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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1029–1031

Kategorie:

Judaistik

Autor/Hrsg.:

Claußen, Carsten

Titel/Untertitel:

Versammlung, Gemeinde, Synagoge. Das hellenistisch-jüdische Umfeld der frühchristlichen Gemeinden.

Verlag:

Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2002. 368 S. m. Abb. gr.8 = Studien zur Umwelt des Neuen Testaments, 27. Geb. Euro 82,00. ISBN 3-525-53381-0.

Rezensent:

Michael Tilly

Die hohe Bedeutung des Synagogeninstituts für die organisatorische Entwicklung der frühchristlichen Gemeinden ist historisch plausibel. Ziel der von Alexander J. M. Wedderburn betreuten, im Sommersemester 1999 von der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität in München angenommenen und für den Druck überarbeiteten Dissertation ist die Erhellung der Entstehung frühchristlicher Gemeindeordnungen auf der Grundlage einer ausführlichen Analyse der literarischen, epigraphischen und archäologischen Quellen zu den hellenistisch-jüdischen Gemeinden im antiken Mittelmeerraum. Nach einem forschungsgeschichtlichen Überblick (21-48) und einer breiten einleitungswissenschaftlichen Erörterung sämtlicher Quellen (49-81) geht C. auf die geographische Verbreitung, Größe und Zusammensetzung der antiken jüdischen Gemeinden ein (83-112), wobei er vor allem ihre Heterogenität und Pluriformität betont. Dieses erste Ergebnis wird bestätigt durch die Untersuchung der Terminologie (113- 150). Von Anfang an standen zahlreiche Begriffe zur Bezeichnung einer Synagogengemeinde und ihres Versammlungsortes zur Verfügung. Hinsichtlich der Frage nach den Ursprüngen des Synagogeninstituts (151-165) stellt C. fest, dass die Praxis der öffentlichen Verlesung der Tora, die Einberufung kommunaler Versammlungen auf dem Marktplatz oder im Bereich des Stadttors und auch die häuslich-familiäre Frömmigkeit zu den formgebenden Faktoren zu zählen sind. Die Untersuchung der architektonischen Gestalt der antiken Synagogengebäude (166-208) ergibt zum einen, dass die frühen Diasporasynagogen zumeist "durch sekundäre Umwandlung ursprünglich privat oder anderweitig genutzter Räumlichkeiten entstanden" (208). Zum anderen wird deutlich, dass die Entwicklung der Gemeinden oft schrittweise vom "Hauskreis" über größere Gemeindeversammlungen bis hin zur Nutzung bzw. Errichtung spezieller Räumlichkeiten verlief. Hinsichtlich der Funktionen der Synagoge (209-223) ergibt sich, dass zwar der öffentlichen Lesung und dem Studium der Tora eine zentrale Bedeutung zukam, sie aber als vorwiegend sozial-kommunale Institution im Sinne eines "Gemeindezentrums" (218) bald vielfältige weitere Aufgaben an sich zog.

Die Untersuchung der rechtlichen Situation der jüdischen Gemeinden (224-255) führt zu einem ambivalenten Ergebnis. Während Behinderungen durch Einschränkung der Versammlungsfreiheit nicht die Regel waren, litten die Synagogengemeinden, die im Römischen Reich keinesfalls den Rechtsstatus eines eigenen Politeumas besaßen (242), dennoch vielerorts unter dem Mangel an obrigkeitlichem Schutz vor lokalen Übergriffen und Rechtsverletzungen. Eine ausführliche Behandlung erfahren die Ämter der Synagoge (256-293). Hinsichtlich der Zeugnisse in jüngeren Quellen unterscheidet C. zwischen Ehrentiteln, Verwaltungsämtern, kultischen Funktionären und Hilfsdiensten und schließt aus dieser Vielfalt auf "in hohem Maße institutionalisierte Synagogengemeinden" (292). Für das 1. Jh. lässt sich allerdings - zumal in kleineren und ländlichen Gemeinden - noch keine vergleichbare Ordnung feststellen. Vielmehr waren Titel und Gemeindeordnung hier zumeist noch nicht verfestigt und ausdifferenziert. "Kleine frühchristliche Gemeinden fanden ihre Vorbilder, wenn, dann überhaupt, in diesen kleinen Einheiten" (293).

