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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1031–1034

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Elliott, Mark Adam

Titel/Untertitel:

The Survivors of Israel. A Reconsideration of the Theology of Pre-Christian Judaism.

Verlag:

Grand Rapids-Cambridge: Eerdmans 2000. XIV, 760 S. gr.8. Kart. US$ 50,00. ISBN 0-8028-4483-9.

Rezensent:

Jürgen Roloff

Es ist nicht leicht, dieses monumentale Werk einer bestimmten Gattung wissenschaftlicher Literatur zuzuordnen. Einerseits gibt es sich als übergreifende Gesamtdarstellung. Es möchte nämlich so etwas wie eine "systematische Theologie" des Judentums der Zeit des zweiten Tempels, der vor der Epoche des rabbinischen Judentums liegenden Epoche also, darbieten (4). Andererseits aber trägt es unübersehbare Züge einer Streitschrift, die sich gegen die in der gegenwärtigen Forschung vorherrschende Tendenz kritisch wendet, die Mitte jüdischen Glaubens in einem Bewusstsein unbedingter und unwiderruflicher Erwähltheit ganz Israels auf Grund der göttlichen Bundeszusage und der Gabe der Tora zu sehen. Hier handle es sich um einen letztlich "nationalistischen" Ansatz, auf den das Stichwort "Bundesnomismus" (J. P. Sanders) verweise. Zu Grunde legt der Vf., der nach längerer Lehrtätigkeit als "Adjunct professor" an der University of Western Ontario und am Conrad Grebel College, Waterloo (Kanada), gegenwärtig als baptistischer Pastor in Wiarton (Ontario) tätig ist, zwei Gruppen jüdischer Schriften, die ihm als repräsentativ für die Theologie der Zeit des 2. Tempels erscheinen: die Qumran-Schriften sowie die apokalyptischen Pseudepigraphen (äthHen, Jubiläen, PsSal, AssMosis, Test XII, 4Esra, syr Bar). Der Vf. knüpft dabei an vier Beobachtungen der älteren Forschung gegenüber einer vereinseitigten nationalistischen Sichtweise an. Diese betreffen 1. die Dialektik zwischen Gesetz und Erwählung (vor allem im Pharisäismus), 2. eine weitere Dialektik zwischen Universalismus und Nationalismus (W. Bousset), 3. die Existenz einer Theologie des "Restes" in einigen jüdischen Gedankenschulen sowie 4. die exklusivistischen Lehren der Sektengemeinschaft von Qumran.

Aus deren Schrifttum werden eingehend analysiert 1QS 5, 10-13; CD 7,9-8,2; 1QH 15,15-19; 1QpHab 5,3-5 mit dem Ergebnis, dass die Errettung ganz Israels hier nirgends thematisiert wird, sondern dass das quasi ekklesiale Selbstverständnis der Sektengemeinschaft als einer gegenüber dem abgefallenen Gesamtisrael eigenständigen, von Gott erwählten Größe der leitende Gesichtspunkt ist. Ein ähnliches Ergebnis hat die Analyse der Tiervision äthHen 83-90 sowie der Kalenderreflexionen im astronomischen Buch (äthHen 79-82). Das Jubiläenbuch setzt voraus, dass Israel den Bund gebrochen habe (15,33 f.) und dass der gesamten Nation das Gericht drohe (92 f.). Noch einen Schritt weiter gehen die PsSal, die das Gericht als bereits erfolgt darstellen (und zwar in der Einnahme Jerusalems durch Pompejus, vgl. PsSal 8;17). Gleiches gilt auch für 4Esra 3-14.

Haben einige jüdische Gruppen ein begrenztes, exklusives - keineswegs also nationalistisches - Erwählungsverständnis gehabt, so stellt sich die weitergehende Frage nach der Basis, auf der andere - Einzelne und Gruppen - in den Kreis der endzeitlich Erretteten gewählt und als dem Bundesvolk zugehörig gelten. Dieser Frage nach den Kriterien von Rettung und Heil geht der Vf. ausführlich nach (Kap. 4), wobei sich als tragender Gesichtspunkt die Erwählung eines heiligen Restes herausstellt. Solche exklusivistische Soteriologie kommt in der Offenbarung besonderer Gesetze gegenüber diesen Gruppen zum Ausdruck, die vor allem Kalender- und Mischehenprobleme betreffen.

