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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1019–1021

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Mühlen, Reinhard

Titel/Untertitel:

Die Bibel und ihr Titelblatt. Die bildliche Entwicklung der Titelblattgestaltung lutherischer Bibeldrucke vom 16. bis zum 19. Jahrhundert.

Verlag:

Würzburg: Stephans-Buchhandlung Matthias Mittelstädt 2001. 240 S. 50 Taf. gr.8 = Studien zur Theologie, 19. Geb. Euro 45,00. ISBN 3-929734-19-2.

Rezensent:

Stefan Strohm

Das Buch, die bearbeitete Fassung einer Wiener theologischen Dissertation von 1999, wählt das Titelblatt der Wittenberger Bibel von 1534 zum Kriterium und das der Wittenberger Bibel von 1541 zur Norm der weiteren Interpretation der Titelblätter folgender Lutherbibeln: "In der Gestaltung des Titelblatts wird das Anliegen der ganzen Schrift zum Ausdruck gebracht. Luthers Übersetzung der ganzen Heiligen Schrift betont die Gleichwertigkeit beider Testamente und verweist die Bibel selbst zum Gegenstand der Titelblattgestaltung. Dabei handelt es sich um die Publikation des übersetzten Textes, der in den Vordergrund gestellt wird" (29).

Putten entrollen auf der Titelseite inmitten eines architektonischen Renaissancerahmens das Titelblatt der Bibel von 1534, der ersten Gesamtausgabe von Luthers Übersetzung. Oben schreibt Gottvater selbst das Wort, unten lesen es Putten in einer Bibel. Damit sei die unverbindliche Art seitheriger illustrierter Titelblätter für Bibeln gebrochen. So zeigen besonders die Titelseiten der griechischen Urtextausgaben des Neuen Testaments durch Erasmus 1516 und 1519 Randleisten mit Renaissancegrotesken, die höchst unvermittelt zum Inhalt stünden. Dass die "Gleichwertigkeit beider Testamente" bezeichnet werde, ist kühne theologische Interpretation. Der Titel ist traditionell und betont, dass es die erste Gesamtausgabe der Übersetzung Luthers ist.

Zur Bibel von 1541 heißt es: "Der Bildentwurf L. Cranachs d. Ä [sic] entstand in der Zeit, in der es notwendig war, in der Auseinandersetzung mit der bestehenden Kirche [?] und den Schwärmern eine systematische Fixierung der evangelischen Lehre zu erreichen. Wo das Evangelium gepredigt wird, gibt es die Möglichkeit [!], den Absichten [!] des Satans [sic] zu entkommen. Gott und Teufel streiten um den Menschen. Wo nicht Gottes und Christi Reich ist, da ist des Teufels Reich. Der Mensch hat in Sachen des Heils oder Verderbens keine Freiheit ... In der Titelblattgestaltung findet die Verbindung zu dem Bibelwort ... nicht auf der Illustration des Titelblattes statt, sondern verweist auf den Schriftspiegel der Bibel als gantze [sc. Gantze] Heilige Schrifft. Das Wort der Bibel als Gesamtheit [!], das in der Predigt verkündigt wird, bildet die Grundlage für die belehrende Bildaussage" (37 f.). Damit soll gesagt sein, dass die Darstellung mit dem Lebensbaum in der Mitte des Titelblatts, der Verwerfung Adams in die Hölle links, unter dem Sündenfall und der ehernen Schlange, sowie der Rechtfertigung durch Christi Blut rechts, unter der Ankündigung und Auferstehung Christi, den Menschen nicht vor die Wahl stelle (wie die verwandte Darstellung der niederdeutschen Bibel von 1534) und dass das Bild dem Wort der Predigt - gemäß Luthers Anschauung vom Gebrauch der Bilder - folge, also nicht autonom sei, insofern der Titel, der am Baum aufgehängt ist, das Bild und nicht das Bild den Titel erklärt. Mag der Vf. das Bild erklären, Luthers Lehre von der Predigt als Gesetz und Evangelium nennt er sehr verkürzt.

Luthers Erkenntnis vom Gefälle vom Wort zum Bild und der Notwendigkeit innerer Anschauung des Worts prägt als Kriterium die Betrachtung des Wandels der Titelblattgestaltungen im Lauf der Jahrhunderte. Lob und Tadel verteilen sich mit der Nähe und Ferne von der Einsicht Luthers und ihrer Gestaltung durch Cranach. Ob die gänzliche Bildlosigkeit der Cansteinbibeln nur mit dem preisgünstigen Kalkül erklärbar ist, ob der Verfall, den der Vf. im 19. Jh. an einigen wirklich sachfremden Bilddarstellungen konstatiert, angesichts der reichen Bibelverbreitung herausstellenswert ist?

