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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1082–1084

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Henriksen, Jan-Olav

Titel/Untertitel:

The Reconstruction of Religion. Lessing, Kierkegaard, and Nietzsche.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2001. X, 208 S. gr.8. Kart. US$ 22,00. ISBN 0-8028-4927-X.

Rezensent:

Heiko Schulz

1.1 Der Autor der vorliegenden Studie lehrt Systematische Theologie an der Norwegian Lutheran School of Theology in Oslo und ist bereits mit zwei Monographien in norwegischer Sprache hervorgetreten. Thematisch knüpft H.s jüngste Veröffentlichung an diese Vorarbeiten an, die beide als Versuche einer Ortsbestimmung theologischen Denkens zwischen Nihilismus und Postmoderne gelesen werden können, wobei ihr Autor auch im vorliegenden Fall teils ideengeschichtliche, teils religionsphilosophische Interessen verfolgt (3.13). Mit dem letzteren Aspekt verknüpft sich das Maximalziel der Untersuchung: "to understand the conditions for religion in a postmodern world" (181). Verstanden werden sollen dabei offenbar auch geltungstheoretische und nicht nur rein genetische Religiositätsbedingungen in der Postmoderne. H.s Blick auf die Geschichte der (hier: christlichen) Religion nötigt nach seiner Auffassung nämlich zu dem Schluss, dass es unter den gegebenen Umständen unumgänglich ist, "to see Christianity as developing - in order to cope with and meet the challenges ... of its own contemporary culture" (10 f.). Zur Einsicht in die Selbsthistorisierung des christlichen Glaubens als notwendiger Bedingung nicht nur seines Überlebens, sondern auch und vor allem seiner Wahrheitsfähigkeit angesichts permanent sich wandelnder kulturgeschichtlicher Herausforderungen leiten nach Ansicht des Vf.s jedoch in exemplarischer Weise Lessing, Kierkegaard und Nietzsche an (10 f.). Mit der Beschreibung und Analyse derjenigen originären Rekonstruktionen, die die christliche Religion im Bewusstsein jener Herausforderungen bei den drei genannten Autoren erfährt, verfolgt H.s Buch daher auch ein seiner religionsphilosophisch-prinzipiellen Kernabsicht funktional zu- und untergeordnetes ideengeschichtliches Ziel (3).

1.2 Zur ideenhistorischen Analyse der spezifisch religiösen Eigentümlichkeiten jener Epoche zwischen 1750 und 1890, in der sich nach Auffassung des Vf.s das Christentum den tief greifendsten Herausforderungen in seiner Geschichte ausgesetzt sah (1), ruft dieser zwei Generalzeugen auf: Mit E. Cassirer vertritt er die These, dass die europäische Aufklärung keineswegs in Richtung auf eine umfassende Depotenzierung, sondern vielmehr als Katalysator zur Hervorbringung neuer Formen sowie eines gewandelten (Selbst-)Verständnisses christlicher Religiosität gewirkt habe (1 f.). Konkretisiert und präzisiert wird die Diagnose dieses epochalen Wandels im Ausgang von P. Bergers These des häretischen Imperativs (6 ff.): Im Zuge der neuzeitlichen Erosion jener "socially given plausibility structures" (6), die die präreflexive Überzeugungskraft weltanschaulicher Traditionskomplexe und Institutionen notwendig bedingt, wird die rein private und insofern tendenziell häretische, als solche freilich immer auch reflexiv vermittelte Rekonstruktion und Wiederaneignung der Religion zum Gegenstand einer ebenso unumgänglichen wie undelegierbaren individuellen Wahl (7). Diese subjektive Rekonstruktionsnötigung hat ihre historische Pointe darin, dass sie im Zuge der europäischen Aufklärung selber zur expliziten Wahrheitsbedingung und überdies zum inhaltlichen Bestandteil jener Form von Religion wird, die vor dem Forum der Vernunft als einzig noch legitim gelten kann.

