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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1079–1082

Kategorie:

Philosophie, Religionsphilosophie

Autor/Hrsg.:

Esterbauer, Reinhold

Titel/Untertitel:

Anspruch und Entscheidung. Zu einer Phänomenologie der Erfahrung des Heiligen.

Verlag:

Stuttgart: Kohlhammer 2002. 324 S. gr.8 = Münchener philosophische Studien, Neue Folge, 19. Kart. Euro 38,50. ISBN 3-17-017269-7.

Rezensent:

Christian Bendrath

In seiner 2001 in Wien angenommenen und 2002 in die Hausreihe der Münchener Hochschule für Philosophie der Societas Jesu aufgenommenen Habilitationsschrift versucht der Professor für Philosophie an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Graz Reinhold Esterbauer auf der Basis der Religionsphilosophien von Emanuel Levinas und Martin Heidegger eine "Phänomenologie der Erfahrung des Heiligen" zu entwerfen. Das Ergebnis besteht darin, dass das "Heilige" diejenige Dimension an der Erfahrung der Wirklichkeit in deren ureigener spontaner sowie ursprachlicher (200.259 ff.) Selbstmitteilung sei, durch deren "Anruf" das menschliche Individuum hinsichtlich seines gesamten persönlichen Lebensvollzugs in die "Entscheidung" (232 ff.) hineingestellt, zu einer "Antwort" (237 ff.) herausgefordert und auch "ermächtigt" (284 ff.) werde, den bisherigen Lebensentwurf neu auszurichten (213), und zwar in einer dem "Ernst" (234 ff.284 ff.) der jeweiligen persönlichen Lebenslage entsprechenden Haltung der "Ehrfurcht" (247 ff.274 ff.) und der "Selbstachtung" (12 ff.274 ff.284 ff. 287f.). Die Pointe dieses Ergebnisses liegt darin, dass E. im Sinne eines neo-naiven bzw. post-kritischen Realismus allen wie auch immer zu denkenden Vermittlungen eine absolute Unmittelbarkeit vorordnet (13.113 ff.186 ff.204 ff.). Er geht davon aus, dass die inhaltliche Bestimmtheit des existentiellen Anrufs "Ändere dein Leben!" nicht auf konstruktivem Wege sekundär durch religiöse, philosophische, theologische oder kulturelle Sprachtraditionen der spontan sowie ursprachlich sich offenbarenden Wirklichkeit zugeschrieben werden müsse, sondern a priori als bedeutungsautonome Seinsäußerung immer schon selbstgegeben sei (190 ff.).

Der historischen Rekonstruktion der systematischen Basis bei Levinas und Heidegger dient das erste Kapitel (15-112), wobei am Abschnitt über Heidegger (44 ff.) positiv hervorzuheben ist, dass E. sich auf die frühen Freiburger Vorlesungen und Entwürfe bezieht, die 1995 als Bd. 60 der Heidegger Gesamtausgabe unter dem Titel "Phänomenologie des religiösen Lebens" erschienen sind; am Abschnitt über Levinas (16 ff.) ist dagegen zu bemängeln, dass E. eine für sein eigenes Anliegen so wichtige religionsphänomenologische Studie wie "Klaas Huizing, Das Sein und der Andere. Lévinas' Auseinandersetzung mit Heidegger, Frankfurt/ Main 1988", nicht wahrgenommen hat. Überhaupt blendet E. die im neuzeitlichen Protestantismus beheimatete Vorgeschichte seines krisis-theologischen Existentialismus nahezu aus: Jakob Böhme wird wenigstens einmal erwähnt (262); die breite sprachphilosophische sowie hermeneutisch-theologische Tradition von Hamann und Herder über Bultmann, Ebeling, Fuchs, Jüngel bis hin zu Hermann Timm, Klaas Huizing und Oswald Bayer wird dagegen totgeschwiegen (289 ff.). Ein Rückfall in die kontroverstheologisch bedingte Einäugigkeit römisch-katholischer Autoren früherer Jahrhunderte? Wohl nicht ganz, denn Otto und Schleiermacher werden immerhin wahrgenommen.

