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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1021–1023

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Skemp, Vincent T. M.

Titel/Untertitel:

The Vulgate of Tobit Compared with Other Ancient Witnesses.

Verlag:

Atlanta: Society of Biblical Literature 2000. XII, 486 S. 8 = Dissertation Series, 180. Geb. US$ 45,00. ISBN 1-58983-005-9.

Rezensent:

Christian J. Wagner

Über viele Jahrhunderte hinweg war die Bibelübersetzung des hl. Hieronymus der Bibeltext der lateinischen Kirche in Verkündigung, Liturgie, Lehre und Gebet (Brevier). Damit steht die Vulgata (Vg) ein Stück weit auch für die Identität der noch ungeteilten abendländischen Kirche. Speziell die Tobit-Vulgata erfreute sich auch in nachreformatorischer Zeit - und nicht nur katholischerseits - besonderer Beliebtheit. So ist das Buch Tobias bis zum heutigen Tag in der Lutherbibel nach der Vulgatafassung zu lesen. Auch wenn die moderne Bibelwissenschaft - ob in ihrer historisch-kritischen oder methodologisch-hermeneutischen Ausprägung - in selbstverständlicher Manier die "Urtexte" in den Mittelpunkt der Auslegung stellt, bleibt die Rückbesinnung auf jene griechischen und lateinischen Überset- zungen (LXX, Vetus Latina, Vulgata), durch die die biblische Botschaft in die Welt mit hinausgetragen wurde, Vermächtnis und Auftrag der Exegese zugleich. Zudem darf die ökumenische Dimension dieser Bibelüberlieferungen "zweiter Klasse" nicht verkannt werden. Vor allem im Blick auf den forschungsgeschichtlichen Stand zur Vulgata lässt die bibliographische Recherche keinen anderen Schluss mehr zu, als dass die Bibelübersetzung des Hieronymus von Jahrzehnt zu Jahrzehnt mehr und mehr auf Desinteresse der Exegeten stößt und damit zusehends in ihrem Eigenwert offenbar nicht mehr wahrgenommen wird. Das ist ein bedauerlicher Verlust!

Ein signifikantes Einzelbeispiel: Im LThK (2. Auflage) wird Vulgata noch separat erfasst, freilich nicht mehr in der Ausführlichkeit der 1. Auflage (F. Stummer), in der 3. Auflage wird Vulgata nurmehr unter Bibelübersetzungen subsumiert. Zufall?!

Umso erfreulicher jedoch ist, dass neuerdings eine umfängliche und detailreiche Dissertation zur Tobit-Vulgata erschienen ist. Fernab von vorherrschenden exegetischen Trends hat sich V. Skemp unter der Ägide von J. A. Fitzmyer nicht nur dem vernachlässigten Vulgataforschungsbereich, sondern zudem auch noch einem Buch "jenseits des Tanach" zugewandt.

Bekanntlich unterscheidet sich die Tobit-Vulgata von den griechischen Textformen in nicht unerheblichem Maße, und dies nicht nur in der Gestalt von Auslassungen und Wortlautänderungen, sondern besonders auf Grund ihres theologisch-spirituellen Sonderguts, dessen Herkunft (bloße Interpretamente des Übersetzers?) noch ungeklärt ist. So stellt S. die Frage in den Mittelpunkt seiner Textstudie: "Are the myriad of differences between Jerome's translation and the other versions due to variants in his Vorlage, to his exegetical alterations, or to a combination of these two possibilities?" Lange Zeit hatte man Vg pauschalisierend als Revision der altlateinischen Tobittradition verstanden und deren Abweichungen als Interpretamente des Hieronymus abgetan. Mit geradezu pedantischer Akribie untersucht nun S. Kapitel für Kapitel, Vers für Vers den Textbefund in Vg. Dabei zieht der Vf. zum Vergleich neben den alten Übersetzungen (LXX, Vetus Latina) mit besonderem Fokus die seit 1994/95 zugänglichen Tobittexte vom Toten Meer heran. Immerhin erklärt ja Hieronymus selbst in seinem Prolog, dass er die aramäisch abgefasste Schrift unter Vermittlung eines Dolmetschers (utriusque linguae peritissimum loquacem) nach hebräischer Wiedergabe ins Lateinische übertragen habe (et quicquid ille mihi hebraicis verbis expressit, haec ego accito notario sermonibus latinis exposui). Dass ihm ein aramäisches Tobit-Manuskript physisch zur Verfügung gestanden habe, ist damit jedoch nicht von vornherein zwingend ausgesagt.

