Werner Loh vor. Was meinte Kant zum Beispiel mit den Begriffen "Vernunft" und "Verstand"? Hier müssen verschiedene Interpretationen erwogen werden. Die beste findet sich in genauer Textbeobachtung und wird im Vergleich mit weniger passenden herausgearbeitet.

Lorenz B. Puntel gibt einen Überblick "über das komplexe Verhältnis der Philosophie zu ihrer Geschichte" mit dem Ergebnis, dass sowohl beides voneinander unterschieden werden muss als auch als untrennbar miteinander verbunden gesehen werden muss.

Dieter Schönecker beklagt die "Textvergessenheit in der Philosophiehistorie". Philosophiehistorie beschäftigt sich mit der Geschichte der Philosophie, in der systematischen Philosophie aber geht es um die Wahrheit oder Falschheit von Argumenten und Theorien. Am Beispiele der Kant-Forschung ist zu sehen, wie diese beiden unterschiedlichen Ziele miteinander vermischt werden, was zur Folge hat, dass die Texte nicht genau beachtet werden.

In seinem Artikel "Das principle of charity oder Kant wie einen toten Hund behandeln" zeigt Gerhard Seel, dass es nicht möglich ist, einen philosophischen Text der Vergangenheit nur in der Terminologie seines Verfassers für heutige Leser verständlich zu machen, sondern dass dieser Text mit den Instrumenten und in der Sprache der gegenwärtigen Philosophie erfasst werden muss. Wenn das geschieht, wird nicht nur verstanden, welche Erkenntnis ein Philosoph in der Vergangenheit hatte, sondern diese Erkenntnis wird zugleich auch für die Gegenwart fruchtbar gemacht. Im Einzelnen gilt es bei der Auslegung eines philosophischen Textes der Vergangenheit Folgendes zu beachten: Die Interpretation muss von der Kritik unterschieden werden; dem "principle of charity" folgend müssen diejenigen Texte besonders beachtet werden, in denen der Philosoph sich treffend und klar äußerte, und die hintenan gestellt werden, in denen ihm das nicht so gut gelang; der Text muss in seinen historischen Zusammenhang eingeordnet werden; es muss Quellenkritik getrieben wird.

Von Kants Postulaten Gott, Freiheit und Unsterblichkeit geht Werner Stegmaier in seinem Aufsatz "Orientierung an anderer Orientierung. Zum Umgang mit Texten nach Kant" aus, um zu zeigen, dass ein jeder Mensch für die Ausrichtung seines eigenen Lebens das Lesen ihm fremder Texte und das Gespräch mit anderen Menschen nötig hat. Nicht soll er sich blind der Orientierung anderer Menschen unterstellen, sondern im selbstständigen Bedenken ihrer Orientierung soll er zu immer neuen Entdeckungen kommen, die seine eigene Orientierung abändern, erweitern und vertiefen. Wenn Texte über lange Zeit hinweg immer neue Bedeutsamkeit für immer neue Leser gewonnen haben, können Schulen entstehen, die sich allein der möglichst gründlichen Auslegung dieser Texte widmen. Dann werden Texte zu Autoritäten der Orientierung. Wird ihre Autorität unangreifbar, werden sie zu heiligen Schriften. Der Leser sollte den Mut haben, sich über ihre Heiligkeit hinwegzusetzen und seine eigene Meinung zu äußern.

Dass der Versuch, Kants Philosophie mit den Instrumenten und in der Sprache der gegenwärtigen Philosophie zu erfassen, auch scheitern kann, zeigt Roger J. Sullivan in seinem autobiographisch geprägten Artikel "Problems Interpreting Kant via Anglo-American Analytic Methods". Wo nur noch auf logische Richtigkeit geachtet wird und jegliche Metaphysik zurückgewiesen wird, bleibt Kant letztlich unverstanden. Der Autor plädiert stattdessen für ein gründliches Studium der Texte Kants und der Gedankenwelt seiner Zeit, um daran zu lernen und von daher die heutige Zeit und das eigene Denken besser verstehen und kritisieren zu können.

Von der Notwendigkeit der Veröffentlichung philosophischer Erkenntnisse handelt Detlef Thiels Artikel "... wovon das Volk praktischerweise keine Notiz nimmt Kant über das Publizieren und das Publizieren über Kant". Privaturteile können falsch sein, aber im mündlichen und schriftlichen Gespräch kommt die allgemeine Vernunft mehr und mehr zur Geltung. Der Privatmann wird zum Weltbürger. Die allgemeine Vernunft darf nicht verwechselt werden mit dem Willen der Mehrheit, der leider oft sehr unvernünftig ist. Auch wenn viele Menschen nicht geneigt sind, vernünftige Aussagen zur Kenntnis zu nehmen, sollten diese doch weiter veröffentlicht werden.

In "What Dead Philosophers Mean" weist Allen Wood darauf hin, dass die Interpretation philosophischer Texte der Vergangenheit sich nicht darin erschöpfen sollte, diese Texte für ein heutiges Publikum verständlich zu machen, sondern dass aus ihnen eine Norm für philosophisches Fragen herausgearbeitet werden sollte, die dann an diese philosophischen Texte selbst wieder angelegt werden kann.

In dem Bewusstsein, dass jeder Interpret seinen subjektiven Hintergrund hat, von dem her er denkt, entwirft Thomas Zwenger eine "Philosophische Hermeneutik als Transzendentale Urteilslehre". Auch er unterscheidet feststellende, deskriptive Texte von reflektierenden, argumentativ urteilenden, und auch er möchte das Leitmotiv eines philosophischen Textes und seinen Ort in der Geschichte der Philosophie beachtet wissen; doch betont er mehr die Subjektivität einer philosophischen Aussage wie auch ihrer Interpretation. Einen "Interpretationspositivismus", wonach es möglich sein müsste, dass verschiedene Interpreten zu genau derselben Interpretation eines philosophischen Textes gelangen, kann es nicht geben. Er ist überzeugt, dass es überhaupt nicht eine objektive Wahrheit gibt und auch nicht einen Erkenntnisfortschritt zu ihr.

Überblickt man alle Beiträge zu diesem Buche, so kann man feststellen, dass in ihnen die Probleme und Aufgaben einer Hermeneutik philosophischer Texte umfassend und klar dargestellt sind. Interessant wäre es, im Vergleich mit den hier gemachten Aussagen zu untersuchen, welche Bedeutung die heilige Schrift für einen gläubigen Juden, einen Christen und einen Moslem hat und wie sie von ihnen interpretiert wird.