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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1062–1064

Kategorie:

Kirchengeschichte: Neuzeit

Autor/Hrsg.:

Hey, Bernd [Hrsg.]

Titel/Untertitel:

Kirche, Staat und Gesellschaft nach 1945. Konfessionelle Prägungen und sozialer Wandel.

Verlag:

Bielefeld: Luther-Verlag 2001. 318 S. m. Abb. gr.8 = Beiträge zur Westfälischen Kirchengeschichte, 21. Kart. Euro 24,90. ISBN 3-7858-0424-5.

Rezensent:

Sebastian Engelbrecht

Ein scheinbar stilles Kapitel der Kirchengeschichte des 20. Jh.s haben sich Historiker auf einer Tagung im März 2000 in Schwerte vorgenommen: die "Nachkriegszeit" im Westen Deutschlands, insbesondere in Westfalen. Sie forschten jenseits der spektakulären, in der breiten Öffentlichkeit diskutierten kirchenhistorischen Räume und Zeiten, jenseits der Kirche im Nationalsozialismus und in der DDR. Bernd Hey, Landeskirchenarchivdirektor der Evangelischen Kirche von Westfalen in Bielefeld, hat die Tagung und den dazu vorliegenden Aufsatzband als Vorsitzender der Kommission für kirchliche Zeitgeschichte seiner Kirche initiiert. Er bezog die katholischen zeitgeschichtlichen Kommissionen des Bistums Münster und des Erzbistums Paderborn in das Konzept ein. So stehen Aufsätze mit Forschungsschwerpunkten aus dem Bereich der katholischen und der evangelischen Kirche nebeneinander. In dem interkonfessionellen Ansatz des Sammelbandes besteht sein Reiz. Die konfessionelle Selbstbezogenheit wird aufgebrochen zu Gunsten paralleler Untersuchungen, zum Beispiel über Leitungs- und Verwaltungsstrukturen, Entwicklungen in Diakonie und Caritas, das Theologiestudium und den Religionsunterricht.

So entsteht das Bild einer vermeintlich ruhigen Epoche der westfälischen Kirchengeschichte. Die Kirchen lebten im Westen Deutschlands, zumal in Westfalen, frei von Existenzsorgen und gehörten gar zum moralischen Rückgrat der bundesrepublikanischen Gesellschaft. Die Dynamik dieser Zeit liegt im Innenleben der Kirchen. Der Reform- und Planungselan, die allgemeine Lust an der Gesellschaftskritik und die Revolutionsstimmung der späten 1960er Jahre - all das schlug sich auch im Leben der Kirchen nieder. Den Schwerpunkt des Bandes bilden diese bewegten 1960er Jahre. Entgegen der Definition von Axel Schildt von der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg, der das Ende der "Nachkriegszeit" schon mit den 1960er Jahren gekommen sieht, fasst Bernd Hey die Epoche weiter und lässt Beiträge zu, die bis in die 1980er Jahre reichen.

Das Spektrum der Autoren reicht weit über die kirchenhistorischen Lehrstühle an theologischen Fakultäten hinaus. Auch Geistliche, Angehörige kirchlicher Verwaltungen und Lehrer gehören dazu. Einige Autoren schreiben erkennbar aus der Doppelperspektive des wissenschaftlichen Analytikers und des Zeitzeugen.

Vor den regionalgeschichtlichen Detailstudien stehen drei Aufsätze, die den historischen Kontext darstellen: Axel Schildt analysiert die "zivilisatorische Modernität" der 1960er Jahre in Politik, Gesellschaft und Kultur. Seine Darstellung reicht von der Entstehung der multikulturellen Gesellschaft über den Wandel im Städtebau, den neuen Massenkonsum, die Liberalisierung der Sexualaufklärung bis hin zur führenden Rolle der "Frankfurter Schule" in der Sozialwissenschaft, die Politisierung der Schriftsteller und den Protest der "68er". Frank-Michael Kuhlemann beschreibt den grundlegenden Wandel des protestantischen Milieus in den ersten 20 Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg. Die "eigentliche Zäsur der Protestantismusgeschichte nach 1945" liegt für Kuhlemann in der Lösung aus "alten Verstrickungen und alten kulturellen Identitäten". Die nationalkonservative Stimmungslage und das autoritäre Obrigkeitsideal wichen republikanischen und demokratischen Überzeugungen. Das "nationale Sendungsgefühl" ging den Protestanten verloren, und ihre "Verwestlichung" ließ sich bereits in den 50er Jahren feststellen. Damit war nicht nur der Bruch mit der Zeit vor 1945, sondern auch mit der protestantischen Mentalität der 1920er und 1930er Jahre vollzogen. Wilhelm Damberg schließlich stellt die "kirchenzentrierte Reorganisation" der katholischen Kirche in Deutschland dar, den Abschied vom "vergesellschafteten" Katholizismus vor 1933 und die Zielrichtungen des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-65). Die Entdeckung theologischer Paradigmen wie des "Priestertums aller Gläubigen" und des "Volkes Gottes" führten zu einer neuen Bedeutung der Laien. Im katholischen Bewusstsein traten die "Öffnung" zur Welt und der "Dialog" mit ihr an die Stelle der Dichotomie aus der Heilsinstanz Kirche und einer Welt des Unheils.

