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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1076–1079

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Schubert, Anselm

Titel/Untertitel:

Das Ende der Sünde. Anthropologie und Erbsünde zwischen Reformation und Aufklärung.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 269 S. gr.8 = Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte, 84. Geb. Euro 49,00. ISBN 3-525-55192-4.

Rezensent:

Stefan Tobler

Theologiegeschichte ist eine spannende Sache! Diesen Eindruck hinterlässt das Buch von S., das in einer flüssigen Sprache neue Perspektiven auf eine oft vernachlässigte Geschichtsperiode bietet. Was den Leser freut, ist für eine Dissertation (München, bei Thomas Kaufmann) allerdings ein Wagnis: eine Fragestellung über einen Zeitraum von 200 Jahren hinweg zu verfolgen und in 220 Textseiten zusammenzufassen.

Wessen Kind ist die so genannte Neologie? Diese vielschichtige Frage will S. anhand eines Themas aufgreifen, das Cassirer als das "Zentrum der gesamten Aufklärungstheologie" (16 und 230) bezeichnet hatte, die Kritik an der Erbsündenlehre und das damit verbundene optimistische Menschenbild. Hat sie dieses der Orthodoxie abgetrotzt, wie es das aufklärerische Selbstverständnis gern betont, oder ist doch viel stärker von Kontinuitäten die Rede? Das Fazit sei vorweggenommen: "die Kritik an der Erbsündenlehre ist weder eine Erfindung der Aufklärungsphilosophie noch der Aufklärungstheologie des 18. Jahrhunderts, sondern hat eine lange und komplizierte Vorgeschichte in den theologischen Debatten des 17. Jahrhunderts. Die Aufklärung war bei weitem nicht so aufgeklärt und die Orthodoxie bei weitem nicht so orthodox, wie die Aufklärer selbst behaupteten." (231).

Die Arbeit kennt zwei große Teile. Der eine, unter dem Titel Die Katholische Kritik und die Calixtinische Anthropologie 1580-1680 (32-106) behandelt die Frage nach dem Naturbegriff im Zusammenhang der Imago-Dei-Lehre und der Erbsünde. Luthers Entscheidung, die Gottebenbildlichkeit des Menschen im Urstand als natürlich (und nicht als übernatürliche Gnade) zu verstehen, brachte die auf ihm aufbauende Theologie in nicht geringe Probleme: da damals natura, substantia und essentia als deckungsgleich galten, bedeutete der Verlust der imago Dei ein Verlust der wahren menschlichen Natur, sozusagen eine "substantielle Vernichtung des Menschen" (37). Diese Extremposition, vertreten durch Flacius, hatte die FC zwar abgewiesen, aber keine überzeugende Lösung gefunden. Welchen Status hat die nach dem Sündenfall gebliebene menschliche Natur? Und wie kann man von der Natürlichkeit der imago dei reden, ohne sie wie Flacius als Substanz zu verstehen? Die Instrumente für eine Antwort kamen aus der katholischen Kritik. Der Löwener Theologe Michael Bajus hatte 1564 bereits versucht, einen nicht-substantialistischen Begriff von natürlich zu entwickeln; auf ihm aufbauend, aber sachlich divergierend unterschied Bellarmin vier Begriffsbestimmungen und wollte mit ihnen die Unhaltbarkeit der lutherischen Position erweisen. Die protestantische Reaktion nahm seine Terminologie auf, um ihn inhaltlich zu bekämpfen; auf dem Weg über den reformierten Philosophen R. Goclenius tat dies 1619 ausführlich Balthasar Meisner. Die Diskussion trat in eine neue Phase ein, als Georg Calixt eine Erbsündenlehre vertrat, die der katholischen Position nahe stand. In zwei Phasen und vielen Verwicklungen zog sich der Streit hin. Dabei war lange nicht immer deutlich, worum es im Wesen ging (um philosophische Traditionen des Naturbegriffs und deren theologische Aufnahme nämlich); und als am Schluss durch die Unterscheidung einer imago Dei generalis bzw. specialis eine Lösung bereitstand (am klarsten bei Hollaz), war diese durch eine andere, parallele Entwicklung "im Grunde schon überholt" (124).

Diese eingreifenderen Entwicklungen sind Thema des zweiten Teils (Die Umformung der lutherischen Anthropologie 1680-1740, 107-223). Reformierte Einflüsse wurden bestimmend: aus der Föderaltheologie (vor allem Coccejus) drangen "Elemente der Dynamisierung" (138 ff.) in die lutherische Anthropologie ein, wobei nicht mehr nur nach der Unterscheidung von verlorenen und erhaltenen Teilen der imago Dei gefragt wurde, sondern der Gedanke des Wachstums hineinkam. Schon in Bezug auf Adam und Eva (und deren imaginären Kinder vor dem Sündenfall) wurde von einer erkenntnismäßigen und moralischen Festigung der Gottebenbildlichkeit gesprochen, und davon abgeleitet ließ sich auch eine Prozess sukzessiver Vervollkommnung in der Heilsgeschichte und im Leben des einzelnen Menschen denken. Bündnistheologisch als Verpflichtung von Seiten des Menschen verstanden, kam nun ein "Element von Zeitlichkeit und Selbsttätigkeit" (135) hinein, das zwar in augustinischer Terminologie ganz als gnadengewirkt gesehen wurde, das aber auch zum Ansatzpunkt für eine immer deutlicher aufklärerisch-ethisierende Anthropologie wurde. Solche Einflüsse wanderten schon früh (seit J. A. Osiander um 1670) in die lutherische Theologie ein und fanden, nicht zuletzt durch Pufendorfs Naturrechtslehre vermittelt, Niederschlag bei Jäger, Budde, Baumgarten und schließlich Teller.

