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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

904–908

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Ruhe, Bernd

Titel/Untertitel:

Dialektik der Erbsünde. Das Problem von Freiheit und Natur in der neueren Diskussion um die katholische Erbsündenlehre.

Verlag:

Freiburg/Schweiz: Universitätsverlag 1997. 294 S. gr.8= Ökumenische Beihefte zur Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie, 31. Kart. sFr 54.-. ISBN 3-7278-1115-3.

Rezensent:

Christof Gestrich

Der Term "Erbsünde" weist Sünde als "nicht nur" persönliche Angelegenheit des einzelnen aus. Erbsünde, zu unterscheiden von den Tatsünden, erwies sich von jeher als denkschwierig. Zusätzlich und berechtigterweise erschwerte dann noch die historisch-kritische Bibeluntersuchung der Neuzeit die theologische Darlegung der Erbsünde durch ihr Hinterfragen der Theorie des sog. Monogenismus sowie der angeblichen historischen Sonderrolle Adams und Evas in der Geschichte der Menschheit und der Sünde.

Die Denkschwierigkeit liegt darin, daß der Mensch logischerweise nicht für etwas die Schuld und die Verantwortung tragen kann, was allen Menschen von Geburt an eignet, also von der Natur her auferlegt ist, so daß "der Mensch" in dieser Sache keinerlei Freiheit hat. Die zusätzlich noch durch die historische Bibelkritik sichtbar gemachte Problematik betrifft die schon von Schleiermacher und Kierkegaard inkriminierte frühere theologische Behauptung einer "phantastischen" Rolle Adams, der angeblich zuerst ein mehr als vollkommener Mensch gewesen sein soll (wie es ihn in der Geschichte nie gegeben haben kann), und der dann - obwohl Gottes Schöpfung "sehr gut war" - durch einen rätselhafterweise dennoch vorhandenen Satan zum tiefsten Fall veranlaßt wurde. Alle diese Probleme sind in der katholischen Theologie nach dem II. Vatikanum gleichsam voll durchgeschlagen - deutlich später als in der evangelischen Theologie. Dies führte in der katholischen Dogmatik in den zurückliegenden Jahrzehnten zu besonders zahlreichen Versuchen einer Neuausprache der Erbsündenlehre, deren gedankliches Lösungspotential (an dem evangelische Theologie ähnlich interessiert ist) in der vorliegenden Arbeit zusammengestellt, kritisch untersucht und durch einen eigenen Vorschlag des Vf.s, der überraschend an Karl Marx und marxistische Philosophie anschließt, erweitert wird. ("Der Ansatz dieser Arbeit geht davon aus, daß insbesondere die Rezeption einer materialistischen Bestimmung des menschlichen Wesens ... helfen kann, das Verhältnis von Inidividual- und Gattungsgeschichte dialektisch zu rekonstruieren ...") (17). Betreut wurde diese umsichtige, mit zahlreichen theologischen und philosophischen Entwürfen ein gedanklich eindringendes, differenziertes und im ganzen faires Gespräch führende Dissertation von Guido Vergauwen.

Die katholischen Theologen, die sich zu diesen Fragen geäußert haben, werden vom Vf. in zwei Gruppen eingeteilt. In der ersten Gruppe werden zwei klassisch gewordene, die Vorgaben für alles Weitere liefernde alternative Entwürfe aus den sechziger Jahren untersucht, die in neuer Weise zeigen wollten, daß bei allem individuellen oder persönlichen Sündigen auch ein allgemeiner Schuldzusammenhang mitwirkt. Zu fragen war und ist an dieser Stelle: Gibt es tatsächlich einen solchen objektiven Schuldzusammenhang (und ist dieser identisch mit dem, was man Erbsünde nennt)? Oder ist Erbsünde eher die in der menschlichen Freiheit liegende, personale Tiefendimension der Sünde jedes einzelnen Menschen? Läßt sich die Erbsünde entweder empirisch von einer zu beobachtenden personübergreifenden negativen Realität aus herleiten? Oder muß man sie doch vom einzelnen Menschen her entwickeln, wenngleich nicht empirisch, sondern kategorial, indem auf die allgemeinen Vorbedingungen der Freiheit geachtet wird? Für die erste Möglichkeit stellt der Vf. die Erbsündenlehre von Piet Schoonenberg vor (mit ihrem die Erbsünde zwar nicht naturhaft, aber sozial-strukturell interpetierenden Ansatz und ihrem Betonen eines allgemeinen gesellschaftlichen "Situiertseins" durch die "Sünde der Welt"). Für die zweite Möglichkeit wird die Erbsündenlehre von Urs Baumann präsentiert, die alle Sündigkeit personal-existenziell als Verkehrung der Gottesbeziehung schon im Vorraum menschlicher Freiheitsrealisierung versteht, aber die sozialen Folgen hiervon ihrerseits nicht mehr als Sünde wertet.

