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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

902–904

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Liu, Xiaofeng

Titel/Untertitel:

Personwerdung. Eine theologische Untersuchung zu Max Schelers Phänomenologie der "Person-Gefühle" mit besonderer Berücksichtigung seiner Kritik an der Moderne.

Verlag:

Bern-Berlin-Frankfurt/M.-New York-Paris-Wien: Lang 1996. 245 S. 8 = Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie, 64. Kart. DM 70,-. ISBN 3-906752-84-4.

Rezensent:

Christian Bendrath

Der Vf. rekonstruiert in seiner Studie den Begründungszusammenhang von Schelers "christliche(m) Personalismus" (230) und verfolgt dessen Wirkungsgeschichte in der Theologie des 20 Jh.s. Schelers Leitbegriff der "Persongefühle" sei auf keinen Fall psychologisch mißzuverstehen (18.28), als ob äußerlich-sinnliche oder innerlich-seelische "Gefühlszustände" die Person konstituierten (29 f.54 ff.71). Der Vf. untersucht deshalb Schelers "pänomenologisch(e) Ontologie der geistigen Gefühle aus theologischer Sicht" (16). Die phänomenologisch-ontologische Vorgehensweise sei weniger Methode, als vielmehr intuitive Schau (26), die alles Jetzt-Hier-So-Dasein "einklammer(e)" und einer "eidetischen Reduktion" unterziehe, um das phänomenal Ephemere auf seine ontologische Wesensstruktur hin transparent werden zu lassen (68 ff.). Die "Sache" der Phänomenologie sei kein Ding, sondern "ein emotionales und prozeßhaft geistiges Aktsein" als anthropo-theologische Fundamentalstruktur (26). Die menschliche Person werde aufgrund eines in Gottes freier Selbstentäußerung in Jesus Christus verankerten Liebesaktes konstituiert (57 ff.87 ff.). Dessen jeweils individuell nachvollzogene, intentionale Reaktualisierung stelle das eigentliche Wesen des Menschen heraus (58-60.133 f.). Der Mensch transzendiere sein raumzeitlich affiziertes Dasein (68 ff.) und werde im mimetisch nachvollzogenen "Akt der Personwerdung" zum "Christkind", d. h. vom "homo naturalis zum homo personalis" (39.87 ff.94). In emotionaler Gestimmtheit des Herzens (38 ff.) gestalte der Christenmensch sein Leben gemäß der theonomen Hierarchie der "Liebeswürdigkeiten", dem "Ordo Amoris" (47 f.). Personwerdung auf der Basis der Persongefühle sei für Scheler keine Menschenmöglichkeit, keine autonome Setzung des Selbstbewußtseins oder gar Resultat eines intensiven leiblich-sinnlichen Lebensgefühls, sondern eine unvordenkliche Gottesgabe des rein geistig-sittlichen Gefühls (85 ff.). Schelers Wiederaufnahme der augustinischen Tradition der "theologia cordis" (34 ff.) ermögliche diese Vorordnung eines transzendenten "ens amans" vor dem immanenten "ens cogitans" und "ens volens" (23).

Die Antithese zum "Ethos" (46 ff.) der christomorphen Person, das am Charakterzug der sich selbst zum Opfer hingebenden Entäußerung in der inkarnationschristologischen Kondeszendenzfigur abgelesen worden sei (55.87), bilde das "moderne Ethos" (21 ff.) mit seinem bis auf Luther (81 f.), Descartes (81f.) und Kant (48.53) zurückzuführenden subjektivistischen Dualismus von "Vernunft und Sinnlichkeit, Geist und Materie, Natur und Gnade" (17) sowie mit seinem von Nietzsche herzuleitenden vitalistischen "Ressentiment" (50 ff.74.97) gegenüber der unhintergehbaren intentionalen Verwiesenheit an die geistig-sittlichen Werte personaler Selbsttranzendenz im theonomen Gefühlsakt (96 ff.). Diese ontologische Struktur fundamentaler Selbstentfremdung phänomenalisiere sich im absoluten Sensualismus und Immanentismus des Homo faber oder "Bourgeois" (24.45 ff.97) und seiner rationalistisch-vitalistischen Sinnsurrogate: Humanität/Philanthropie (53.65 f.), Wohlfahrt (57 ff.), Nurmenschenliebe (61 ff.), vergnügungssüchtiger Körperkult (57. 226 ff.), Ästhetizismus (221 ff.) und "Vergötzung des sinnlichen Selbst" oder anderer wertrelativer Gegenstände (49.225).

