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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1064–1066

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Samerski, Stefan [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds.

Verlag:

Berlin: Duncker &Humblot 2001. 320 S. m. 15 Abb. gr.8 = Forschungen zur Brandenburgischen und Preussischen Geschichte, Neue Folge, Beiheft 5. Kart. Euro 69,00. ISBN 3-428-10406-4.

Rezensent:

Gangolf Hübinger

Thomas Nipperdey hat für seine viel gelesene "Deutsche Geschichte" des 19. Jh.s die Zwischentöne gegenüber jeder Schwarz-Weiß-Malerei bevorzugt, aber er machte zuweilen Ausnahmen. Das Porträt Wilhelms II. insbesondere zeichnete er nicht in solchen Schattierungen. Er hielt den preußischen König und deutschen Kaiser schlicht für ein Unglück in der deutschen Geschichte. Jetzt liegt ein Sammelband vor, der unter dem mehrschichtigen Titel "Wilhelm II. und die Religion" von zwei ungewöhnlichen Prämissen ausgeht, um diese Sicht zu revidieren und neue biographische und zeitgeschichtliche Akzente zu setzen. Die erste Prämisse aus der Einleitung des Herausgebers lautet: Selbst intensivste biographische Literatur zu Wilhelm II. habe "nur unwesentlich auf die Geschichtsschreibung des Kaiserreichs auszustrahlen" vermocht. Die zweite Prämisse behauptet dazu eher das Gegenteil: Wilhelm II. sei historiographisch zu stark für den Bruch in der deutschen Geschichte von 1918 verantwortlich gemacht worden. Wer "Wesen und Wirken des Kaisers" erfassen will, solle sich "abseits des primär politischen Fragehorizontes" bewegen und "von jedem Moralisieren fern" halten. Des Moralisierens will ich mich gern enthalten, das ist selbstverständlich ein Gebot auch für Rezensenten. Aber wie befragt man einen Kaiser, der laut Artikel 11 der Reichsverfassung das "Präsidium des Bundes" mit mächtigen Befugnissen ist, "abseits" der Politik, wenn man mit ihm die Geschichtsschreibung des Kaiserreichs neu beleben will?

Zweifelsfrei haben die Autoren dieses Bandes Recht, im Themenfeld "Religion" einen Bereich zu sehen, der nicht im Zentrum der bisherigen Biographik gestanden hat und der auf manche Bereiche der gut erforschten Epoche neues Licht wirft. Das Thema "Wilhelm II. und die Religion" wird in drei Dimensionen entfaltet. Ein Aspekt gilt Wilhelms persönlicher Religionsauffassung und Religiosität. Aber immer wieder zeigen sich die fließenden Übergänge zur öffentlichen Selbstinszenierung; deshalb wird der Einfluss seiner Regierung auf das religiöse Leben und die kirchlichen Institutionen in seinem Herrrschaftsbereich ausführlich dargestellt. Schließlich sind die charismatischen Zuschreibungen, die Person und Amt exemplarisch erfahren haben, ein Thema des Bandes und werfen in der Tat neues Licht auf die religiöse Qualität der Kaiser-Verehrung.

Die denkbar weiteste Entfernung wird eingenommen, um den Band mit einer überraschenden ästhetischen Perspektive zu eröffnen. Patrick Bahners stellt auf eindringliche Weise die Schriften vor, in denen Rudolf Borchardt den Kaiser "als Dichter und darum als Politiker" und als "dämonischen Vermittler zwischen Göttern und Menschen" sieht. In einer Gegenrede zum Expfarrer und liberalen Politiker Friedrich Naumann, der an einer Versöhnung von Demokratie und Kaisertum immer mehr zweifelte, wird in Borchardts Publizistik Wihelm II. mit heilsgeschichtlichen Attributen versehen. In manchen lebensreformerischen Kreisen wurde die Frage ähnlich aufgeworfen, "wie weit ist Wilhelm II. der Führer für die schöpferischen Kräfte unserer Zeit" (Eugen Diederichs); aber nirgendwo geriet er so wie bei Borchardt zum Dreh- und Angelpunkt einer poetischen und politischen Theologie.