Als das "Ende der Erbsünde" (172 ff.) bezeichnet S. schließlich die Diskussion um die Lehre von der Imputation der Sünde Adams und Evas auf alle Menschen. Die Unerträglichkeit dieses Gedankens aus aufklärerischer Sicht (Schuld ist an die Person gebunden und nicht vererbbar) hat aber ebenfalls eine lange Vorgeschichte.

Der Gedanke einer Imputation spielte in der lutherischen Reformation eine untergeordnete Rolle und konnte z. B. bei Hunnius (um 1606) faktisch zu Gunsten der Idee einer vererbten Zerrüttung der menschlichen Natur aufgegeben werden (178-180). Die diesbezüglich schärferen Diskussionen unter den Reformierten in Frankreich (Verurteilung von La Place 1645) führten vorerst zu einer neuen Betonung der Imputationslehre im Luthertum, aber spätere Zweifel daran können auf Hunnius (und dessen Konzept der imputatio mediata) zurückgreifen, wodurch die Aufnahme der Pufendorfschen Kritik (z. B. durch Baumgarten) und damit das Todesurteil über die Imputation innerhalb der Erbsündenlehre kein der lutherischen Theologie grundlegend fremder Einschnitt mehr war. Baumgarten sei somit nicht als letzter Erbe der lutherischen Orthodoxie zu verstehen, sondern als "erster Höhepunkt einer langen Transformationsgeschichte in der religiösen Anthropologie des Luthertums" (220), an den Teller nahtlos anschließen konnte. Teller pflegte zwar das Selbstbild eines radikalen Neuerers, schrieb aber in vielem nur die angelegte Linie weiter; worin er - so die polemische Spitze des Autors zum Schluss - vielleicht wirklich der erste Aufklärer unter den Theologen gewesen sei, sei die Tatsache, dass er "die Namen aller seiner Vorgänger totschweigt und sich rühmt, die alte Lehre von ihren ererbten Mängeln zu befreien" (223; auch 170).

Es gelingt S., durch die enorme Fülle des Materials hindurch bestimmte Fragen festzuhalten, und so behält der Leser die Orientierung. Dabei helfen gelegentliche Wiederholungen, die aber manchmal auch stören, bis hin zu Verdoppelungen von Zitaten (45; 111/114). Dass er bei der Materialfülle auch einmal aus zweiter Hand zitiert, ist verständlich, aber nicht empfehlenswert (zu Bajus, 43/44).

Das Werk ist ein Steinbruch zum Weiterforschen. Es überzeugt mit dem (nicht ganz neuen, aber gut geführten) Aufweis, dass man sich in der Unterscheidung zwischen Orthodoxie und Aufklärung nicht oberflächlich an Zeitepochen oder einzelnen Personen orientieren kann; es war vielmehr ein langer Prozess. Dabei bleibt aber der Eindruck, dass das neue Menschenbild wesentlich von außen an die lutherische Tradition herangetragen wurde, durch die katholische Polemik, aus reformierten Einflüssen und darin auch aus humanistischem Gedankengut.

Während der Autor die lutherische Anthropologie bis an die Reformation zurückverfolgt, tut er dies bei den reformierten Einflüssen nicht. Gerade da könnte es aber erhellend sein, die Linie zu Calvin zu ziehen, bei dem sich alle wichtigen Themen bereits finden: die Dynamisierung des Imago-Dei-Verständnisses mit der Perfektibilität des Menschen und die Erbsünde als Zerrüttung der Natur statt als Imputation. Spannend wäre es, einer These nachzugehen, die hier nur angedeutet werden kann. Die terminologische Lösung des lutherischen Problems mit dem Naturbegriff geht gemäß S. auf die katholische Kontroverstheologie zurück. Bajus jedoch, an dem sich Bellarmin abgearbeitet hatte, war ein Kenner Calvins, gegen dessen Institutio er ein Jahr vor seinem oben genannten Werk eine lange Widerlegung geschrieben hatte (De iustitia, 1563). Bei Calvin findet sich genau jener Versuch einer Differenzierung im Naturbegriff und einer nicht-substantialistischen Formulierung (vgl. Inst II 1.10-11), die Bajus charakterisierte; es gibt Ähnlichkeiten bis in den Wortlaut hinein. Ein weiterer oben genannter Gewährsmann, R. Goclenius, wäre wohl ebenfalls besser von Calvin als von Bellarmin her zu verstehen (vgl. z. B. Calvins Rede von dotes naturales Inst II 1.7). Der humanistische Impuls hat offenbar auf vielen Linien weitergewirkt, sei es in Calvin (dort in spannender Synthese mit biblischem Denken), sei es in der komplexen Genese der so genannten Aufklärung.