Der moderne Dualismus von "Denken und Sinnlichkeit" (45) sei nach dem "Bankrott des Christentums" (41) an die Stelle des metaphysischen Dualismus "zwischen einem geistzentrierten Menschen und dem triebhaften Erleben" (45) getreten. Scheler versuche stattdessen in gegenläufiger Richtung, den christlichen "Ordo Amoris" wieder zur phänomenalen Geltung zu verhelfen, indem er den ontologisch immer noch wirksamen metaphysischen Dualismus von Geist und Leben "funktionell" (90) auffasse. Es sei ihm um eine "Durchdringung" zu tun, und zwar dergestalt, daß vor Ort der Personwerdung des Menschen einerseits das Leben vergeistigt und andererseits der Geist verlebendigt werde (29.90 ff.). Der beziehungslos gewordene Eros trete auf diese Weise z. B. wieder in eine das Leibesleben personhaft gestaltende Beziehung zur Agape (100 ff.). Vermittelnd bei dieser harmonischen Aufhebung des Lebens im Geist (71.74 ff. 98f.) wirke die Gesamtperson der kirchlichen Gemeinschaft (42 f. 203.215 f.218). Sodann bringe die Eigendynamik der aus der göttlichen Liebestat abgeleiteten Persongefühle den Homo faber zurecht: a) Scham (109 ff.), b) Ehrfurcht/heilige Scheu (125 ff.), c) Demut (139 ff.) und d) Reue (150 ff.) eröffneten die Personwerdung. Die angesonnene "Durchdringung" des vitalen Dranges mit sittlichen Werten komme zum Ziel, wenn der Mensch das sinnliche Schmerzempfinden bei "Widerstanderlebnissen" im Sinne einer intentional selbstbeherrschten Leidensfähigkeit deute. Dann sei der sinnblinde Gefühlszustand in einem sinnvollen Geistesakt aufgehoben (54 ff.119 ff.).

Zusätzlich zur systematischen Rekonstruktion des christlichen Personalismus’ in Schelers philosophischer Anthropo-Theologie (vgl. dazu besonders die die Untersuchung abschließende Zusammenfassung unter den Loci "Gotteslehre, Offenbarungslehre, Christologie und Glaubenslehre" 204 ff.) verweist der Vf. in seiner Studie auch auf die theologiegeschichtliche Wirkung Schelers. Die Fassung der Person und des sie fundierenden Gefühls als eines reinen Aktes finde Eingang in Bonhoeffers Habilitationsschrift "Akt und Sein" (26). Die Bedeutung der Persongefühle der Scham, Ehrfurcht, Demut und Reue für die christliche Personwerdung arbeiteten auch Bonhoeffer (109 ff.161 ff.), Bultmann (129 ff.), Ott (139 ff.150 ff.) sowie Buber (155 ff.) und von Balthasar (125 ff.) heraus. Die Kritik Schelers am Subjektivismus Schleiermachers werde von Brunner aufgegriffen (172 ff.); die Psychologismus-Kritik von Barth (179 ff.). Die Einforderung einer Ent-Hellenisierung des Christentums verbinde Scheler mit Theologen von Harnack über die dialektische Theologie bis hin zu Jüngel (196 ff.).

Zentral ist für den Vf. "das Problem der Anknüpfung" (189ff.): Schelers Persongefühle beschrieben phänomenologisch nichts anderes als das, was von Bultmann, Link und Ott begrifflich als "Vorverständnis" oder "Anknüpfung" bestimmt worden sei (190). Noch in seinem Widerspruch gegen Gott sei der Mensch auf Gottes Widerspruch gegen seinen Widerspruch "existentiell hingerichtet" (Bultmann: 195); die "Leere seines Herzens" bereits "schöpferische Leere" für das Werden des Heils (Ott: 139 ff.). Scheler biete nämlich eine "neue Gestalt der natürlichen Theologie" (189) auf der Basis der "personalistische(n) theologia cordis" (39), die von Barths "maßlo(s) hysteri(sch) übersteigerte(r)" Kritik nicht mehr getroffen werde (189).

Die kritischen Anmerkungen an der vom Vf. vorgelegten Studie treffen eher Scheler als ihn selbst: Schelers Modernismuskritik wird m. E. zu Unrecht kritiklos vom Vf. übernommen. Schelers Eigenwilligkeit im Umgang mit Nietzsche hätten den Vf. stutzig machen müssen. Die Lebensphilosophie ist ihrerseits doch eine kritische Gegenbewegung zur Moderne und kann somit wohl kaum der szientifischen Verdinglichung der Lebenswelt im Gefolge des abendländischen Rationalismus zugerechnet werden, wie Scheler seine Leser glauben machen will. Der "tolle Mensch" Nietzsches ist der "dionysische Mensch": ein dem élan vital des Lebens und somit gerade nicht den Dingen des Verstandes zugewandter Ekstatiker. Der Vf. hätte gut daran getan, Ludwig Klages als kritisches Korrektiv für derartige Verzeichnungen Schelers heranzuziehen. Darüberhinaus erweist sich, von Klages aus betrachtet, Schelers eidetische Reduktion als ein zur Überwindung des Rationalismus höchst ungeeignetes Abstraktionsverfahren, dessen ontologische Verzweckung schon Husserl höchst suspekt erschien (dazu vgl. M. Großheim, Ludwig Klages und die Phänomenologie, Berlin 1994, 54 ff. 99 ff. 158 ff.). Schelers dezidierter Akosmismus verträgt sich zudem kaum mit der genuin christlichen Pointe der Inkarnationslehre, die Scheler einseitig vergeistigt. Schließlich versagt der Vf. sich und seinen Lesern die offen bleibende Frage, ob Scheler tatsächlich den Sturz der kanonischen Ethik durch seine versuchte Repristination einer ontologischen Werthierarchie zu überwinden vermag.

Von diesen Kritikpunkten abgesehen, bleibt die Dissertation Lius zu Max Schelers Persongefühlen trotzdem sehr zur Lektüre zu empfehlen.