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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1072–1075

Kategorie:

Dogmen- und Theologiegeschichte

Autor/Hrsg.:

Bitzel, Alexander

Titel/Untertitel:

Anfechtung und Trost bei Sigismund Scherertz. Ein lutherischer Theologe im Dreißigjährigen Krieg.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 295 S. gr.8 = Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens, 38. Kart. Euro 36,00. ISBN 3-525-55243-2.

Rezensent:

Wolfgang Sommer

Einer nahezu vergessenen Gestalt der Kirchengeschichte im Zeitalter der lutherischen Orthodoxie ist diese kirchengeschichtliche Dissertation aus Heidelberg gewidmet, die von Johann Anselm Steiger (Hamburg) betreut wurde. Sie ist an der Heidelberger Johann Gerhard Forschungsstelle entstanden, an der Vf. mit seinem Mentor einige Jahre zusammengearbeitet hat. Somit ist diese Monographie ein weiteres sichtbares Zeichen für die erstaunliche und verdienstvolle Produktivität an dieser Forschungsstelle, in der in verhältnismäßig kurzer Zeit in der Reihe "Doctrina et Pietas" historisch-kritische Editionen vor allem der Werke Johann Gerhards erschienen sind.

Am Beispiel des lutherischen Pfarrers Sigismund Scherertz (1584-1639) ist die Arbeit zentral an der lutherischen Seelsorge im konfessionellen Zeitalter interessiert, der bisher noch wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Das Besondere dieser Untersuchung ist jedoch, dass die Trost- und Erbauungsschriften dieses Pfarrers in den Kontext der lutherischen Dogmatik seiner Zeit ausführlich eingeordnet werden, so dass wichtige Einblicke sowohl in die Intentionen der Seelsorge wie in die Grundzüge der lutherischen Theologie im späten 16. und frühen 17. Jh. vermittelt werden. Praktische Theologie, vor allem Poimenik, und Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte im Luthertum des konfessionellen Zeitalters werden bei der Interpretationsarbeit in dieser Untersuchung eng aufeinander bezogen, weil sie von der These ausgeht, "daß lutherische Theologen des späten 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts das Ziel ihrer theologischen Bemühungen ... in Lehre, Trost, Ermahnung und Warnung der Gläubigen gesehen und so eine bemerkenswerte Synthese von Dogmatik und Erbauung, von doctrina und pietas geschaffen haben" (21).

Die Einleitung informiert über den Forschungsstand zur lutherischen Predigt-, Trost- und Erbauungsliteratur des 17. Jh.s, gibt einen knappen Überblick über Leben und Werk des Sigismund Scherertz und stellt denjenigen theologischen Denkhorizont kurz vor, auf den hin dann die seelsorgerlichen Schriften des Sigismund Scherertz interpretiert werden. Es ist ein bewusst nicht zu eng gehaltener Komplex von dogmatischer Literatur des späten 16. und frühen 17. Jh.s zwischen 1570 und 1620. In eine stattliche Reihe dogmatischer Schriften lutherischer Theologen werden Exkurse unternommen, deren Bekanntheit auch unter Theologiehistorikern nicht übermäßig groß ist: das "Examen Theologicum" von Tilemann Heshusen, das "Compendium Theologiae" des Jakob Heerbrand, die "Margarita Theologica" des Adam Franciscus, die "Loci Theologici" von Matthias Hafenreffer, Leonhard Hutters "Compendium Locorum Theologicorum" und dessen "Loci Communes Theologici". Natürlich fehlen auch nicht die "Loci Theologici" Johann Gerhards. Zu diesen dogmatischen Gesamtdarstellungen kommen noch Einzelschriften von Georg Mylius, Friedrich Balduin, Balthasar Meisner, Martin Chemnitz, Aegidius Hunnius, Johannes Schröder, Balthasar Mentzer und Michael Walther. Auch verschiedene akademische Gutachten zu ethischen, seelsorgerlichen und dogmatischen Fragen werden in die theologischen Erörterungen einbezogen. Selten wird man auf so breiter Grundlage über zentrale theologische Themen in der lutherischen Theologie Deutschlands auf der Wende vom 16. zum 17.Jh. knapp und dennoch gründlich informiert. Wenn auch in vielen zentralen theologischen Sachfragen Übereinstimmungen bestehen, werden doch auch z. T. nicht unerhebliche Lehrdifferenzen zwischen den einzelnen lutherischen Theologen des konfessionellen Zeitalters deutlich. Methodisch werden zunächst die Traktate des Sigismund Scherertz von ihrem biographischen und zeitgeschichtlichen Hintergrund her analysiert, sodann wird ihrer Verankerung in der lutherischen Dogmatik seiner Zeit nachgegangen, um schließlich auf die Vermittlungsperspektive von Theologie und Seelsorge in diesen Traktaten aufmerksam zu machen. Wie eng Theologie und Praxis, Dogmatik und Seelsorge zu dieser Zeit aufeinander bezogen sind, zeigt sich gerade an dem lutherischen Pfarrer Sigismund Scherertz besonders eindrücklich.