Trotz aller Kritik im Detail, die Levinas, Heidegger und, im Anschluss an sie, auch E. an Rudolf Ottos Religionsphänomenologie "Das Heilige" von 1917 üben (Otto binde wie Schleiermacher das Heilige an eine Provinz im Gemüt, so dass sein universaler Geltungsanspruch nicht mehr ausgewiesen und hinreichend begründet werden könne; 53 ff.), wird im weiteren Gang des Buches von E. deutlich, dass Ottos an Schleiermacher und den Neukantianismus anschließende Begrifflichkeit von E. lediglich durch das Sprachspiel der europäischen Existenzphilosophie des 20. Jh.s ersetzt wird; und zwar mit allen damit einhergehenden Schwächen: Die spontan und bedeutungsautonom sich je und je gegenwartseröffnend sowie welterschließend in "Sein und Zeit" ereignenden Epiphanien des Heiligen werden von E. zwar mit existentiellem Pathos aufgeladen (sie sind ja nichts anderes als der Ruf in eine das menschliche Leben zur Neuausrichtung zwingenden Krisis, 210 ff.) und fundamentalontologisch als paradoxes Offenbarwerden des sich auch weiterhin entziehenden Grundes der Wirklichkeit bestimmt (E.s "Heiliges" firmiert ja als Bedingung der Möglichkeit für das Wirken der Wirklichkeit als principium individuationis; 200.202.258 f.), geraten darüber, im Unterschied zu Otto und dem von E. leider nur halbherzig herangezogenen Philosophen Hermann Schmitz (173.179 ff.207 ff. 234.281), jedoch eigenartig formal und inhaltsleer, eben eher ontologisch als religionsphänomenologisch. So bleibt denn auch bis zum Ende des Buches schleierhaft, weshalb das aus der hermeneutischen Krisistheologie etwa eines Bultmann oder Ebeling sattsam bekannte Urereignis eines die menschliche Existenz in Grundstruktur und Selbstverständnis total verändernden, göttlichen Anrufs (200 f.) semantisch mit dem Begriff des "Heiligen" identifiziert wird, wenn dessen auf den religiösen Sprachtraditionen basierende inhaltliche Vielschichtigkeit, wie sie von Otto über Eliade bis hin zu Schmitz herausgearbeitet worden ist, auf Grund des existenzphilosophischen Formalismus bei Levinas und Heidegger ausgeklammert wird. Für eine "rein philosophische" (12 ff.56 ff.114.131 ff.) Erfahrungstheorie hinsichtlich einer Mensch und Welt requalifizierenden Selbstmitteilung von Sein und Leben hätte in epistemologischer Hinsicht ein "Jargon der Eigentlichkeit" (Adorno), in ethischer eine naturrechtlich perspektivierte Dialektik von Freiheit und Bindung ausgereicht. Warum dann die semantische Bedeutungsaufladung einer Intensitätskategorie für die Seinshaltigkeit von Wirklichkeit und deren Wahrnehmbarkeit vor Ort der Erfahrung mit dem "Sacrum" bei Heidegger (53 ff.), bei Levinas (23 ff.280 ff.) sogar mit dem radikal sakralkritischen, weil ins Ikonoklastische gewendeten "Sanctus" aus Jes 6? Diese Frage wird letztlich nur unbefriedigend beantwortet; E. sei es um einen Elementarbereich zu tun, der noch vor allen expliziten religiösen Deutungen liege. Ja, aber warum ist der mit "heilig" zu bewerten?

E. hält seinen religions- und theologieabstinenten Formalismus ohnedies nicht durch: So tritt die Wirklichkeit mit dem Bewussthaber in ein "responsorisches" Verhältnis (210 ff.237 ff.), als ob wir uns im Seinsverkehr vor Ort der Wirklichkeit in der Liturgie eines christlichen Gottesdienstes befänden und gemäß der "responsiven Differenz" (251 ff.264 ff.) in einem hierarchischen Gefälle zwischen Weihepriestertum und Laiengemeinde stünden! So teilt die in ihrem Existenzvollzug vom "Sein-Selbst" im "Kairos" (übrigens durchaus ganz im Sinne des ebenfalls nicht genannten Paul Tillich! 237) individuell betroffene Person anderen Personen ihre existentielle Betroffenheit vom segensreichen "Zuspruch" des Seins im Sprachmodus des "Zeugnisses" qua Kerygma mit, als ob exklusiv die missionarische Rhetorik einer christlichen Erweckungspredigt in die Lage zu einem verstehenden Nachvollzug der Seinserfahrung versetzen würde (243 ff.)! Heidegger hat hier wenigstens eine eigenwillige Poetik anzubieten, die an die romantische Kunstreligion eines Hegel und Schelling anschließt (72 ff.).

Mit der Betonung der spracherzeugenden "Stille" (167 ff.) in der ursprachlichen Selbstmitteilung des "Heiligen" als des verborgenen und sich stets entziehenden Grundes der Wirklichkeit wird deutlich, dass es E. letzten Endes innerhalb des thomistischen Schemas von "Natur und Gnade" auf der Seite der "Natur" um eine mystische Überbietung des philosophisch-theologischen Gottesgedankens (281) zu tun ist; auf der Seite der "Gnade" geht es um eine implizit soteriologische Vorzeichnung der Befreiung des Menschen aus "seinsvergessenen" und insofern uneigentlichen Lebensentwürfen sowie aus einem entsprechend ungenügenden Sprachgebrauch. Die Philosophie, so selbstständig wie sie bei E. dem Anschein nach daherkommt, bleibt ancilla theologiae.