Nach einem zunächst noch festen Schema referiert der Vf. zuerst die entsprechenden Entwürfe und verweist zuletzt auf Punkte, die seiner Meinung nach nicht voll überzeugen ("Würdigung und Kritik"). Der Ansatzpunkt für seine Kritik ist die Vermutung bzw. die Wahrnehmung, daß ein Entwurf entweder das allgemeine negative Menschheitserbe auf Kosten der Freiheit des einzelnen überbetont, "oder umgekehrt, um den Schuldcharakter innerhalb der Erbsünde zu wahren, den Akzent der individuellen Freiheit" zu stark setzt (15 f.). In beiden Fällen ist dann die in der Erbsündentheologie notwendige Dialektik von Natur und Freiheit nicht wirklich gelungen.

In der zweiten Gruppe bzw. im zweiten Teil der Arbeit werden aktuelle katholische Entwürfe vorgestellt - wiederum unter der Fragestellung, ob ihnen die genannte Dialektik geglückt ist. Im einzelnen werden hier folgende Konzepte untersucht: "Erbsünde als Problematik individueller Existenz (Drewermann)", "Erbsünde als Problematik transzendental-geschichtlicher Freiheit (Hünermann, Hoping, Pröpper)", "Erbsünde als Problematik eines transzendentaltheologisch bestimmten Existentials (Rahner, Weger)" und "Erbsünde als soziale und strukturelle Sünde (Eichinger, Gutierrez, Veröffentlichungen des lateinamerikanischen Episkopats)" (16). - Oft kann der Vf. hier wertende Gesichtspunkte einbringen, die er der Kritik, die die hier Genannten untereinander übten, verdankt.

Besonders aufschlußreich ist die Auseinandersetzung des Vf.s mit den Konzepten von Hoping und Pröpper. Hoping hat seinen eigenen Versuch der Neuaussprache der Erbsündenlehre- trotz der berühmten thomanischen Festlegung, das peccatum originale sei das peccatum naturae - stärker an Kants transzendentales Freiheitsverständnis bzw. an Kants Theorie angebunden, daß das Böse nicht aus der Natur, sondern aus der Freiheitsbetätigung des Menschen stamme. Hoping hat hieran freilich auch einige idealistische Schwächen (wie insbesondere die Ausblendung der Freiheit des anderen neben mir) durchaus wahrgenommen. Pröpper orientiert sich in der Erbsündenlehre ebenfalls an einem transzendentalen Freiheitsbegriff, dies jedoch von vornherein in einer von Hermann Krings entfalteten, intersubjektiv verbesserten Struktur.

Das Gespräch des Vf.s mit diesen Entwürfen wiederholt in gewisser Weise die Philosophiegeschichte, sofern diese nach verschiedenen idealistischen "Korrekturen" an Kant, die ihrerseits auch wieder nicht recht befriedigt hatten, schließlich zur "Marxschen Lösung" gelangte. Ein Zwischenschritt dorthin wurde für den Vf. durch K. Rahners Betonung des materiellen Charakters des Menschseins - bei aller Bestimmung des Menschen zum Geist hin - ermöglicht. Ein weiterer Schritt auf den Lösungsversuch des Vf.s zu resultierte aus dessen Anteilnahme an der lateinamerikanischen Befreiungstheologie, deren marxistische Denkelemente im Zusammenhang ihrer Neuaussprache der Erbsünde vom Vf. für überzeugender gehalten werden als die - wie der Vf. darlegt: in sich widersprüchlichen - stets an der primären Verantwortung des Individuums für die Sünde festgemachten Lehraussagen von Papst Johannes Paul II. und der derzeitigen Römischen Kongregation für die Glaubenslehre (vgl. hierzu besonders: 168 ff.).

Generell meint der Vf., daß transzendentalphilosophische Freiheitsbegriffe "als Grundlage einer Rekonstruktion der Erbsünde als Freiheitsbestimmung" nicht genügen, weil sie letztlich alle "einseitig am Dasein des einzelnen orientiert" seien und so die konkreten geschichtlichen und zugleich sozialen Vermittlungen der Freiheit nicht angemessen in ihren Ansatz mit einbezögen (126).