Die Zusammenfassung der bisher gewonnenen Ergebnisse im Resümee der Untersuchung (294-304) führt zu den Thesen, dass sich die Synagogengemeinden im 1. Jh. überwiegend als kleine Versammlungen in Privathäusern konstituierten und dass größere Synagogengebäude oder gar ein identifizierbarer Gebäudetyp im Mutterland und in der gesamten Diaspora die Ausnahme darstellten. Hiervon ausgehend schlägt C. vor, "die jüdische Haussynagoge [...] als konkretes Modell für christliche Hausgemeinden von Jerusalem bis Rom anzusehen" (304). Ein kurzer Ausblick (305-310) thematisiert Verbindungslinien zwischen liturgischen Elementen des Gottesdienstes in jüdischen und in frühchristlichen Gemeinden (308) und betont abschließend noch einmal den genealogischen Zusammenhang zwischen der jüdischen Haussynagoge und der Organisation des frühen Christentums (310). Beigegeben sind Rekonstruktionszeichnungen früher Synagogenbauten in Palästina (Gamla, Herodium, Masada, Jericho, Qumran) und in der Diaspora (Ostia, Priene, Stobi, Dura, Delos, Sardes) (310-314). Die Arbeit schließt mit einem Literaturverzeichnis (315-351) und einem Register der Stellen, Sachen und Orte (352-368).

C.s solide Untersuchung fasst den gegenwärtigen Diskussionsstand hinsichtlich des Ursprungs und der Funktionen der antiken Synagoge in umfassender und prägnanter Weise zusammen. Während die Analyse der einschlägigen Texte nicht wirklich Neues bietet, führt die sorgfältige und differenzierte Befragung der archäologischen und vor allem der epigraphischen Quellen, etwa hinsichtlich der Ämter der Synagoge, zu innovativen und gut nachvollziehbaren Ergebnissen.

Zu monieren sind zumeist Kleinigkeiten: Hinsichtlich der Bedeutung der Siebenzahl ist zwischen Zahlensymbolik und Gematrie zu unterscheiden (96). Hinsichtlich der "Profangräzität" (114) ist zu berücksichtigen, dass dem speziellen biblischen Wortgebrauch kein "profaner", sondern eben ein allgemeiner Wortgebrauch gegenübersteht. Wohlhabende Priester (191) gab es wohl auch nach der Zerstörung des Zweiten Tempels (vgl. Sifre Dtn 352 zu 33,11). Die aramäische Inschrift der Synagoge von Dura-Europos datiert nicht "n. Chr." (207). Das Fehlen sonstiger Quellen allein reicht zur Begründung der Heranziehung rabbinischer Texte bei der Erhellung der Zustände im 1. Jh. nicht aus (209; vgl. 76). Ob die Verwendung der Targumim in erster Linie auf der wachsenden Bedeutung des Aramäischen beruht (216), möchte ich bezweifeln. Eher scheint mir hier das verbreitete Bedürfnis nach Aktualisierung des Bibeltextes im Vordergrund zu stehen. Über den Verlauf einer wöchentlichen Toralesung in der Synagoge zu tannaitischer Zeit wissen wir leider sehr viel weniger als C.s Gewährsleute es nahe legen (217). Zu verzeichnen sind einige sprachliche Nachlässigkeiten (15.19.158.272.281). Judaica sollten einheitlich zitiert (168, Anm. 7. 219, Anm. 70), Zitate immer als solche kenntlich gemacht werden (18, Anm. 12).

Insgesamt legt C. mit seiner gründlichen Untersuchung nicht nur einen beachtenswerten Beitrag zur Organisation hellenistisch-jüdischer Gemeinden in der Antike vor, sondern zugleich auch ein Nachschlagewerk von hohem wissenschaftlichen Gebrauchswert.