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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1040 f

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Cassidy, Richard J.

Titel/Untertitel:

Paul in Chains. Roman Imprisonment and the Letters of St. Paul.

Verlag:

New York: Crossroad (Herder and Herder) 2001. XVI, 319 S. m. 3 Abb. gr.8. Kart. US$ 24,95. ISBN 0-8245-1921-3.

Rezensent:

Lars Aejmelaeus

In diesem Buch werden die echten und unechten Paulusbriefe des Neuen Testaments unter die Lupe genommen. Dabei zeichnet der Vf. ein Porträt vom Apostel Paulus als Gefangenem. Im letzten Kapitel wird auch das zur Sache gehörende Material der Apostelgeschichte beleuchtet. Zu den zentralen Bemühungen der Untersuchung gehört es, Klarheit in die äußere soziale Realität der Verhältnisse des gefangenen Paulus zu bekommen. Unter diesem Aspekt untersucht der Vf. verschiedene antike Texte, die das römische Gefängniswesen thematisieren. Zu dieser Zeit gab es verschiedene Arten von Gefangenschaft, von dem härtesten allgemeinen Gefängnis (carcer) über die Militärhaft (custodia militaris) zu der mildesten Art, dem leichten Arrest (custodia libera). Weil Paulus in seinen Briefen und Lukas - so identifiziert Cassidy den Verfasser der Apg - in seinem Geschichtswerk immer wieder von den Ketten des gefangenen Paulus sprechen und sie ganz konkret zu verstehen sind, kommt der Vf. zu dem Ergebnis, dass die Gefangenschaft des Paulus nicht zu der leichtesten Art gehörte. Die Tatsache, dass er dennoch Briefe aus dem Gefängnis schreiben, mit anderen Menschen umgehen und Pflege entgegennehmen konnte, spricht andererseits gegen die Annahme, dass seine Gefangenschaft eine der härtesten Art war. C. meint, dass Paulus in Rom in "der militärischen Gefangenschaft", auf die auch die Ketten hinweisen, auf seinen Prozess warten musste. Hier hat man keine Schwierigkeiten, dem Vf. zuzustimmen, obwohl gleichzeitig festzustellen ist, dass wir sowieso sehr wenig von den wirklichen Verhältnissen wissen können, wie der Vf. auch selbst betont. In dieser Frage sind die antiken Quellen nicht so ergiebig und umfassend, wie wir es gerne hätten.

Neben den konkreten Problemen der Gefangenschaft werden auch andere und vor allem theologisch relevante zum Thema gehörende Fragen behandelt. Das Bild von Paulus als Gefangenem hat eine große und wirkungsvolle theologisch/christologisch-ethische Tragweite. Was den Vf. in diesem Zusammenhang besonders interessiert, ist die Untergebenheit unter die römische Staatsmacht. C. sieht einen großen Unterschied zwischen der Einstellung, die Paulus in den Versen Röm 13,1-7 zur römischen Obrigkeit hat, verglichen mit der Einstellung, die er nach Aussagen des Philipperbriefs hat. "A dramatic shift occurs in Paul's outlook between Romans and Philippians. In effect, Philippians contains a critical perspective regarding the Roman authorities that Romans simply does not possess" (5). Er zieht daraus die Schlussfolgerung, dass der Römerbrief früher als der Philipperbrief geschrieben wurde. Paulus kann unmöglich eine so positive Einstellung wie in Röm 13,1-7 gehabt haben, nachdem er alles das erlebt hat, worüber er im Philipperbrief schreibt und was den Hintergrund zu seiner neuen Einstellung dort bildet. Das ist auch der Hauptgrund, warum C. den als einheitlich verstandenen Philipperbrief, so wie auch den Brief an Philemon, erst in die Zeit der römischen Gefangenschaft des Paulus platziert. Mit Hilfe der Erwartungen, die Paulus in beiden Briefen zum Ausdruck bringt, argumentiert er dafür, dass der Philemonbrief vor dem Philipperbrief geschrieben wurde. Die Schlussfolgerung des Vf.s ist jedoch nicht so zwingend, wie er denkt. Hier wie auch sonst in dem Buch ist die Behandlung der Probleme ihrer Natur nach eher breit als tief. Der Vf. konzentriert sich auf seine eigene positive Argumentation und behandelt die Argumente, die gegen seine Interpretation sprechen, nicht - oder in jedem Fall nicht genügend.