Auf diese erhellenden Kontext-Studien zum Wandel innerhalb der beiden großen Konfessionen und in der westdeutschen Gesellschaft folgen 13 Einzeluntersuchungen. Hervorzuheben sind zwei Artikel über die Reform der Kirchenleitungen und Verwaltungen. Wilhelm Damberg analysiert den rasanten Ausbau eines schwer überschaubaren "Rätesystems" im Bistum Münster in den Jahren 1967 bis 1972. Im Gefolge des Zweiten Vaticanums erlangten so die Laien im Bistum und in Pfarrgemeinden Mitspracherechte. Orientiert an der neuen Devise einer Kirche, die zum Dienst an den Völkern bestimmt sei, entstand in den Jahren 1969/70 ein "Strukturplan". Danach sollten unter anderem "Großpfarreien" eingerichtet werden. Diese Stärkung der "mittleren Ebene" zwischen Pfarreien und Bistumsleitung sollte zu größerer Effektivität und intensiverer Arbeit an einzelnen Themen führen. Während die Leitungsreformen aus den 1960er Jahren bis heute wirksam blieben, verebbten die hohen Erwartungen an neue Strukturpläne schon früh.

In der evangelischen Kirche führte die Strukturdiskussion dagegen zu einem aufwändigen Umbau der Verwaltung, wie Helmut Geck in einem Aufsatz darstellt. Die Integration von Flüchtlingen, zurückkehrenden Soldaten und anderen evangelischen Neubürgern überforderte die Gemeinden, und so entstanden Ende der 1960er Jahre auf der "mittleren Ebene" Kreiskirchenämter, die Bau-, Haushalts- und Kirchensteuerangelegenheiten für die Gemeinden abwickelten. Darüber hinaus sorgte eine Finanzreform für den Ausgleich zwischen ärmeren und reichen Gemeinden.

In beiden Studien wird deutlich, dass der gesellschaftliche Wille zur Ablösung überkommener Strukturen und das wirtschaftliche Vorbild der Effektivitätssteigerung in den Kirchen einen immensen Reformdruck erzeugten. Sie belegen, in welchem Maß kirchliche Strukturen beider Konfessionen bis heute von den Reformanstößen der 1960er Jahre geprägt sind. Das gilt auch für Norbert Friedrichs Betrachtung über die evangelischen theologischen Fakultäten und ihre Studenten im Westfalen der 1960er Jahre. An der Bochumer Reformuniversität, wo ursprünglich "Weltanschauungslehrstühle" eingerichtet werden sollten, kam es zur Gründung einer neuen theologischen Fakultät, zur dritten in Westfalen neben der Fakultät von Münster und der Kirchlichen Hochschule in Bethel. Die Theologie näherte sich den Humanwissenschaften an, bezahlte dafür aber mit einem Verlust an eigener Substanz.

Darüber hinaus finden sich Untersuchungen über Protestformen der Studentinnen und Studenten, die Neuordnung der Kirchensteuererhebung, die Liturgiereform im Bistum Münster, den Konflikt um die Konfessionsschule und Konzeptionen des Religionsunterrichts, über die Regelung der gesetzlichen Feiertage in Nordrhein-Westfalen sowie die gesellschaftsbedingten Umbrüche in Diakonie und Caritas.

Die Aufsatzsammlung bietet regional begrenzten Einblick in ein Zeitalter der Reformen und einer geradezu revolutionär-optimistischen Stimmung in Kirche und Gesellschaft. Sie vermittelt einzelne Blickachsen durch das Dickicht des sozialen und konfessionellen Wandels. Insgesamt bleibt nach der Lektüre der Eindruck bruchstückhafter Erkenntnis und damit der Unübersichtlichkeit des historischen Geschehens. Für den historischen Durchblick durch diese Phase komplexer kirchlicher und gesellschaftlicher Umwälzungen ist es vielleicht noch zu früh.