Der Vf. geht zur Erklärung der Titelblätter zuweilen auf zeitgenössische Texte, weniger glücklich auf Sekundärliteratur ein, indem er teils einfach kumuliert und teils recht frei referiert. Sollte wirklich im Beiband zur Merianbibel zu lesen sein, Merian habe in "Verbindung der Gemeinschaft der Rosenkreuzer" gestanden (62)? Die Beziehung zwischen Bibeln, die ein Kircheninneres als Titelblatt zeigen, und ihrem Gebrauch in der evangelischen Barockkirche mit Kanzelaltar ist auffällig in der Beobachtung, ohne Hinweise auf Texte aus der Zeit jedoch nicht als intendiert belegbar.

Höchst fruchtbar hätte die Gegenüberstellung von Jakob Brucker und Luther werden können. Für eine Bibel von 1756 schreibt Brucker, dessen Philosophiegeschichte bis hin zu Kants Rezeption einflussreich sein wird, eine Erklärung der Titelblätter zu den einzelnen Teilen und eine gründliche Abhandlung über das Verhältnis von Bild und Wort. Aristotelische Erkenntnislehre, die Geistiges über das Sinnliche, Erkenntnis über das Phantasma stellt, führt zu einer streng wortbezogenenen Bildauffassung für die Bibel. Der Vf. möchte Brucker von Luther abrücken, da er in Bildern "göttliche Geheimnisse" (115) enthalten sieht, statt wie Luther sie das Wort auslegen zu lassen. Nun könnten die göttlichen Geheimnisse des Bildes (als genetivus obiectivus) durchaus wortgemäß sein, statt "zur Wahrheit der Schrift hinzuleiten" (116). Doch wie verhält sich Bruckers deutlicher bildinteressierter Bezug auf Aristoteles zu dem leisen wortorientierten Luthers in der späteren Psalmenvorrede, in welcher es heißt, dass der Mensch sich durch Reden vom Tier unterscheide und die Heiligen, die im Psalter sprächen, mit ihren Worten in ihr Herz sehen lassen und damit in Himmel und Hölle? Erführen wir davon etwas, ließe das aufmerken!

Das Buch gibt einen ersten Überblick. Bei Sachfragen verlässt es den Leser.

Auf S. 147 bis 186 stehen Verzeichnisse der genannten Bibeln in teils diplomatischer, teils frei gewählter Titelwiedergabe und der Forschungsliteratur. Sie sind unvollständig (Beyreuther e. g. wird S. 101 - als Beyreuter - zitiert und nicht genannt, die Mentelinbibel von 1466 ist S. 11 erwähnt und nicht aufgeführt). Beide Verzeichnisse sind in unverantwortlichem Maß fehlerhaft. Das "Verzeichnis der verwendeten Quellen" hält bei keinem der überprüften Einträge stand. Die Darstellung selbst ist voll sprachlichen Missgeschicks, voller Verwechslungen (Apokalypse statt Apokryphen, 33), Anachronismen (Feyerabend habe im 17. Jh. den Wittenberger Druck abgelöst, 143), inkonsequenten und falschen Namensschreibungen (Moses - Mose, Raphael - Raffael), redundant (Wiederholung von Ergebnissen, der Titel im Text, den Anmerkungen und im Verzeichnis), sie ist voller Verstöße gegen Regeln des Buchsatzes, voller Schreib-, Zeichen- und Grammatikfehler: "den Methodus" (18), "Offizin Henri I. Stephanus" (wiederholt 14), "Quincuplex Psalterium; Gallicanum ..." (14 u. ö.), "Das 1. Gebot" (21), "daß es nicht Mundus desolata, sondern Germania desolata heißt (78)", "Josua, Judica [sc. Judicum], Ruth ... Ezechiel, Dan., Propheta [sc. Prophetae minores]" (89). Der Textteil endet mit den Worten: "die Gestalt Luthers zählt nun zur Monumenta Germaniae historica" (141).

Die Arbeit wurde bei Alfred Raddatz eingereicht, die Herausgeber heißen Gottfried Adam - Universität Wien, Rainer Lachmann - Universität Bamberg.