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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1025–1028

Kategorie:

Altes Testament

Autor/Hrsg.:

Karrer, Christiane

Titel/Untertitel:

Ringen um die Verfassung Judas. Eine Studie zu den theologisch-politischen Vorstellungen im Esra-Nehemia-Buch.

Verlag:

Berlin-New York: de Gruyter 2001. X, 488S. m. Tab. gr.8 = Beihefte zur Zeitschrift für die alttestamentliche Wissenschaft, 308. Lw. Euro 108,00. ISBN 3-11-017055-8.

Rezensent:

Thomas Willi

Vielleicht ist es etwas zu hoch gegriffen, wenn man beim Untertitel der anzuzeigenden Untersuchung unwillkürlich Spinozas Tractatus theologico-politicus assoziiert. Auch ohnedies handelt es sich bei der Dissertation, die Christiane Karrer bei R. Bartelmus in Kiel vorgelegt hat, um einen bemerkenswerten Schritt nach vorn in der Erforschung des gleichzeitig so verhüllten wie bedeutenden persischen Abschnitts der Literaturgeschichte und der Geschichte Israels. Wer diesen neuen Zugang zur formativen Epoche der hebräischen Bibel zur Kenntnis nimmt, kommt auf seine Rechnung.

Untersucht wird das Verhältnis der einzelnen Verfassungs- bzw. Gesellschaftskonzepte untereinander und zur Konzeption des Esra-Nehemia-Buches (ENB). Der erste der fünf Hauptteile führt in das Thema von ENB, die "Entstehung des nachexilischen Gemeinwesens" (1), ein. Die Vfn. fasst vorgängige Studien (H. C. M. Vogt, T. Willi, J. Elayi, K. G. Hoglund, H. G. M. Williamson, T. C. Eskenazi) einfühlsam zusammen. Gegenüber a priori vorgenommenen redaktionsgeschichtlichen Zergliederungen, aber auch gegenüber einem einseitigen close reading schlägt sie einen dritten Weg vor.

Er setzt die umfangreichen Text-, besonders Aktantenanalysen von ENB, die im Anhang (379-456) tabellarisch aufgeführt sind, voraus und wird im zweiten Hauptteil mit der "Analyse der politischen Größen" im ENB beschritten (69-128).

Esra gilt "als Angehöriger der eigenen Bevölkerung ... (und) ist durch seine Stellung als ... Priester und Verantwortlicher für die Tora ... qualifiziert, die Aufträge des ... Königs ... in Juda/ Jerusalem auszuführen" (103). Der hebräische äußere Rahmen Esr 1-4,6 und 6,16-22 mit seiner Deutung von buj jsr'l setzt ein ganz anderes Konzept voraus als der aramäische Innenteil Esr 4,7-6,15, der die "Judäer" weder intern differenziert noch irgendwelche Rückkehrer kennt, geschweige denn einen Bezug zu ihnen herstellt (111). Ganz genauso fehlt in der Nehemiaschrift Neh 1-7,5 und 13,4-31 "jede Begrifflichkeit, die sich auf eine Rückkehr aus dem Exil bezieht" - die Judäer sind die Israeliten, niemand sonst! Daraus folgt, dass "Esr 4,4-6,15 ... eine gewisse Nähe zum Konzept des Nehemia-Berichts" aufweist, und es verdichten sich die "Anzeichen ..., daß das Konzept des hebräischen Rahmens ... das Konzept der Gesamtkomposition" ist (125 f.).

"Das Verfassungskonzept der Nehemiaschrift" (Teil 3, 128-213) misst der "ethnischen Identität der Judäer" entscheidende Bedeutung bei. Außer bei Jeremia ist der Terminus 'hwd'm - nicht zuletzt zur Bezeichnung von Auslands-Judäern in Ägypten und in anderen Anrainergebieten Judas - nur hier breiter belegt (149). Mit anderen Worten: Nehemia greift mit seinem Gebrauch von "Judäer" eine Bezeichnung aus der Zeit des ausgehenden Königreichs Juda auf und füllt ihn mit neuem Inhalt. Abgesehen von seiner historischen Bedeutung wäre er mit seiner Hinterlassenschaft somit auch literarisch maßgeblich an der begrifflichen Genese des "Judentums" beteiligt, freilich nicht in dem religiös verengten Sinn, den Eduard Meyer und seine Zeit der Bezeichnung verpasst haben. Denn Nehemias Schrift versteht "die Bevölkerung ... als ethnische Einheit" (150), nicht konfessionell. Das äußert sich in der Sprachenfrage (Neh 13,24), in den sozialen Maßnahmen (Neh 5) wie in der Abgrenzung gegenüber verschiedenen Gegnern, die jeweils durch ein Gentilicium bezeichnet werden (passim). Innerhalb der judäischen Bevölkerung sind übrigens Priester und Propheten für Nehemia die einzige Gruppe, "die mit einer ins Negative gewendeten Gedenkformel belegt" wird (163: Neh 6,14; 13,29).