Zur breiten Behandlung des Gefangenschaftsthemas gehören auch die Kapitel, in denen die deuteropaulinischen Gefangenschaftsbriefe interpretiert werden. Hier wird die Nachwirkung des Paulus als Gefangenen beschrieben, aber ohne dass die Hauptergebnisse des Buches von der Untersuchung dieser Briefe betroffen wären, wie Vf. selbst feststellt. In diesen Kapiteln ist die Art, den Inhalt dieser Briefe so vorzustellen, als hätte Paulus sie selbst geschrieben, etwas ungeschickt. Eine straffere Betrachtungsart wäre hier von Nutzen gewesen. Eine klare und folgerichtige Stellungnahme für die pseudepigraphische Natur der Briefe hätte es möglich gemacht, einen tieferen Einblick in die Wirkungsgeschichte des gefangenen Paulus in der nächsten christlichen Generation zu erreichen.

Nicht nur die schlimmen Erlebnisse des Paulus, sondern auch das mit der Zeit immer tiefer werdende Hineinleben in die Leiden Jesu als Gefangenen hat dem Apostel neue Einsichten verschafft. Erst als er selbst gefangen war, hat sich dem Apostel wirklich diese Seite des Lebens Jesu geöffnet. Dieselbe Obrigkeit war tätig in beiden Fällen. Vor seinen eigenen Leiden war Paulus der Obrigkeit gegenüber verhältnismäßig positiv eingestellt. Obwohl die Verse Röm 13,1-7, verglichen mit der christlichen Wirklichkeit und vielen paulinischen Aussagen, in der Tat ein gewisses Rätsel aufgeben, gibt es auch andere Möglichkeiten, die vermeintlichen Spannungen im paulinischen Text zu erklären, als die Art, wie C. die Sache verstehen will. Die Interpretation, die mit einer paulinischen Entwicklung in dieser Sache rechnet, bleibt in jedem Fall sehr hypothetisch. Paulus hat kaum je vor oder nach seiner Umkehr die römische Obrigkeit so blauäugig betrachtet wie C. voraussetzt. In seiner gesamttheologischen Weltanschauung kann Paulus auch der gottlosen Obrigkeit eine Rolle als Ordnungsmacht in dieser Zeit zubilligen, obwohl er gleichzeitig aus einem anderen Blickwinkel ihren gottlosen und vergänglichen Charakter zugibt. In diesem scheinbaren Widerspruch ist es gleich, ob er (auch) selbst viel Schlimmes seitens der Obrigkeit entgegennimmt. In seiner Analyse der paulinischen Entwicklung meint C. sogar, dass die Gräueltaten Neros erst nach der Abfassung des Römerbriefes geschehen seien und auch sie eine Rolle für die Veränderung der paulinischen Einstellung gespielt hätten. In den Versen Phil 3,18-19 gebe Paulus seiner Frustration über das anstößige Leben des Kaiserhauses Ausdruck. C. betont, wie grundverschieden die Werte und Weltanschauungen des Kaisers und des Apostels waren. Das ist nicht zu bezweifeln, aber ich glaube nicht, dass das Leben der kaiserlichen Familie irgendeine Bedeutung für Paulus hatte.

In der Einzelexegese, besonders was den Philipperbrief betrifft, gibt es in dem Buch viele gute Beobachtungen. Die äußeren Verhältnisse des Apostels als Gefangenen werden auch schön beleuchtet. Die für den Vf. so wichtige These, dass der Philipperbrief und der Philemonbrief in Rom entstanden seien, wird jedoch mit dieser Argumentation nicht bewiesen.