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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1038–1040

Kategorie:

Neues Testament

Autor/Hrsg.:

Becker, Michael

Titel/Untertitel:

Wunder und Wundertäter im frührabbinischen Judentum. Studien zum Phänomen und seiner Überlieferung im Horizont von Magie und Dämonismus.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XVII, 534 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 144. Kart. Euro 74,00. ISBN 3-16-147666-2.

Rezensent:

Dagmar Börner-Klein

Die von Michael Becker vorgelegte Studie wurde im Wintersemester 1999/2000 als Dissertation für das Fach Neues Testament von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München angenommen und zur Drucklegung leicht überarbeitet. Die Arbeit besteht aus drei Teilen. Der erste Teil, Prolegomena, umfasst zwei Kapitel, eine Einführung und eine Klärung der Rahmenbedingungen des "Wunder"- und "Wundertäter"-Verständnisses der frühen Rabbinen. Teil zwei, "Wunder" und "Wundertäter" im frührabbinischen Judentum, eine literarische und historische Analyse im jüdischen Kontext, umfasst fünf umfängliche Kapitel zu den Themen: Magie, Dämonismus, Wunderterminologie, "Wunder"-Erzählung und Auslegung, und "Wundertäter". Die restlichen 117 Seiten enthalten als Teil drei den Epilog, Erträge im Hinblick auf die Jesustradition sowie Literaturverzeichnis und Register (Stellen, Autoren, Namen und Sachen, hebräische, aramäische und griechische Termini und Wendungen). Der "Hinblick auf die Jesustradition", der als eigentliches Thema einer neutestamentlichen Dissertation zu betrachten wäre, umfasst 25 Seiten. Angesichts der übrigen 509 Seiten, die einen Übergriff in den Bereich der Judaistik bieten, kann durchaus von einem mutigen Unterfangen gesprochen werden. Die bereits vorliegende Literatur zur Thematik ist zahlreich, außerdem wurde 1997 eine Habilitationsschrift für das Fach Judaistik veröffentlicht, die sich in weiten Teilen mit der Dissertation B.s überschneidet, auch wenn dies aus dem Titel der Habilitation nicht unbedingt zu erschließen ist: Guiseppe Veltri, Magie und Halakha, Ansätze zu einem empirischen Wissenschaftsbegriff im spätantiken und frühmittelalterlichen Judentum, Tübingen: Mohr Siebeck 1997, 372 Seiten. Veltris Studie beginnt mit einem Forschungsüberblick zu Mystik, Kabbala und Magie, um anschließend die Behandlung von Zauberer, Zauberei, Zauberin, Nekromant und Nekromantin in der rabbinischen Literatur zu analysieren. Kapitel drei bis fünf der Habilitation bieten die Interpretation der rabbinischen Texte zu den Amoriterbräuchen und Heilungspraktiken. Es empfiehlt sich für den ambitionierten Leser, beide Arbeiten in der Chronologie ihrer Entstehung zu konsultieren.

B. selbst konstatiert zu Beginn seiner Dissertation, dass er sich als Außenseiter an die rabbinische Literatur wagt: "Ein Einstieg in fremde [Hervorhebung nicht im Original] Vorstellungswelten sollte stets behutsam erfolgen." (3) Im Anspruch ist B. nur zuzustimmen. Festzustellen ist aber, dass B. sich keineswegs scheut, das von ihm behandelte Material interessegeleitet auszuwählen und entsprechend zu interpretieren. Bei dem gewählten Thema hätte es z. B. durchaus nahegelegen, die zahlreichen rabbinischen Listen, die die Dinge aufzählen, die Gott auf Grund ihrer Wunderproblematik vor der Welt erschuf oder die vor der Erschaffung der Welt bereits vorhanden waren, zu analysieren. Diese Texte sind zentral für das Wunderverständnis der Rabbinen, nicht die jeweils verwendete Terminologie zur Bezeichnung eines Wunders, wie B. herausarbeitet.