Ein erster Exkurs (vor dem das Resultat vorbereitenden, abschließenden Exkurs über J. B. Metz’ Thomasrezeption und L. Althussers Marxrezeption als "Ansätze einer ,antihumanistischen’ Anthropologie", 260 ff.) gilt der Erbsündenlehre W. Pannenbergs, den der Vf. als einzigen evangelischen Theologen wenigstens eines Seitenblickes würdigt, zumal Pannenberg seinerseits z. B. P. Schoonenbergs Erbsündenlehre kritisiert hat. Doch das Ergebnis ist, gerade an dieser Kritik Pannenbergs werde deutlich, daß auch er "der individuellen, auf sich gestellten Existenz den ontologischen Vorrang vor ihrem gesellschaftlichen Dasein" einräumt (183), mithin nicht genügend würdigt, daß das Individuum und seine Freiheit bzw. seine Identitätsbildung "immer eine ökonomische und politisch-administrative Infrastruktur" aufweist "als notwendige Form des In-der-Welt-Seins und der Mitmenschlichkeit" (vgl. 178). Pannenberg bestimme die (das Sündigen evozierende, aber zugleich für das Humanum notwendige) "Exzentrizität" des Menschlichen zwar im Blick auf das Verhältnis Mensch-Gott und das Verhältnis Mensch-Welt (bzw. Mensch-Tier, -Pflanze usw.), aber er überspringe dabei alle gesellschaftlichen und geschichtlichen Strukturen (187).

Nachdem sich solchermaßen auch Pannenbergs Denkmittel als gleichsam noch nicht über Hegel hinausgelangt erwiesen, präsentiert der Vf. im dritten und letzten Teil des Buches seine eigene "philosophisch-materialistische Rekonstruktion des Widerspruchs von Freiheit und Natur als anthropologische Dialektik in der Bestimmung des Menschen". Durch diese Rekonstruktion auch der menschlichen Geschichte werden menschliche "Freiheit und ihre notwendig immer schon vorgegebenen materiell-stofflichen Vermittlungen ... ontologisch als Einheit" begriffen, wodurch auch das Verhältnis von personaler Sünde und Erbsünde eine angemessenere Bestimmung erhalten kann: Es wird nicht auf ein angeblich "monadisch existierendes Aktzentrum" bezogen. Allerdings setzt - und diese Grenze sieht der Vf. selbst - "die Erkenntnis der Dialektik von Sünde als persönlich zu verantwortender Tat der Abwendung von Gott einerseits und Erbsünde als immer schon bestehender Gesamtzusammenhang menschlicher Schuldbeziehungen ... andererseits ... das Transzendieren jenes kategorial-geschichtlichen Gesamtzusammenhangs der Menschheit voraus". Denn die volle Offenlegung des Heils- und Unheilszusammenhanges "liegt nicht allein in den Möglichkeiten kategorialer Vernunfterkenntnis begründet" (276 f.). (In der Frage, was hier "nicht allein" genau bedeutet, und wie es überhaupt zu dem genannten "Transzendieren" kommt, scheint mir eine theologisch ungelöste Schwierigkeit dieser Arbeit zu liegen, die stark die Frage nach der wirklichen Reichweite der Philosophie innerhalb der Theologie aufwirft).

"Stärker" stützt sich die Theoriebildung des Vf.s z. B. auf die unsere Geschichte als einen Prozeß ohne Subjekt begreifende, strukturalistische Lektüre des Werks von K. Marx durch Louis Althusser (wir sind nicht die Subjekte der Geschichte, sondern Subjekte in der Geschichte). Ausgegangen aber wird zunächst von Marx’ "Ökonomisch-philosophischen Manuskripten" von 1844, die sich mit den Ursachen der menschlichen Selbstentfremdung befassen. Der weitere Weg führt über Lucien Sèves Ansatz einer materialistischen Theorie der Persönlichkeit, die den individuellen Geist und die gesellschaftliche Bedingtheit des Menschen noch besser (wenngleich immer noch anfechtbar) vermittelt, schließlich zu W. Benjamin und zu Horkheimers und Adornos Verhältnisbestimmung von "Natur und Geschichte" (anknüpfen konnte der Vf. hier u. a. an die Studie von Markus Knapp, "Wahr ist nur, was nicht in diese Welt paßt". Die Erbsündenlehre als Ausgangspunkt eines Dialoges mit Theodor W. Adorno, Würzburg 1983).