Wo hatten diese Gruppen ihren Ort innerhalb des zeitgenössischen Judentums? Zur Beantwortung dieser Frage werden aufschlussreiche sozialgeschichtliche Erwägungen angestellt (Kap. 5). Die klassische Bestimmung des jüdischen Volkes in der seleukidischen und hasmonäischen Epoche als "Pariavolk" wird grundsätzlich aufgenommen: Die Juden erfuhren sich in ihrer kulturellen Umwelt als nur geduldetes Gastvolk ohne eigene Heimat, umzingelt von Fremden, abgegrenzt von anderen durch eigene Gesetze und eigenen Kult. Das gab Anlass zu einer Haltung des geistig-religiösen Protestes. Aber die hinter den hier behandelten Schriften stehenden Gruppen waren mehr als eine Protestbeweguung, nämlich eine Dissensbewegung, die nicht nur traditionalistische Motive vertrat, sondern von der Überzeugung geleitet war, sie - und nicht die gesellschaftlich-kulturelle Mehrheit - sei auf dem rechten Weg. Anhalt dafür bot ihnen das biblisch-prophetische Motiv des "heiligen Restes" in Israel, das ihr theologisches Denken maßgeblich bestimmte. Darin liegt eine Berührung zu nicht wenigen neutestamentlichen Schriften (243). Wichtig und folgenreich ist die Entwicklung des Bundesgedankens, wobei nahe liegender Weise dessen zwei zentrale Aspekte - Bund als Geschenk und als Verpflichtung - eine große Rolle spielen. Für den Vf. überwiegt dabei der Verpflichtungscharakter, was er aus dem Gebrauch der Kontrastformeln klassischer biblischer Bundestheologie - Leben und Tod, Segen und Fluch, Licht und Finsternis, Lohn und Strafe (Dtn 27-30) - ableiten will. Die Rezipienten dieser Literatur werden zur bewusst-aktiven Entscheidung für das jeweils positive Moment herausgefordert. Von da her gewinnt der häufige (vor allem in CD und Jub) Gedanke der Bundeserneuerung sein Gewicht. Der Bund ist in diesen Dissensgruppen vor allem eine konditionierte, dynamische, individualistische und dualistische Größe (307). Speziell der Dualismus wirkt sich auf die Soteriologie dieser Gruppen aus. Der Weg führt hier von einer nationalen Soteriologie - im Sinne eines Bundes-Nationalismus- zu einem stärkeren Hervortreten individueller Kategorien und schließlich zu einer auf der erneuerten Erfahrung des jeweiligen korporativen Bewusstseins sich gründenden Soteriologie (354). So tritt etwa in den Qumran-Schriften eine korporative Soteriologie zu Tage, die sich speziell auf jenen Rest Israels bezieht, der sich einem in den jeweiligen Gemeinschaftsregeln fixierten Anspruch auf Zugehörigkeit zum Gottesvolk orientiert. Solches Selbstbewusstsein trägt bekanntlich ekklesiologische Züge, die denen des neutestamentlichen Schrifttums nahe kommen (ebd.).

Dualistisch wie die Soteriologie dieser Gruppen ist auch ihre Pneumatologie (Kap. 9), d. h. ihre Lehre über die spirituelle Welt. Bestimmend ist der Glaube an die Existenz zweier entgegengesetzter Bereiche spiritueller Wesen, deren einem Gott und seine Engel, also die guten Geister, zugehören, während der andere aber vom Satan und seinen bösen Geistern bestimmt ist. Dabei ist zu bedenken, ob und inwieweit diese Pneumatologie Antwort auf wahrgenommene Apostasie innerhalb von Israel ist (396). Maßgebliche Texte hierfür sind Jub 15,31-34 und QS 3, 13-4,26. Die Darstellung beider Bereiche ist dabei weniger von einem Interesse an der metaphysischen Struktur der spirituellen Welt bestimmt, sondern wesentlich funktional, indem sie sich fast durchweg auf die unterschiedlichen Auswirkungen der Geister auf jeweils zwei Menschengruppen beschränkt.