B. geht es um die "Rekonstruktion der Traditionsprozesse" (7) durch die Analyse der Aussagen in ihrem literarischen Kontext und die Rekonstruktion ihrer geschichtlichen Genese. Dass B. mit diesem Ansatz in ein Wespennest sticht, ist ihm bewusst. So verweist er auf derselben Seite darauf, dass "die Suche nach einer sachgemäßen Wahrnehmung und Auslegung der rabbinischen Quellen ein Grundproblem [ist], das die Forschung seit längerem weit über die Wunder hinaus beschäftigt." B. sieht daher die Notwendigkeit, ein besseres Verständnis der rabbinischen Texte zu ermöglichen, Neuland zu betreten, indem die Erfahrungen der Altertumswissenschaften und der christlichen Exegese zu nutzen sind. Die seine Methoden stützende Argumentation vermag aber nicht zu überzeugen. So heißt es etwa in Bezug auf die klassische Unterscheidung von Lehrsätzen und deren Kommentierung in der rabbinischen Literatur: "Aus späterer Sicht kann die Unterscheidung von Tannaim und Amoraim zwar durch einige formale wie inhaltliche Indizien bestätigt werden, doch ist im Wissen um die Traditionsentwicklung [Hervorhebung nicht im Original] die durchlässigere Kennzeichnung einer frührabbinischen Epoche zu bevorzugen". (11) Diese Feststellung B.s ist weder hilfreich noch angemessen, und dies ist gravierend: Deutlicher lässt sich ein hermeneutischer Zirkel kaum formulieren. Es geht B. vor allem darum, und darin steht er in einer langen Reihe von nicht-judaistischen Exegeten, die rabbinische Literatur für eigene Belange zu vereinnahmen. Ein "besseres Verständnis der rabbinischen Texte" ist in dieser Weise nicht zu erzielen.

Der Inhalt der Studie sei trotzdem kurz zusammengefasst: B. versucht zu zeigen, dass die Darstellung von Wundern und Wundertätern in der rabbinischen Literatur davon geprägt ist, sich von "unliebsamen Einflüssen" (51), so von Magie und Dämonismus, abzugrenzen. Kapitel 3.1, über Magie im jüdischen Kontext außerhalb der rabbinischen Schriften, bestätigt die Einschätzung, dass in hellenistisch-römischer Zeit zahlreiche Einflüsse auf das frühe Judentum einströmten, dass aber auch das Judentum aktiv in diesen Entwicklungsprozess eingeschlossen war (111). Zu Kapitel 3.2, Magie in den frührabbinischen Texten, empfiehlt sich zu den Seiten 121-127 vorab die Lektüre von Veltris Studie, in der die Amoriterbräuche, Bräuche fremder Völker, ausführlich analysiert werden (Veltri, 93-220). Die Amoriterbräuche stellen, so Veltri, eine "mishnisch-talmudische Kategorie dar, die sowohl der Ablehnung nichtheilender Praktiken als auch der Abgrenzung von nichtjüdischen Bräuchen dient" (Veltri, 187). B.s viertes Kapitel, Dämonismus, behandelt ebenfalls zunächst den jüdischen Dämonismus außerhalb und anschließend innerhalb der rabbinischen Schriften. Die unterschiedlichen Bezeichnungen für Dämonen (siehe zusammenfassend 160) werden erläutert und in Kontrast zu den Engeln gesehen. Einige kurze Anmerkungen zur Dämonenabwehr beschließen das Kapitel. Kapitel fünf über Wunderterminologie enthält eine Tabelle mit relevanten hebräischen Bezeichnungen (185), die B. nacheinander in Unterkapiteln analysiert. B. verweist vorab auf signifikante Verschiebungen gegenüber dem biblischen und frühjüdischen Sprachgebrauch, einen "Wandel im semantischen Feld" (185). Hauptziel des sechsten Kapitels, Wunder-Erzählung und Auslegung, ist es, "die Akzentuierung von Wundern und deren Auslegung an einzelnen Beispielen zu profilieren" (204). Ausführlich behandelt werden u. a. die Auffindungserzählung des Sarges von Josef (223-237) und die Himmelsstimme (bat qol) (240-244). Da es B. letztlich um den wundertätigen Jesus geht, steht für ihn das "handelnde Subjekt" (62), der Wundertäter bzw. Magier im Vordergrund. Daher ist das siebte Kapitel über die Wundertäter am umfangreichsten (261-405). Behandelt werden die biblischen Wundertäter Mose im Vergleich zu Elija und Elisha und die Wundertäter, über die die rabbinische Literatur berichtet: Choni der Kreiszieher (291-337), Chanina ben Dosa (337-378), der nichtjüdische Heiler Jakob aus Kfar Sama (378-382) und die Rabbinen Elieser ben Hyrkanos (389- 396), Schimon ben Jochai (396-399) und Pinchas ben Jair (399- 403). Das Kapitel neun bietet eine "Anwendungsorientierte Überprüfung der Verständniskategorien rabbinischer Überlieferung in bezug auf die Jesustradition", in der danach gefragt wird, ob die Rabbinen in Jesus den Magier gesehen haben (423-430). B.s Werk schließt mit einem Blick in die Evangelien und die dort überlieferte Wundertätigkeit Jesu (431-442).