Um den kulturtheoretischen Erkenntnisgewinn seiner "Phänomenologie der Erfahrung des Heiligen" alltagsnah auszuweisen, bietet E. Studien zu unterschiedlichen Erfahrungsbereichen und Handlungsfeldern des menschlichen In-der-Welt-Seins. Drei davon fügen sich nahtlos an die gängige Kulturkritik und Kulturtherapie des europäischen Existentialismus: 1. In der Sprache erscheine das Heilige als Bedingung der Möglichkeit eines vorreflexiven Einverständnisses und artikuliere sich im Raum als leiblich spürbare Stille, die als Ermöglichung des Gelingens von Kommunikation sachlich derselben immer schon vorangehe, tatsächlich dieselbe aber unterbreche, um Entfremdung und Bedeutungsentleerung zu überwinden (167 ff.). 2. In der Geschichtlichkeit von biographischen Lebensläufen und historischen Zeit- läuften erscheine das Heilige vor Ort des Festes als gemeinschaftskonstitutive Rückversicherung hinsichtlich der Zeitigung von Leben und Geschichte in sinnhaltigen Epochen (151 ff.). 3. In der Natur erscheine das Heilige auf Grund seiner vorintentionalen Spontaneität als Unterbrechung der naturwissenschaftlich-empirischen sowie ingenieurtechnischen "Kolonialisierung der Lebenswelt" (Habermas) (130 ff.). Die vierte kulturtheoretische Anwendung von E.s "Phänomenologie der Erfahrung des Heiligen" fällt etwas aus dem Rahmen: Das Heilige erscheine sogar in der "virtual reality" des gegenwärtigen sowie künftigen Computerzeitalters, und zwar als das dem endgültigen Zugriff sich ständig neu entziehende "Plus ultra!" des technischen Fortschritts (114 ff.). Für diese mit einem etwas gequälten Aktualitätsbezug versehene religiöse Bedeutungsaufladung des technischen Fortschritts hätte E. ebenfalls ein die Konfessionsgrenzen überwindender Seitenblick auf das kulturprotestantische Erbe des "neuzeitlichen Christentums" (Rendtorff) gut getan. Die Avantgarde der Medientheorie sowie der neuen Medientheologie wird in diesem Abschnitt nicht erreicht.

Wer dem phänomenologischen Projekt eines von der platonisch-idealistischen, subjektivitäts- oder systemtheoretischen Totalvermittlung befreiten Durchgriffs auf die Bedeutungsautonomie der Wirklichkeit als principium individuationis durchaus zugeneigt ist, kommt nach der Lektüre von E.s Habilitationsschrift zu einem zwiespältigen Ergebnis: So vehement E. die Bedeutungsautonomie der Wirklichkeit und ihres Grundes, des Heiligen, einfordert, so wenig kommt er doch über deren Beschwörung im Stile eines Heidegger'schen "Seyns"-Geraunes hinaus (68 ff.). Levinas hatte immerhin noch die Physiognomik und den dialogischen Personalismus aufzubieten, um plausibel zu machen, wo sich eine absolute Anspruchsqualität lebensweltlich ereignet. Obwohl damit eine symboltheoretische Prägnanz à la Cassirer erreicht wird, hält E. das aber für eine unzulässige Verengung (40 ff. 111.263). In E.s Heidegger-Kritik sieht es dann sogar so aus, als ob die Bedeutungsautomie der Wirklichkeit und des Heiligen wieder kassiert werden würde: Der Erlebnisausdruck der eigentlich primär bedeutungsautonomen, aber sich stets entziehenden und auf den reinen Lebensänderungsimperativ beschränkten Erfahrung des Heiligen wird von E. so vollständig der "Gestaltungskraft" (Klages) des frommen Bewussthabers und seiner gesellschaftlich ihm zu Gebote stehenden Sprachtraditionen überlassen, dass E. sich trotz all seiner durchaus berechtigten Kritik mit den heutigen Vertretern der Dilthey-Schule wie Matthias Jung berührt (225 ff.233 ff.248).

Auf Grund solcher Inkonsistenzen bzw. Unentschiedenheiten und einer den Argumentationsgang schwächenden, weil lückenhaften bzw. neo-konfessionalistischen Zitatkartellbildung, die einer modernen Religionsphilosophie schlechterdings nicht würdig ist, kann E.s Buch bei aller Sympathie für sein Anliegen einer Phänomenologie grundlegender Unmittelbarkeit nur eingeschränkt zur Lektüre empfohlen werden. Man bleibt letztlich gut beraten, wenn man weiterhin auf die Klassiker einer existenzhermeneutischen Religionsphilosophie von Schleiermacher über Bultmann, Ebeling und Rahner bis hin zu von Balthasar, Timm, Huizing und Stock zurückgreift und diese in engerer Anlehnung an Schmitz phänomenologisch präzisiert.