Seine Seelsorge-Traktate stehen in engster Beziehung zu seinen schweren Lebenserfahrungen. Der in Sachsen geborene Scherertz studierte an den Universitäten Leipzig und Wittenberg, erlangte aber keinen Universitätsabschluss und wurde nach Pfarrstellen in Sachsen und Böhmen 1619 Pfarrer an der Prager Dreifaltigkeitskirche. 1622 mussten Scherertz und seine lutherischen Kollegen Prag und Böhmen verlassen. Über Dresden kam er noch im selben Jahr nach Lüneburg, wo er zum Pfarrer an der St. Lamberti-Kirche berufen wurde. Dies könnte auf Vermittlung des Oberhofpredigers von Hoeneggs geschehen sein. "Das wäre dann ein äußerst bemerkenswerter Vorgang, wenn der als unbeugsamer Anhänger einer kompromisslosen Orthodoxie verschriene Hoenegg im Jahre 1622 einen Pfarrer in eine Gegend wie das Fürstentum Lüneburg vermitteln konnte. War dieses Fürstentum doch in besonderer Weise durch seinen 1621 verstorbenen Generalsuperintendenten Johann Arndt (1555-1621) geprägt ..." (32). Im Jahre 1626 starben sieben seiner Kinder an der Pest. 1629 wurde er zum Stadtsuperintendenten in Lüneburg gewählt. Zu dem Theologenkreis, mit dem Herzog August von Braunschweig-Lüneburg in Kontakt stand, gehört auch Scherertz. Seine letzten Lebensjahre waren durch die schwere schwedische Besatzungszeit geprägt. Die meisten seiner Predigten und Traktate erschienen bei den Gebrüdern Stern in Lüneburg.

Der unfreiwillige Abschied von seiner Prager Gemeinde und seine weitere seelsorgerliche Verantwortung für sie, die Fragen nach der Legitimität seiner Flucht aus Prag und der Konflikt mit den staatlichen Gesetzen bildeten den Hintergrund für seine literarische Tätigkeit aus dem Lüneburger Exil. Seine Sendschreiben nach Prag dienen ganz wesentlich auch der Selbsttröstung. Nachdem das protestantische Bekenntnis und die pastorale Versorgung der protestantischen Gemeinden nach 1622 strikt verboten waren, lief die fortdauernde Korrespondenz mit seiner Gemeinde auf geistlichen Widerstand hinaus. Er forderte seine Leser zum öffentlichen Bekenntnis der lutherischen Kirche auf. In dieser Haltung stimmt Scherertz mit Tilemann Heshusen und vielen anderen Theologen des älteren Luthertums überein.

