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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1051–1053

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Wilk, Florian

Titel/Untertitel:

Jesus und die Völker in der Sicht der Synoptiker.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2002. 360 S. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die neutestamentliche Wissenschaft und die Kunde der älteren Kirche, 109. Lw. Euro 98,00. ISBN 3-11-017179-1.

Rezensent:

Knut Backhaus

Erwählungsansprüche stiften Identität und sind als stabile Faktoren der sozialen wie individuellen Selbstorganisation religiösen Wissens bedeutsam. Sie bergen aber auch ein hohes Risikopotential, das uns angesichts der politischen Krisenherde weltweit allzu deutlich vor Augen tritt. So ist daran zu erinnern, dass es eine markante Grundentscheidung des Urchristentums war, überliefertes Erwählungsbewusstsein ethnisch, sozial und kulturell zu entgrenzen. Zu den wesentlichen Leistungen neutestamentlicher Literatur gehört es, solche Entgrenzung theologisch zu begründen, ohne das biblisch vorgegebene Erwählungsmotiv als Ordnungsfaktor preiszugeben. Dieser mühsame und spannungsvolle Prozess zwischen Bindung und Weitung spiegelt sich gerade in den synoptischen Schriften vielfältig wider, da hier im Modus der Erzählung über Jesus aus Israel das endzeitliche Heil auch für die Völker beschrieben wird. Damit sind Thema und Bedeutung der Habilitationsschrift von Florian Wilk umrissen; sie wurde im WS 2000/2001 an der Theologischen Fakultät der Universität Jena (Gutachten: N. Walter; K.-W. Niebuhr) angenommen. Ihre synchron orientierte Leitfrage lautet: Welchen Zusammenhang haben die synoptischen Rezipienten der Jesus-Überlieferung ausweislich ihrer literarischen Komposition, ihrer theologischen Linienführung und ihrer Darstellung von Jesu Reden und Handeln zwischen dessen Wirken im frühjüdischen Verstehensrahmen und der urchristlichen Heidenmission gesehen? Die Fragestellung lässt eine aufschlussreiche, das zur Befragung herangezogene Textgut - die drei synoptischen Evangelien! - eine anspruchsvolle Arbeit erwarten.

Nachdem die knappe Einleitung Thema und Methode im Kontext von Jesus- und Synoptiker-Forschung verortet hat (13-28), widmet sich der Hauptteil (29-237) in drei getrennten Arbeitsläufen der Texterschließung. Dabei untersucht der Vf. jeweils schwerpunktmäßig den Gesamtaufriss des Evangeliums, die Logien Jesu über "Heiden" und die geschilderten Kontakte mit deren Repräsentanten sowie bei den Großevangelien die christologischen, ekklesiologischen (Mt) und heilsgeschichtlichen (Lk) Aussagestränge.

1) In Mk gilt Jesu öffentliches Auftreten wesentlich Israel unter Einschluss der Juden in den von ihm aufgesuchten Grenzgebieten. Dieses Auftreten zeichnet Mk als Vorbereitung der Heilsinitiative Gottes "für alle Völker" und als Sammlung und Zurüstung des biblischen Gottesvolkes zur Lebens- und Glaubensgemeinschaft mit den Heiden unter dem Evangelium. Jesu Wirken formt Israel durch Wundertat, Unterweisung, Streitgespräch und Toradeutung auf diese nachösterliche Öffnung hin. Daher beschränkt Jesus den - jenseits seiner Sendung liegenden - Kontakt zu Nicht-Juden auf das Unvermeidliche, wird jedoch auch für sie in jener universalen Bedeutung wahrnehmbar (vgl. 7,25-30; 15,29-39), die sich in seinem Heilstod "für viele" (10,45) durchsetzt. Das Wirken und Sterben des Menschensohnes stiftet Gottes entgrenztes Gebetshaus für Israel und die Völker (vgl. 11,12-12,12).

2) Mt rahmt seine Schrift, indem er das Verhältnis Israels zu den Völkern christologisch bestimmt: In Jesus, dem Messias und Menschensohn, findet die Berufung des Verheißungsvolkes ihr Ziel und die Mission der Jünger in der Völkerwelt ihren Grund. Das öffentliche Auftreten Jesu gilt Israel gerade darin, dass sein Basileia-Wirken und Tora-Lehren die Abrahamskinder auf die Vollendung ihres Erwählungsanspruchs auszurichten sucht: Gottes Segen für die Völker zu sein und so selbst zu einem "großen Volk" zu werden. Infolge der Ablehnung Jesu durch die Mehrheit des Volkes geht keineswegs die Heilsoption Israels, wohl aber der den Abrahamskindern geltende Ruf in die Existenz als "Licht der Völker" österlich auf die vom Juden Jesus gesammelte - bleibend jüdisch geprägte - Jünger-Gemeinschaft über (vgl. 5,13-16; 28,16-20). So ist sie im Zeichen des proexistenten Sterbens Jesu gerufen und befähigt zur Sammlung Israels um seinen Messias und gerade so auch zur Gewinnung der Völker für die endzeitliche Gemeinde des Auferstandenen.

