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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1066–1068

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Treidel, Rolf Jürgen

Titel/Untertitel:

Evangelische Akademien im Nachkriegsdeutschland. Gesellschaftspolitisches Engagement in kirchlicher Öffentlichkeitsverantwortung.

Verlag:

Stuttgart-Berlin-Köln: Kohlhammer 2001. 258 S. m. 3 Tab. gr.8 = Konfession und Gesellschaft, 22. Kart. Euro 29,65. ISBN 3-17-016878-9.

Rezensent:

Siegfried Bräuer

Die Literatur über die Evangelischen Akademien ist überschaubar. Vorherrschend ist der Aspekt der Erwachsenenbildung. Zu den wenigen zeitgeschichtlichen Arbeiten gehören drei Aufsätze, in denen Treidel seit 1993 Teilergebnisse der nun vorliegenden Untersuchung veröffentlicht hat. Diese wurde 1997 vom Fachbereich Geschichtswissenschaft der Universität Hamburg als Diss. angenommen. Die archivalische Basis konnte T. während seiner Beteiligung am Forschungsprojekt "Geschichte der Ev. Akademien nach 1945" (Univ. Münster/Histor. Seminar 1992-1995) erarbeiten. Die Untersuchung ist klar disponiert. Im einleitenden Abschnitt A äußert sich T. u. a. zum zeitlichen Rahmen (1945-1961) und zur Forschungslage. Abschnitt B informiert in gestraffter Form über institutionelle Strukturen und Rahmenbedingungen der Akademien, über die Anfänge und Entwicklungen, die finanzielle Ausstattung sowie über das unterschiedlich akzentuierte Selbstverständnis (Spannungsverhältnis zwischen Missionsauftrag, Gemeinde und moderner Welt). Interesseleitend ist für T. die These, dass die Akademien als die entscheidenden evangelischen Institutionen wegbereitend für die sozial-politische Meinungsbildung im deutschen Protestantismus nach 1945 waren. Niederschlag fand das in der Beteiligung an den Diskussionen zur Sozial- und Wirtschaftsordnung (Abschnitt C) und am Gespräch der Kirche mit Politikern und Parteien (Abschnitt D).

Anhand der Kontroverse um Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung, die von der Spannung zwischen zweckrationalen, funktionalisierten Sozialmodellen und ethisch motiviertem Patriarchalismus durchzogen war, arbeitet T. heraus, dass im Protestantismus vor allem die Auffassung eines vertrauensvollen Miteinanders von Kapital und Arbeit vertreten wurde. Sie bestimmte die frühe Diskussion in den Akademietagungen wie in der EKD-Synode von Espelkamp 1955. Einfluss auf die Akademien gewannen ordoliberale Vorstellungen des "Freiburger Bonhoeffer Kreises". Einig im Ziel, den sozialen Frieden zu sichern, wurden in den einzelnen Akademien auf Grund verschiedener Voraussetzungen und Bedingungen die Akzente unterschiedlich gesetzt. Das zeigt T. durch entsprechende Untersuchungen der Akademiearbeit in Bad Boll, Hermannsburg/Loccum, Nordrhein-Westfalen und West-Berlin auf. In Bad Boll war fast die Hälfte der ca. 1263 Tagungen von 1945- 1960 dem Wirtschaftsleben gewidmet. Prägend waren vor allem die mittelständischen Unternehmen Württembergs und der Akademieleiter Eberhard Müller mit seinen Vorstellungen eines Mitbestimmungsmodells (Idealisierung partnerschaftlicher Arbeitsverhältnisse). T. weist auf die Bedeutung Bad Bolls für die Verflechtung von Wirtschaftselite und protestantischen Kreisen hin, obgleich Müllers Versuch, mit der Gründung der "Wirtschaftsgilde" einen Verband protestantischer Unternehmer mit gesellschaftspolitisch-seelsorgerlichen Zielen zu schaffen, wenig Erfolg hatte. Für Hermannsburg/Loccum war die rheinische Großindustrie vorrangiger Gesprächspartner. Akademieleiter Johannes Doehring orientierte sich am Ideal der alleinverantwortlichen Unternehmerpersönlichkeit. Ziel war nicht, wirtschaftspolitische Positionen zu vermitteln, sondern zur Überwindung materialistischer Grundpositionen beizutragen. In der Diskussion um die Mitbestimmungsfrage gingen die Vertreter der Kirche (Landesbischof Hanns Lilje) weithin noch von vorindustriellen Strukturen in Eigentums- und Wirtschaftsfragen aus. Erst mit Verzögerung und durch die Priorität der Kontakte zur Montanindustrie in Hermannsburg/Loccum gehemmt, kam eine entsprechende Akademiearbeit in Nordrhein-Westfalen in Gang. Die als Frucht des Kirchentags von 1951 entstandene Westberliner Akademie war weniger auf die Begleitung der Wirtschaftsentwicklung, sondern stärker auf Fragen der Gerechtigkeitsethik und auf Ost-West-Kontakte ausgerichtet. Das war durch die geographische Lage, aber auch durch das persönliche Interesse ihres Leiters Erich Müller-Gangloff begründet.