In eingehenden Analysen werden im Hauptteil der Arbeit zunächst drei Trostschriften des Sigismund Scherertz an seine ehemalige Prager Gemeinde im Kontext der zeitgenössischen lutherischen Theologie vorgestellt, sodann Traktate aus dem Jahre 1626, die die Kriegsthematik in einer äußerst kritischen Phase des Dreißigjährigen Krieges in Form einer Unterrichtung für christliche Soldaten und einer seelsorgerlichen Begleitung für Kriegsopfer zum Ausdruck bringen. Im letzten Teil wird ein Werk von Scherertz aus dem Jahre 1628 interpretiert, das sich dem Trost für Eltern früh verstorbener Kinder widmet. Eine breite Palette von seelsorgerlichen Themen mit ihren dogmatischen Entsprechungen aus der lutherischen Theologie der Zeit tritt vor die Leser, aus denen folgende herausgehoben seien: Die Ermahnungen zur Glaubensbeständigkeit, die zentrale Bedeutung der Buße auf dem Hintergrund der lutherisch-orthodoxen Bußlehre, die Mahnung zur consolatio fratrum und die Anleitung zur Sterbebegleitung, die Anfechtungen durch den Ausfall der Abendmahlsfeiern, die Bedeutung der geistlichen Nießung des Abendmahls, der Kampf gegen die Prädestinationszweifel auf dem Hintergrund der lutherischen Erwählungslehre. In einem Exkurs kommt die Deutung von Not und Anfechtung bei Luther und in der lutherischen Dogmatik als Instrumente göttlicher Pädagogik zum Ausdruck. Der Vf. stellt fest: "Bemerkenswert ist die Beobachtung, daß die angeführten Autoren ihre dogmatischen Thesen mit zum Teil ganz verschiedenen biblischen dicta probantia belegen ... Die lutherische Dogmatik des konfessionellen Zeitalters ist demzufolge keine stereotype Aneinanderreihung von immer gleichen Bibelstellen, sondern eine aus der individuellen Auseinandersetzung mit der Schrift geschöpfte und gewonnene Theologie. Eine Trennung von Dogmatik und Seelsorge ist im Kontext der theologischen Reflexion über Not und Anfechtung kaum möglich" (109 f.). Erneut wird durch die Arbeit des Vf.s die erhebliche seelsorgerliche Bedeutung von schriftlichen Predigtnotizen und Postillen sowie von Erbauungsschriften zur Zeit der lutherischen Orthodoxie deutlich. Bei den Lektüreempfehlungen von Scherertz an seine Leser fehlen interessanterweise die Schriften Johann Arndts. Der Vf. sagt etwas rasch: "Aus diesem Umstand kann eine gewisse Distanz zur Arndtschen Frömmigkeit geschlossen werden" (127).

In einem seiner Traktate vertritt Scherertz die strikte Ablehnung einer Abendmahlsfeier durch Nichtordinierte. Er kann sich hierbei auf eine Briefäußerung Luthers aus dem Jahre 1535 berufen, jedoch steht dieses Verbot in einer gewissen Spannung zu Luthers Konzeption vom Priestertum aller Gläubigen. Die restriktive Haltung in dieser Frage wird in dieser Zeit allmählich zur communis opinio unter lutherischen Theologen, aber mit gewichtigen Ausnahmen: Tilemann Heshusen und der Erfurter Pastor Johannes Gallus vertreten die Auffassung, dass im Notfall durchaus auch Laien die Administration des Abendmahls erlaubt sei. "Diese erhebliche Lehrdifferenz erweist die lutherische Theologie des konfessionellen Zeitalters als keineswegs monolithisches, statisches Gebilde, das über keine theologische Bandbreite verfügt" (133). Die Sorge vor antitrinitarisch bzw. spiritualistisch ausgerichteten Wanderpredigern als eine nicht unerhebliche Gefahr für die verwaiste lutherische Gemeinde hat wohl Scherertz in seiner Haltung eines Verbots von Abendmahlsfeiern durch Nichtordinierte bestärkt.

