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Ausgabe:

September/1998

Spalte:

900–902

Kategorie:

Systematische Theologie: Dogmatik

Autor/Hrsg.:

Bösl, Anton

Titel/Untertitel:

Unfreiheit und Selbstverfehlung. Søren Kierkegaards existenzdialektische Bestimmung von Schuld und Sünde.

Verlag:

Freiburg-Basel-Wien: Herder 1997. V, 390 S. gr.8 = Freiburger theologische Studien, 160. Kart. DM 88,-. ISBN 3-451-26408-0.

Rezensent:

Wolfdietrich von Kloeden

Es gilt, den Begriff "Sünde", abgehoben von der "Erbsünde" und "Schuld", bei S. Kierkegaard als den "inneren Vollzug des Selbst" zu verstehen (Kap. 1.2, 35). Die Sünde stellt "kein konkretes Vergehen gegen ein Materialethos" dar (ebd.). Sie ist Ausdruck einer begrenzten Freiheit. Diese ist "in der Angst korrumpiert" (ebd.). Das ist ein Zustand, der in den Formen der Verzweiflung bestätigt wird.

Von dieser kurzen Standortbestimmung her ist es notwendig, "Methode und Anlage" der Arbeit anzugeben (Kap. 1.2). Jene muß "synthetisch" sein, um dem Gesamtwerk gerecht zu werden (vgl. Kap. 5). Dem vorgelagert wird eine fundierte, forschungsgeschichtliche Einführung (Kap. 1.1).

Zuerst gilt es, den wissenschaftlichen Ort der Sünde in der Abgrenzung von der Schuld festzulegen (Kap. 1.3). Auszugehen ist vom Werk des "Vigilius Haufniensis": "Der Begriff Angst" (1844). Die Sünde liegt im dialektisch begründeten Spannungsbogen von der "ersten" zur "zweiten Ethik", entsprechend dem klassischen Gegensatz von "prima philosophia" und "secunda philosophia" (41 f., S. Kierkegaard, Samlede Vaerker; udg. af A. B. Drachmann, J. L. Heiberg, H. O. Lange. Bände I-XIV,1. Opl., København 1901-1906, zit.: "SV", SV IV, 293 f.). Die "erste Ethik" ist "heidnisch-metaphysisch" orientiert und geht von "oben", von der "Idealität" aus. Die "zweite, christliche Ethik" macht ihren Weg von "unten" her. Sie bezieht die durch die Sünde gebrochene Wirklichkeit des Menschen mit ein. Sie weist auf die Dogmatik, auf die christliche "secunda philosophia". Der Ort der Sünde wird so "in der Schnittmenge von Dogmatik und Psychologie zu lokalisieren" sein (43). Um den rechten Ort der Sünde zu markieren und gegen den ästhetisch gebundenen Leichtsinn zu verteidigen, bedarf es des "Ernstes", bzw. der "Stimmung des Ernstes" (Kap. 1.4, 46 ff.). Solche Begriffsformulierungen machen die Divergenz zur Hegelschule aus.

Folgerichtig und einfühlsam wird im 2. Kapitel die schwierige Synthesis-Struktur bei S. Kierkegaard durchsichtig gemacht: Ist die Synthese des Menschen im "Begriff Angst" "trichotomisch", "das Seelische", "das Leibliche", "den Geist" meinend, so weiterhin und in der "Krankheit zum Tode" (1849) "dichotomisch". Letzteres besagt keine Minderung. Die Betonung der Spannungselemente "Unendlichkeit" - "Endlichkeit", "Freiheit"- "Notwendigkeit", "Zeitliches" - "Ewiges" als Pole weist auf die Möglichkeit der Selbstkonkretion (Kap. 2.1, 58-78; vgl. SV IV, 315, 355). Synthesisteile wie "das Seelische" werden mit Hilfe des dänischen Urtextes tief ausgelotet (61 ff.). Überhaupt sind die Rückgriffe auf die dänische Sprache erfreulich.

Der Geist als das "Dritte" trägt und beunruhigt zugleich die einfache Synthese von Leib und Seele. Mit der eigentlichen Geistsetzung wird der Mensch er selbst, damit fähig zum Schuldbewußtsein. Die Entwicklung vom "träumenden" zum wachen Geist ist verbunden mit dem Freiheitsbewußtsein. Dieses gibt die Möglichkeit der Schuldeinsicht. Das Umkippen der Freiheit im Sündenfall, im "Schwindel der Freiheit", im "qualitativen Spung" setzt voraus, daß Freiheit im Ansatz vorhanden gewesen ist (Kap. 3.3, 111, SV IV, 331). Der Sprung markiert einen neuen, nun dogmatischen Bereich, nämlich den der Sünde. Diese wird nur durch den Glauben erklärbar. Dem dient die Vorbereitung mit der "Doppelbewegung der Unendlichkeit" des Glaubensvaters Abraham in "Furcht und Zittern" von "Johannes de Silentio" (1843, s. u. zu Kap. 5, SV III, 164).