Bei der Entwicklung ordnungspolitischen Gedankenguts in den Akademien und in der EKD im Zuge der Diskussion um die Eigentumsfrage, die Problematik der Vermögensbildung in Arbeitnehmerhand und den Lastenausgleich vertraten die Akademien keine einheitliche Linie. Dennoch kann T. eine gewisse Homogenität der Leitbilder im Sinne des Konzepts "Mitverantwortung anstelle von Mitbestimmung" feststellen. Das entspricht nach seiner Sicht der ordoliberalen Einstellung der evangelischen Kirchenleitung während der Adenauerära. Neue Herausforderungen und damit auch neue Spannungen brachte die Ablösung der traditionellen Industrien durch moderne Technologien und in ihrem Gefolge die Begegnungen mit einer neuen Managergeneration in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre. Auf generelle systematische Differenzen macht T. zwischen den Positionen E. Müllers (Sorge um die Funktionalität der modernen Industriegesellschaft, Orientierung an der teleologischen Wirtschaftsethik des englischen Empirismus) und E. Müller-Gangloffs (menschenwürdiges Leben als Wirtschaftsziel, Orientierung an einer aristotelischen Tugendlehre) aufmerksam.

In seiner Darstellung der Evangelischen Akademien als Ort des Gesprächs mit Politikern und Parteien geht T. zunächst auf den "Arbeitskreis Ev. Akademie beim Rat der EKD" ein, der von dem Pädagogen Oskar Hammelsbeck geleitet wurde. Wegen Bedenken gegen Hammelsbecks bruderrätlicher Ekklesiologie und wegen der landeskirchlich organisierten Akademiearbeit war die Wirkung begrenzt. Die Politikertagungen der einzelnen Akademien hatten ein unterschiedliches Profil. Doehring gestand der Politik nur eine pragmatische Funktion zu. So war in Loccum weniger der konkrete Kontakt zu bestimmten Parteien Ziel der Gesprächstagungen als vielmehr die Einübung in die Demokratie. Problematisch gestaltete sich das Gespräch mit der FDP durch deren weitgehend ökonomisch begründete wirtschaftsliberale Haltung. Die kirchlichen Vertreter waren eher an einer ethischen Fragestellung interessiert. Für die Politikertagungen der Akademie in Arnoldshain war das Problem der Toleranz in der Demokratie zentral. Aus den gleichen Gründen wie in Niedersachsen misslang auch in Hessen-Nassau der Kontakt zur FDP. Bedingt durch die besondere Situation standen in der Arbeit der West-Berliner Akademie Ansätze zum Ost-West-Dialog im Mittelpunkt, die Müller-Gangloff den Verdacht der Sowjethörigkeit einbrachten. Eberhard Müller, der diesen Vorwurf vor allem erhob, erweckte mit seinen Aktivitäten andererseits den Eindruck einer einseitigen Solidarisierung mit der Politik Adenauers, so dass Ratsmitglieder der EKD die kirchliche Neutralität gefährdet sahen. Tagungen zu Sachfragen traten deshalb mit der Zeit an die Stelle von reinen Politikertagungen. Bei aller Begrenzung, gehören die Politikertagungen nach dem Urteil T.s zu den wichtigen Anpassungsleistungen der Evangelischen Akademien bei der Neuorientierung nach 1945. Er betont, dass die Akademien an der Innovation im deutschen Protestantismus beteiligt gewesen sind, ein Parteiensytem und demokratische Ordnungsprinzipien zu akzeptieren. Sie hätten einen Beitrag zu einem neuen Verhältnis zur Obrigkeit geleistet, das Denken in Rechristianisierungskategorien zu überwinden geholfen und Sachdiskussionen mit Vertretern von Wirtschaft und Politik ermöglicht.

Der Gewinn der hier nur grob nachgezeichneten auf archivalische Quellen gestützten Untersuchung für die Geschichte der Evangelischen Akademien und für die Geschichte der evangelischen Kirchen in der Phase der Neuorientierung nach 1945 insgesamt ist beträchtlich. Erhellend ist T.s Bemühen, die unterschiedlichen Grundkonzeptionen und ihre wirtschafts- wie geistesgeschichtlichen Abhängigkeiten aufzuweisen. Bedenken gegen die Inanspruchnahme sozialwissenschaftlicher Kategorien (z. B. 225: Heinrich Kosts Herkunft aus dem "preußisch-protestantischen Bergassessorenmilieu" als Grund für seine ethische Fundierung) stellen sich hierbei jedoch zuweilen ebenfalls ein. Die theologischen Prägungen der Akademieleiter bleiben leider genauso außer Acht wie die spirituellen Verwurzelungen (z. B. DESV u. a. bei Lilje, Eberhard Müller und Emil Sörensen). E. Müllers Verdächtigung Müller-Gangloffs weist T. sicherlich zu Recht zurück. Die Quellenlage ist aber komplizierter als sie bei T. erscheint (die BstU-Akten des IM Gerhard Seidowsky über Müller-Gangloff sind T. unbekannt geblieben).

Corrigenda: Friedrich Karl Schumann (105.258); Horst Wilke (259).