Der Statthalter selbst nimmt eine Mittlerstellung zwischen Juda und der achämenidischen Zentralmacht ein. Zu diesem der judäischen Tradition an sich fremden Amt wird er in Neh 2,1-10 durch den Großkönig legitimiert, eine Tatsache, die unmittelbar anschließend im Gebet 2,11-20 als Zeichen für die göttliche Legitimation interpretiert wird (195-197). Das "Nehemia-Konzept" etabliert also "die Judäer" als ... abgegrenztes Ethnos". Nehemias Ziele sind die von in der Diaspora lebenden Judäern, die an einem starken "Mutterland" interessiert sind (208). Wie weit man mit K. dieses Verfassungskonzept als "religiös qualifiziert" (212) bezeichnen kann, hängt davon ab, was man unter "religiös" versteht. Nehemia ist sicher kein postaufklärerischer Europäer, und es wäre, gerade auf der Basis des hier vorgelegten Befundes, zu fragen, was eigentlich geschieht, wenn er die Judäer auf ihr "Israel"-Sein anspricht. Es handelt sich dabei zweifellos um einen Schritt von größter Tragweite für das spätalttestamentliche Schrifttum (man denke nur an Chr) wie für das Selbstverständnis des werdenden Früh-"Juden"-tums.

Erste Spuren einer sich anbahnenden Neuorientierung finden sich freilich unter Umständen bereits im "Verfassungskonzept der Esraschrift" (Esr 7-10; Neh 8). Diese Partien (214-283) gehören zu den innovativsten der Untersuchung. Auf der Grundlage der textgeschichtlichen Analyse legt K. hier ein eigenständiges Modell vor. Esr 9-10, der Kern, präsentiert sich nicht als Biographie o. Ä., sondern als eine "Art Verfahrensprotokoll zur Lösung eines die Gesamtgemeinschaft betreffenden Konflikts" (242). Auch für die Esraschrift spielt "Israel" eine Rolle. Es weist aber hier einen integrativen, idealtypischen Charakter auf, der wohl auch die Diaspora einschließt und daher Wegführung und Rückkehr zu einer sämtliche "Israel"-Angehörigen umfassenden Erfahrung macht. Israel, die deportierte und auf Rückkehr ausgerichtete Gemeinschaft, ist die eigentliche dramatis persona des Konzepts, nicht Esra, der seinerseits sozusagen die Awrh sb'lph, die Tora nach ihrer mündlichen Überlieferung und praktischen Anwendung personifiziert. Das erklärt sowohl die Uneinheitlichkeit des Esrabildes wie das dynamische Verständnis des Begriffs der "Tora", der sich "offensichtlich nicht auf das Buch" bezieht und "stets näherbestimmt ist" (261). Die achämenidische Herrschaft kommt nur im Zusammenhang mit dem Jerusalemer Heiligtum in den Blick. Aus all diesen Beobachtungen schließt K., "daß die Esraschrift in ... bewußter Abgrenzung gegenüber der Nehemiaschrift formuliert wurde", dass aber das "eigentliche Gegenüber zu Nehemia ... nicht Esra, sondern das Volk als Qahal" ist (278).

Damit ist die Schwelle zum "Verfassungskonzept der Gesamtkomposition" erreicht, mit dem die Studie schließt (284- 378). Schon in früheren Phasen der Untersuchungen hatten sich Anzeichen dafür gefunden, "daß das Konzept des hebräischen Rahmens ... [auch] das Konzept der Gesamtkomposition" sei (126): "Aus der Einheit Bevölkerung erwächst ... die Führungsspitze" (323). Gegen andere Gliederungen (A. H. J. Gunneweg, T. C. Eskenazy, T. Willi) wird das ENB - unter Aufnahme einer Anregung von Sara Japhet - in eine frühere "Kyros-Periode" und eine spätere Artaxerxes-Periode unterteilt (302 f.).

Dass die Rückkehrerliste Esr 2 eine nachträgliche Ergänzung ist, leuchtet ein - aber ist wirklich für "ihre Wiederholung in Neh 7,6-72" dasselbe anzunehmen? (292-294)

Zieht man die von K. hier entwickelten Linien aus, so ließe sich pointiert festhalten, dass aus den "Judäern" der eingebetteten aramäischen Dokumente auf dem Weg zum endgültigen ENB die "Juden" des Rahmens geworden sind. Hinter dem Konzept des Buchganzen sind "wohl Gruppen von Rückkehrern" zu vermuten, die sich auf die Pioniere berufen (375), die "pilgrim fathers" der Rückkehr nach Jerusalem und Juda sozusagen.

Die in manchen Aspekten zukunftsweisende Studie setzt behutsam Sprachgebrauch und konzeptuelle Inhalte zueinander in Beziehung. Es gelingt ihr damit, ein differenziertes und plausibles Bild von den geistigen Wachstumsprozessen und dem inneren Dialog in verschiedenen Phasen des Judentums der Perserzeit zu zeichnen. Der Reichtum, der sich einer durch K. angeleiteten Lektüre des Esra-Nehemia-Buches auftut, tröstet nachhaltig über die nach wie vor spärlichen und schwer interpretierbaren geschichtlichen und archäologischen Nachrichten aus dieser Epoche hinweg.