Im 3. Kapitel wird die Funktion der Angst als "Zwischenbestimmung" und als "ein psychologischer Vorbegriff" mit guten Einzelbeobachtungen erhellt (Kap. 3, 115-169). Es gilt, die nach dem Sündenfall schuldig gewordene Freiheit zu erläutern (Kap. 3.6, 148-160): "Die Angst führt ... an die Sünde heran" und ist zugleich "auch eine Folge derselben", d. h. "die eigene Sünde" wird vermehrt. Die Angst ist weiterhin da. Angst und Freiheit sind "im Horizont des Sündenbewußtseins zu sehen" (149). Das Sündenbewußtsein selbst wird potenziert durch die Verzweiflung. Wirkt die Angst "durch den Glauben absolut bildend" (SV IV, 422), so stellt die Verzweiflung in ihren Formen die Gefahr des totalen Selbstverlustes dem Individuum vor Augen. Jetzt gilt es, deutlich zu zeigen, daß Schuldintensität bis zum Vorfeld des Religiösen heranreichen kann, daß aber die Sünde den Menschen im Gottesverhältnis neu bestimmt. Dem dient das 4. Kapitel mit Behandlung der "Anti-Climacus"-Schrift: "Die Krankheit zum Tode" (1849). Die Glaubensfrage wird radikal gestellt. In diesem sorgfältig gegliederten Kapitel ist von dem berühmten Satz auszugehen: "Sünde ist: vor Gott oder mit dem Gedanken an Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen, oder verzweifelt man selbst sein wollen. Sünde ist damit die potenzierte Schwachheit oder der potenzierte Trotz" (Kap. 4.4.2.2, 201-211, SV XI, 189). Das entscheidende "vor Gott" wird nochmals potenziert durch das Offenbarungsgeschehen, wodurch der Einzelne weiß, was Sünde ist (SV XI, 207). Diese Radikalisierung der Verzweiflung als Sünde treibt das Selbst mit dem wachen Sündenbewußtsein auf die Spitze, um den rettenden Glaubenssprung zu wagen. Dieser wird dreifach negativ abgesichert: (1.) Durch die Gefahr des Dämonischen in der "Verzweiflung über die Verzweiflung"; (2.) durch die Gefahr des Ärgernisses; (3.) durch die Gefahr der "Sünde wider den Heiligen Geist", die darin liegt, daß man den erlösenden Christus für unwahr erklärt (Kap. 4.5.2: "Taxonomie der Sünde", 221-229, SV XI, 234-241). Die Gefahrenpunkte zeigen die Möglichkeit totaler Unfreiheit des Individuums.

Als Zusammenfassung wird im 5. Kapitel schlüssig die Stadienlehre S. Kierkegaards verarbeitet: Das "ästhetische Stadium" ist angefüllt mit einem "schuldhaften Hedonismus" (Kap. 5.2.1, 241-254). Das "ethische Stadium" zeichnet sich durch die "Selbstwahl" aus. Auch hier gibt es Schuld, wenn in der notwendigen Isolation verharrt wird, anstatt in die Endlichkeit, in das Ethisch-Allgemeine zurückzukehren (Doppelbewegung in und mit der Reue, 277, SV II, 215). Überzeugend dargestellt wird das Problem der "dämonischen Reue" anhand der "Leidensgeschichte"; "Schuldig - Nicht Schuldig?" im Roman "Stadien auf dem Lebensweg " (1845, Kap. 5.4.1.2, 305-312, vgl. SV VI, 177-459, bes. 416 ff.). "Quidam" kann durch seine Verschlossenheit nicht die Bewegung zur Offenheit, damit zum Vorhof des Religiösen machen. Auf die göttliche Vergebung kann er sich nicht einstellen. Das Terrain des Religiösen wird aber abgetastet. Sehr einfühlsam wird auch das Beobachtungsfeld der antiken, sophokleischen Tradödie geschildert: die "tragische Schuld" des Individuums in der modernen Tragödie. Hier ist es nicht die schicksalshafte "Erbschuld", sondern die subjektiv- reflektierte Haltung (Zwischenstück: "Der Reflex des Antik-Tragischen in dem Modern-Tragischen" in "Entweder-Oder" I[1843], Kap. 5.4.1.3, 312-319, SV I, 117-141, bes. 131 ff.).

Die zwei letzten Romanteile führen in das "religiöse Stadium" hinein. Die Geschichte der Opferung des Isaak durch Abraham verweist mit der "teleologischen Suspension des Ethischen" auf das Glaubensparadoxon (Kap. 5.4.1.1, 295 f., SV III, 109, s. o.). Das gehört in den Bereich der "Religiosität B", welche "J. Climacus" in der "Abschließenden, unwissenschaftlichen Nachschrift" (1846) "dialektisch" von der "pathetisch" gestimmten "erbaulichen Religiosität A" abhebt. Diese liegt mit dem "totalen Schuldbewußtsein", das von innen her kommt, im Immanenzbereich. In der Sphäre der "Paradoxreligiosität B" ist alles verändert. Das "neue Existenzmedium" ist die Sünde (Kap. 5.4.2.2, 331-336, SV VII, 464 ff., 497 ff.). Die "Subjektivität" ist nun nicht mehr die "Wahrheit", sondern die "Unwahrheit". Diese "Unwahrheit" ist die Sünde (SV VII, 174). Das Sündenverhältnis wird nicht vom Menschen selbst, sondern von der äußeren Macht Gottes bestimmt. Jenes zeigt die Begrenztheit des Menschen, damit die Gefahr, sein Selbst zu "verfehlen". Zugleich ist die Chance zur echten "Selbstverwirklichung" gegeben (367).

Es ist das Verdienst des Vf.s, S. Kierkegaards intensive und facettenreiche Konzeption von Schuld und Sünde unter Berücksichtigung des Gesamtwerks überzeugend darzustellen.