Zurückhaltend behandelt der Vf. das Thema Messianologie (Kap. 10). Mit längst bekannten Argumenten stellt er fest, dass in der behandelten Epoche von einer einheitlichen messianischen Gestalt (sei sie davidisch oder nicht) keine Rede sein kann. Auch fehlt in der Literatur jede systematische Erörterung dieser Thematik. Zwar treten in ihr geheimnisvolle Gestalten als Vorläufer, urzeitliche Heroen (z. B. Seth in Jub 4,7; Henoch und Noah [in äthHen 83 f.; 106 f.]), Vorbilder (so die Patriarchen Abraham und Jakob in Jub 35,15 ff.; 36,4-11) sowie als mystische und revelatorische Größen in Erscheinung. Versteht man unter Messias eine endzeitliche Rettung bewirkende Gestalt, so erweist sich dieser Terminus für diese Gestalten als mehrheitlich kaum sachgemäß. Die meisten dieser Gestalten sind Repräsentanten der jeweiligen Gruppe. Sie stellen paradigmatisch das Selbstverständnis der gerechten Gemeinschaft dar. Weithin haben diese Gruppen die biblisch-historischen Berichte umgeschrieben, um ihre eigene Perspektive der Bedeutung von Israels Ahnen zu reflektieren (513).

Übergreifend wird die Soteriologie der dissentierenden Gruppen als "Destruction-Soteriologie" beschrieben. Grundlegend ist Gottes endzeitliches Handeln im "Zerstören" und "Bewahren". Die jeweilige Gruppe wird von Gott gereinigt (wofür die verschiedenen jüdischen Wasserriten und Waschungen stehen) und in ihrem Wesen als "Rest Israels" bestätigt, während alles dem Willen Gottes, der Sphäre seiner Wahrheit und Heiligkeit Widerstreitende zerstört wird. Allerdings bleibt dieses Geschehen nicht ganz ohne Auswirkung auf die Gesamtheit des Volkes, indem Gott seinem geschichtlichen Handeln Recht gibt. Der gegenwärtige treue "Rest" sieht seinen Protest gegen den gegenwärtigen Stand der Dinge in Israel durch seine Lehre der wahren Gerechtigkeit von Gott her bestätigt. Er erfährt so eine Rechtfertigung ("vindication") nicht nur vor den Weltvölkern, sondern vor der Gesamtheit des "erwählten" Volkes. Israel würde damit seine Berufung erfüllen, und die Frommen in Israel würden dann die Sinnhaftigkeit ihrer Not, Verfolgung und Apostasie, unter denen sie gelitten hatten, erkennen (637).

Der Vf. will die Theologie der Dissensbewegung als Prolegomenon zum Neuen Testament verstehen, was letztlich darauf hinausläuft, dass das Urchristentum sich vor allem in seiner Ekklesiologie als deren legitime Fortsetzung ausgewiesen hat. Davon ist im Abschlusskapitel die Rede. So ergibt sich als wichtigste theologische Folgerung die, dass es eine jüdische Theologie der speziellen Erwählung bereits vorneutestamentlich gegeben hat. Die Botschaften Johannes des Täufers, Jesu und der übrigen neutestamentlichen Autoren lassen sich nunmehr angemessen zu nichtnationalen jüdischen Rest-Theologien (641) in Beziehung setzen. Wichtigster Vergleichspunkt sollte dabei die Ekklesiologie sein. Der heutigen communis opinio, dass Jesus nicht von der Kirche gesprochen habe, obwohl er ein nicht-nationalistisches Erwählungsverständnis vertreten hat, wird der Abschied erteilt und der Authentizität von Mt 16,18 das Wort geredet. Jesus erneuerte vielmehr den Gedanken des Restes. Weder die Ekklesiologie des Paulus noch die der Johannesoffenbarung setzen in ihrer Kritik am zeitgenössischen Judentum den Gedanken eines Bundesnomismus voraus.

Dieses ungemein materialreiche Werk darf uneingeschränkt als ein großer Wurf bezeichnet werden. Wegen der nicht immer übersichtlichen Gedankenführung ist es keine leichte Lektüre. Aber es enthält unzählige Beobachtungen, die in der bisherigen Diskussion vernachlässigt worden sind und um deren Aufnahme und Aufarbeitung zukünftige Forschung sich wird bemühen müssen. Das wird keine leichte Aufgabe sein!