1.3 Für eben diesen epochalen Wandel in der Stellung des Bewusstseins zur Religion steht exemplarisch das Denken Lessings, Kierkegaards und Nietzsches. Zum einen nämlich lassen sich deren zentrale Intentionen als Lösungsversuche zu jeweils einem der drei Teilprobleme interpretieren, die Berger (laut H.) für den Durchbruch der häretischen Rekonstruktionsnötigung verantwortlich macht (7): der Illusionsverdacht gegenüber der religiösen Erfahrung als solcher (Nietzsche); der Zweifel am Rechtsgrund der Verabsolutierung einer Religion (Lessing); das Bedürfnis nach einem fundamentum inconcussum religiöser Gewissheit (Kierkegaard). Zum anderen teilen die drei Autoren eine Reihe von Eigenarten, die sie im Kontext des genannten Epochenwandels als paradigmatische Schriftstellerpersönlichkeiten auszeichnen: die strategische Selbsttarnung in und gegenüber ihrem Werk; ein mit Absicht gewählter Standpunkt außerhalb des akademischen, religiösen und kirchlichen Establishments; schließlich ihr bewusst antisystematischer Eklektizismus (3 ff.). Sie nehmen auf diese Weise, obschon selber mehr oder weniger der Moderne verhaftet (12), faktisch Entwicklungen vorweg, die erst im Zeitalter der Postmoderne programmatisch werden (5.183).

2. Lessing, Kierkegaard und Nietzsche zu einem einzigen ideengeschichtlichen Traditionsstrang zu verknüpfen, mutet gewagt, zumindest ungewohnt an. H. gelingt es aber, dem Leser die hermeneutische Fruchtbarkeit dieser Perspektive im Zuge ihrer Durchführung über weite Strecken plausibel zu machen. Lehrreich scheint dabei insbesondere die Verknüpfung des o. g. Rekonstruktionsgedankens mit dem, was man H.s Funktionalisierungsthese nennen kann (8.181.185.187): Die Einsicht des aufgeklärten Bewusstseins in die Nötigung zur je individuellen Rekonstruktion der Religion bzw. in die Undelegierbarkeit des Aktes ihrer persönlichen Wiederaneignung ermöglicht und fördert zugleich die Tendenz zu deren anthropologischer Funktionalisierung - eine Tendenz, die zuletzt (nämlich bei Nietzsche) in die offene Behauptung ihrer Disfunktionalität mündet. Im Geltungsanspruch dieser These für alle drei Referenzautoren scheint mir freilich auch die argumentative Grenze des H.schen Unternehmens zu liegen. Zeigen lässt sich m. E. nur, dass die Rekonstruktionsnötigung die Tendenz zur anthropologischen Funktionalisierung der Religion notwendig, nicht aber, dass sie diese hinreichend bedingt.

Nur die, aber nicht jede Einsicht in die Nötigung zu einer rekonstruierenden Wiederaneignung der Religion führt mit anderen Worten zu deren anthropologischer Funktionalisierung. Kierkegaard kann im Kontext von H.s Untersuchung, entgegen dessen anders lautender Auskunft (124.128), als Gegenbeispiel angeführt werden. Mag nämlich nach Kierkegaards Auffassung der christliche Glaube auch als einzig aussichtsreicher Kandidat für eine affirmative Beantwortung der Frage nach den Möglichkeitsbedingungen authentischen Existierens unter den Bedingungen des Reflexionszeitalters behauptet werden, so folgt daraus doch keineswegs, dass er dessen Eigenart und Geltungsanspruch auf eben diese Funktion reduzieren bzw. ausschließlich an ihr messen würde. Nicht nur, aber vor allem in diesem Punkt dürfte H.s Studie zum Widerspruch reizen.

3. Fazit: Ein durchaus anregendes, über weite Strecken erhellendes sowie stellenweise diskussionswürdiges und eben deshalb aber: grundsätzlich lesenswertes Buch.