3) Lk platziert bereits mit seiner Vorerzählung die Geschichte Jesu in den Rahmen des Volkes Israel, dessen Heilsspezifikum er freilich insofern redefiniert, als er Israels Frömmigkeit vornehmlich unter dem Gesichtspunkt hingebender Erwartung des auf universale Weite drängenden Eschaton darstellt. So erweisen sich der Glanz Israels und die Erleuchtung der Heiden (vgl. 2,29-32) als komplementäre Aspekte des in Jesu Wirken aufstrahlenden Heils. Das der Umkehr und Sündenvergebung bedürftige Gottesvolk konstituiert sich seit der Predigt des Täufers Johannes neu, findet durch und in Jesus Christus seine innere Mitte und heilsgeschichtliche Bestimmung und nachösterlich zu seiner weltweiten Wirklichkeit, indem Apostel und Jünger, durch Jesu grundlegendes Lehren und Handeln zugerüstet und mit seinem Geist zu kraftvollem Zeugnis begabt (vgl. 24,45-49), die Heiden im Zeichen des Christus-Geschehens dem Gottesvolk eingliedern.

Im vergleichenden Schlussteil (238-291) legt der Vf. die synoptische Grundstruktur frei: Jesu Sendung zielt jeweils ganz auf Israel und vollendet, indem es die Entgrenzung des Heils vorbereitet, dessen Sendung; sie resultiert in der Bildung der Jüngergemeinschaft und weitet so, grundgelegt in Tod und Auferstehung, Gottes Heilshandeln von Israel auf die Völkerwelt aus, so dass im Horizont der Christus-Botschaft das endzeitliche Miteinander von Juden und Heiden möglich wird. Bezüglich der israeltheologischen, soteriologischen und ekklesiologischen Konzeptionalisierung dieser Grundstruktur arbeitet der Vf. in detaillierten Analysen Divergenzen und Unvereinbarkeiten heraus. Gerade die Frage nach der bleibenden Bedeutung Christi für Israel und nach der bleibenden Bedeutung Israels für die Christen wird von den Synoptikern unterschiedlichen Interpretationen zugeführt, doch bleibt dabei die interpretationsfähige Grundrichtung erkennbar: Die endzeitliche Sendung Jesu zu Israel schließt das Heil für die Völker ein, und zwar so, dass dieses Heil nicht ohne jene Sendung gedacht werden kann.

Hilfreiche Register (313-360: Autoren, biblische Ortsangaben, historische Personen und Gruppen, Schlagwörter, Stellen, griechische Stichwörter) beschließen den Band.

Die Untersuchung erfüllt die geweckten Erwartungen. Sie bietet - auch im Detail - eine Fülle sensibler Textbeobachtungen, argumentiert triftig und gelangt zu differenzierten und plausiblen Lösungen. Der Vf. ist leserfreundlich um nachvollziehbare Gedankenführung bemüht, neigt allerdings, besonders im Schlussteil, zu starker Redundanz. Als weiterführend erweist sich vor allem sein Mut zur komparativen Exegese auf einer breiten Materialgrundlage. Sowohl die historische Jesus-Forschung als auch die synoptische Redaktionskritik gewinnen hier wertvolle Ansatzpunkte.

Nicht überzeugt hat mich die Ausklammerung der Apg (vgl. 154-156): Sie gehört - gerade auch aus der von W. sonst akzentuierten Leserperspektive (vgl. 27) - als normative Erzählung von der Aufnahme des Evangeliums in der Völkerwelt unmittelbar zum Verstehen der lukanischen Konzeption. Der abschließende Vergleich zwischen den synoptischen Entwürfen scheint mir zu früh abgebrochen zu werden. Spannender als die Frage nach ihrer deskriptiven Vereinbarkeit ist jedenfalls die nach ihrer Korrelationsfähigkeit im systematisierenden Diskurs. Ich wünschte mir, dass die exegetisch so zupackende Studie auch den Mut zu diesem theologisch zu verantwortenden Schritt über die Textbeschreibung hinaus gefunden hätte.

Eine forschungspolitische Schlussbemerkung sei erlaubt. W.s Studie belegt deutlich den bleibenden Wert einer exegetischen Habilitation: Auf der Grundlage vorausliegender Fachqualifikation wird mit der methodischen Strenge einer Hochschulschrift der Forschung souveränes und daher impulsreiches Übersichtswissen zugeführt. Der scientific community der Exegeten sollte diese Textgattung erhalten bleiben.