Im Zusammenhang der Kriegstrostschriften von Scherertz werden verschiedene Aspekte der Deutung des Krieges in der lutherischen Theologie herausgestellt. Auch in den Trosttraktaten für Soldaten wird die enge Verbindung von lutherischer Dogmatik und seelsorgerlicher Erbauung deutlich. Vf. bemerkt jedoch dazu: "Angesichts der Grausamkeiten, welche die Heere des Dreißigjährigen Krieges zu verantworten haben, sind freilich Zweifel daran angebracht, ob Soldatenparänesen wie die Scherertzsche sonderlich wirkungsvoll gewesen sind" (203). In einer Trostschrift für alle unter dem Krieg leidende Menschen stellt Scherertz die Wirkmächtigkeit des bußfertigen Gebetes heraus. Die tiefe Verwurzelung seiner Seelsorge in der Theologie der Zeit zeigt eine knappe Zusammenfassung der lutherischen Lehre vom Gebet (204-208).

In seiner Seelsorge an Eltern früh verstorbener Kinder stellt Scherertz zwei Trostgründe in den Mittelpunkt: Angesichts der Unabwendbarkeit des Todes und des Verbleibens der Verstorbenen in der Machtsphäre Gottes rät Scherertz den Trauernden, nicht die gegenwärtige Not, sondern die Geborgenheit der Kinder in den liebenden Händen des Vaters festzuhalten. Der zweite Trostgrund ist die Zusage, dass sich Eltern und Kinder im Jenseits wiedersehen werden. Die Verankerung beider Trostgründe in der lutherischen Dogmatik der Zeit wird eingehend erörtert, wobei das glückliche Wiedersehen der beati und die Betonung ihrer Leiblichkeit in der vita aeterna als Grundüberzeugungen der lutherischen Lehre von den letzten Dingen zum Ausdruck kommen. Für alle Trostschriften von Scherertz gilt: "Die lutherische Dogmatik ... ist für Scherertz die matrix der Seelsorge" (264).

Die in einer klaren Sprache geschriebene, glücklicherweise nicht zu umfangreiche Untersuchung von Bitzel hat ihre Ausgangsthese von der charakteristischen Synthese von doctrina und pietas, von Theologie und Seelsorge im späten 16. und frühen 17. Jh. überzeugend bestätigt. Dabei werden die Unterschiede zwischen Dogmatik und Poimenik keineswegs übersehen, vielmehr wendet Scherertz, wie viele andere Theologen seiner Zeit, große Mühe auf, die theologische Lehre homiletisch und poimenisch zu vermitteln, wobei die Sensibilität des Eingehens auf die vielfältigen, individuellen Nöte und Anfechtungen seiner Adressaten hervortritt, ein Phänomen, das Scherertz mit vielen seiner Zeitgenossen teilt. An der Untersuchung von B. wird ebenfalls deutlich, wie sehr die Seelsorge dieses Theologen in derjenigen Luthers verankert ist. "Der Reformator war somit nicht nur der Vater der lutherisch-orthodoxen Theologie, sondern auch der Mentor lutherisch-orthodoxer Seelsorger" (267). Ein ausführliches Literaturverzeichnis und ein Personenregister beschließen diese Untersuchung, die einen wesentlichen Beitrag zur Geschichte der Seelsorge im älteren Luthertum und zu zentralen Themen der lutherischen Theologie um 1600 darstellt. Auf ihrer Grundlage scheint mir eine weitere Erkundung des Verhältnisses von Scherertz zu Arndt besonders aufschlussreich.

Ein kleiner Schönheitsfehler des gut lesbaren Buches ist der sehr häufig vorkommende unglückliche Begriff "Troststrategien" und die sich vielfach wiederholende Wendung "ins Treffen führen".