Die folgenden Beiträge holen Wilhelm II. dann wieder stärker auf den Boden der sozialen Konflikte und kirchenpolitischen Entscheidungen zurück. Martin Friedrich bemängelt die unzulängliche theologische Erziehung, die der junge Wilhelm durch seinen Lehrer Hinzpeter erhalten habe. Dadurch sei sein aufrecht erhaltener Anspruch auf das Gottesgnadentum zur Phrase verkommen. Klaus Erich Pollmann betont in einer Gesamtbetrachtung der kaiserlichen Haltung zum Protestantismus in ähnlicher Weise die äußerlich gewordene Inszenierung von Religion im Gegensatz zum schlichten Luthertum seines Großvaters. Unvermeidlich in einem solchen Band ist die Betrachtung des erst emphatischen, dann zunehmend gespannten Verhältnisses des Kaisers zu seinem antisemitischen Hofprediger Adolf Stoecker (Norbert Friedrich). Von dessen Christlich-sozialer Bewegung distanzierte sich Wilhelm in dem Maße, wie er sie nicht mehr als Variante seiner Machtpolitik nutzbar machen konnte. In der Mitte des Bandes steht ein ausführlicher Beitrag von Bastiaan Schot über "Wilhelm II., die Evangelische Kirche und die preußische Polenpolitik".

Diese Frage aufzuwerfen, war in der Tat einmal dringend erforderlich. Die Leser werden sich allerdings auf gut 30 Seiten durch die Geschichte der Hohenzollernmonarchie seit den polnischen Teilungen von 1772 durcharbeiten und problematische Urteile über Preußens territoriale Einheit zur Kenntnis nehmen müssen, bevor Wilhelms persönliche Haltung zur Sprache kommt. Ein unschlüssiger Herrscher wird vorgestellt, und unklar bleibt, ob die militante Ostmarkenpolitik seiner von den nationalistischen Kampfverbänden unterstützten Administration seine ungeteilte Zustimmung fand. Mehrere Beiträge betonen die Konzilianz des protestantischen summus episcopus gegenüber den Katholiken. In seiner Theorie des sakralen Königtums von Gottes Gnaden war Wilhelm II. sehr auf ausgleichende Überwindung des schleichenden Kulturkampfes während seiner Regierungszeit bedacht. Jürgen Strötz untersucht unter dieser Prämisse "Wilhelm II. und der Katholizismus", während Stefan Samerski die Priorität umkehrt und seinen Beitrag in mittelalterlicher Analogie "Papst und Kaiser" überschreibt. Gegen den Hauptgegner, den Verfasser der opulenten Wilhelm-Biographie John C. G. Röhl, entwickelt Samerski seine Sicht von der imponierend väterlichen Autoritätsfigur Leos XIII. Sie habe Wilhelm II. sogar zu einer noch nicht staufisch emanzipierten, frühmittelalterlichen Akzeptanz eines verfassungsmäßigen Rangverhältnisses von Papst und Kaiser gebracht. Gleich der nachfolgende Beitrag von Jürgen Krüger über das in den Kirchenbauten besonders zur Schau gestellte Sakralverständis zeigt einen anderen Kaiser. In den Salvatorkirchen stellt er die sakrale Kunst in den Dienst seiner changierenden Staatsidee und gefällt sich selbst in der Pankreatorpose. Das dürfte dem Dichter Rudolf Borchardt besser gefallen haben als den katholischen Theologen. Wie der Beginn nimmt der Schluss des Bandes einen ungewöhnlichen Blickwinkel ein. Der Afrikaforscher und Kulturmorphologe Leo Frobenius hat Wilhelm II. in den 1920er Jahren im Doorner Exil für seine kulturmorpologischen Theorien eingenommen. In der Semantik des Generalthemas spricht Michael Spöttel Frobenius sogar eine charismatische Einwirkung auf den alten Kaiser zu. Mitnichten sei es um eine rein christliche Begründung seiner Herrschaft gegangen. Frobenius habe ihm endgültig die Augen geöffnet für die heidnischen Wurzeln des Christentums, die Brücke zwischen Asien und Europa.

In derart heterogenen Ausdeutungen ist der Band durchaus anregend, auch wenn es methodisch gar nicht gelingen kann, religiöse Persönlichkeitsstruktur und politischen Fragehorizont so zu trennen, wie es die einleitende Leseanleitung vorschlägt.