In seiner 32-seitigen Einleitung ("Chapter I Introduction", 1-32) bietet der Vf. nach einer textkritischen und überlieferungsgeschichtlichen Beschreibung der griechischen und altlateinischen Traditionen (1-5) einen ebenso detaillierten wie prägnanten Abriss zum Forschungsstand der Tobit-Vulgata (6- 15), um sich dann anschließend dem Prolog des Hieronymus zur Tobitübersetzung (15-21) zu widmen und einen Überblick zur Übersetzungstechnik des stridonischen Bibelübersetzers (21-29) zu bieten. Methodologische Reflexionen zum Procedere des Textvergleichs, wie er im zweiten Kapitel unternommen wird (29-32), schließen die Einleitung ab. Die methodische und terminologische Behutsamkeit des Vf.s zeigt sich unter anderem auch daran, dass er (1, Anm. 1) die unter Umständen irreführenden konventionellen Bezeichnungen Auslassungen ("omissions") und Zusätze ("expansions") durch die unverfänglicheren Begriffe "minuses" und "pluses" ersetzt, "because they are more neutral than the former, which can imply a deliberate reworking of the text by Jerome".

Das zweite Kapitel ("Chapter II Analysis") bildet mit 421 Seiten das Kernstück der Untersuchung (33-453). S. geht hierbei buchkapitelweise (Tob 1-14) in vier Schritten vor: (1) Zunächst wird das Vulgata-Kapitel übersetzt. Dies geschieht weitgehend wortgetreu, wenn man davon grundsätzlich absieht, dass satzbeginnendes et ohne Not unübersetzt bleibt. (2) Daraufhin erfolgt eine versweise Auflistung der Textformen in der Reihenfolge: Vg, GII, GI, VL, 4Q196-200. Weshalb GIII (von 6,10 bis 12,22) und Peschitta (ab 7,11) nicht mit einbezogen werden, bleibt der Vf. allerdings seinen Lesern schuldig. Diese beiden häufig vernachlässigten Traditionen sind nun in der von C. J. Wagner herausgegebenen "Polyglotte Tobit-Synopse" (AAWG 258 - MSU XXVIII) leicht einsehbar. (3) In einem separaten Arbeitsschritt sucht der Vf. mittels eines Textvergleichs nach Gemeinsamkeiten, Querverbindungen, Auffälligkeiten und Unterschieden. Dabei wird der Überlieferungsbefund, wie er bereits im unmittelbar vorausgehenden Arrangement der Textformen in Erscheinung tritt, nochmals penibel nach formalen, grammatikalisch-syntaktischen und textkritischen Gesichtspunkten beschrieben. Nicht selten hätte man gern statt der Beschreibung eine Erklärung des Befunds. Andererseits tut der Vf. gut daran, sich mit spekulativen Schlussfolgerungen zurückzuhalten. Gerade aber darin zeigt sich die Akribie und argumentative Vorsicht von S. (4) Ein summary fasst die buchkapitelweise vorgenommene Analyse zusammen.

In einem dritten Kapitel ("Chapter III Conclusion") werden auf S. 455-470 eine Palette von Einzelfragen resümierend auf der Grundlage der Analyse von Kapitel 2 zu klären versucht: Verhältnis der Tobit-Vulgata zur Vetus Latina; zum Problem des Minus und Plus in Vulgata verglichen mit den übrigen Textzeugen; Querbezüge innerhalb des Plus der Tobit-Vulgata; Verwandtschaft mit 4Q196-200; Problem des Fehlens von Semitismen in Vg; Verhältnis von Vg zu den griechischen Textformen; christliche Elemente in Vg; sonstige Charakteristika in Vg. Ein Literaturverzeichnis (471-479) sowie ein Autoren- (481 f.) und Sachwortregister (483-486) schließen ohne einen Wortindex näher besprochener Vulgatabegriffe die Studie ab.

Die vorliegende Untersuchung stellt einen wichtigen Fortschritt in der Grundlagenforschung zur Tobit-Vulgata dar. Sie besticht durch philologische Kompetenz, textkritische Akribie und vor allem durch argumentative Vorsicht und Zurückhaltung. Man kann dem Vf. zu seiner "mutigen" Entscheidung, sich der Vulgata monographisch zugewandt und zudem ein Buch "am Rande des Kanons" gewählt zu haben, nur gratulieren und hoffen, dass andere junge Exegeten sich ebenso mutig vom breiten mainstream der alttestamentlichen Bibelwissenschaft abkoppeln und eigene Wege gehen.