Insgesamt wird in diesem Buch - nicht zufällig! - eigentlich noch immer der Problemstand verhandelt, den Kierkegaard 1844 im "Begriff Angst" vorgeführt hat mit seiner Behauptung, daß jeder Mensch wie schon der recht verstandene Adam zugleich einmaliges Individuum und doch auch Repräsentant der ganzen Menschheitsgattung sei, und daß in dieser Doppelbestimmung die Existenzangst (vor dem Unvereinbaren) niste, die dann in die allgemeine menschliche Sündigkeit hineinführe (die Frage ist nur, ob wirklich in einem "qualitativen Sprung"?). Bereits Kierkegaard betonte in diesem Zusammenhang auch, wie dann der Vf. wieder, daß man nicht den Fehler der alten dogmatischen Beschreibung der Figur Adams wiederholen dürfe, nämlich den Ursprung der Sündigkeit aus der menschlichen Geschichte hinauszuverlagern. Der Vf., der sich selbst freilich um Kierkegaard und die ganze neuere evangelische Lehrtradition zum Thema der Erbsünde kaum kümmert, da sie auch nicht sein Thema sind, sieht z. B. Drewermann und Hoping erneut genau in diesem Fehler begriffen, "das Problem eines universalen Schuldzusammenhanges der Menschheit ... in einen vorgeschichtlichen Raum" zu verlagern. Hingegen wird Rahners Art und Weise, den Menschen (in großer Nähe zu Kierkegaard!) als Einheit von Leib und Seele auszulegen und das Selbstverhältnis des menschlichen Geistes in seiner dauernden Wechselwirkung mit der Welt zu begreifen, gelobt.

Das sind wirklich die alten Einsichten des dänischen Theologen und genau die Fragen, die Kierkegaard richtig gestellt - und sicherlich noch nicht befriedigend gelöst hat. Aber ob nun der Vf. einen Schlußpunkt des Fragens und endlich die gedanklich befriedigende Lösung erreicht hat? Vielleicht ist gerade dies das Problem auch dieser Arbeit, daß das Problem der theologischen Erbsündenlehre eben nicht nur darin besteht, ob es jemals gelingt, Freiheit und Natur im menschlichen Wesen in denkerisch angemessener Dialektik zu vereinbaren. Die Frage ist ja dann immer noch, wie die Versöhnung bestimmt ist. Wie gleichgültig ist es für den Entwurf des Vf.s, daß Christentum und Marxismus hierbei nicht übereinstimmen? Wie kann das Bedürfnis nach der Befreiung von einer eigenen Schuld, ja, nach eschatologischer Erlösung, in den ganzen Ansatz, den der Vf. entwickelt hat, noch hineinkommen? Kann es richtig sein, daß die Theologie im Sinne einer vom Vf. eingeführten Unterscheidung zwischen "Materialprinzip" und "Formalprinzip" das Verständnis der anthropologischen Basis von Sünde und Gnade - ihre gedankliche Struktur - ganz aus der Philosophie oder aus den Humanwissenschaften gewinnen soll oder kann? Als wie geglückt oder verunglückt ist hier Kierkegaards Einbau der "Psychologie" in die Lehre von der Erbsünde zu beurteilen? Wieder einmal stellt sich hier jedenfalls das Problem einer selbstgewählten Abhängigkeit der Theologie vom derzeit bestmöglichen philosophischen Erkenntnisstand (in der Formulierung ontologischer Probleme), der, wenn die Theologie ihn dann rezipiert hat, wahrscheinlich schon nicht mehr der bestmögliche ist.

Wird der Glaube mit Hilfe der so gewonnenen Denkmittel wirklich überzeugender formulierbar und daher auch lebendiger? Wo braucht biblisches Bedenken der menschlichen Freiheit denn philosophische Belehrung hinsichtlich der stofflichen Bindung dieser Freiheit? (Auffällig unpräsent sind die biblischen Denklinien zur Erbsünde in dieser ganzen Dissertation!). Warum ist es nicht umgekehrt das Bestreben der Theologie, durch energische und umsichtige Entfaltung des rational unableitbaren Erbsündendogmas möglicherweise auch die Philosophie lebendiger zu machen, indem sie, wie jedenfalls Kierkegaard es nicht ohne Erfolg tat, deren Beschreibungen der unversöhnten, aber zu versöhnenden Situation des Menschen gegebenenfalls Defizite nachweist?