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Ausgabe:

Oktober/2003

Spalte:

1013–1016

Kategorie:

Bibelwissenschaft

Autor/Hrsg.:

Jungbauer, Harry

Titel/Untertitel:

"Ehre Vater und Mutter". Der Weg des Elterngebots in der biblischen Tradition.

Verlag:

Tübingen: Mohr Siebeck 2002. XV, 445 S. gr.8 = Wissenschaftliche Untersuchungen zum Neuen Testament, 2. Reihe, 146. Kart. Euro 69,00. ISBN 3-16-147680-8.

Rezensent:

Peter Müller

Die anzuzeigende Dissertation will den "Weg des Elterngebots in der biblischen Tradition" beschreiben. Dieser Weg wird in drei Hauptteilen im Alten Testament, der zwischentestamentlichen Literatur und dem Neuen Testament nachgezeichnet. J. verfolgt zwei Leitfragen: "Wann und wie wird das Recht der Eltern in der biblischen Tradition mit dem Elterngebot zur Geltung gebracht?" Und unter "welchen Bedingungen hatte das Gebot die Motivationskraft, das Verhalten gegenüber den Eltern zu bestimmen, und ist aus exegetischer Sicht zu erwarten, dass sich diese Motivationskraft für die Gegenwart reaktivieren lässt?" (5).

Um das Elterngebot im Alten Testament geht es in Kapitel 3-10. Ausgangspunkt sind die beiden Dekalogfassungen in Ex 20 und Dtn 5. Dabei habe der Verfasser des Dtn den Dekalog in der Sinaiperikope des Exodusbuches (mit Ausnahme einer späteren priesterschriftlichen Ergänzung) gekannt und seine Fassung dementsprechend als Zitat gestaltet (22). Hinter der Exodusfassung sei eine mündliche Vorgeschichte wahrscheinlich, wenn auch im Einzelnen kaum aufzuhellen (23 f.). In formaler Hinsicht wird das Elterngebot als "positiver Normensatz innerhalb einer mehrgliedrigen Reihe" gekennzeichnet (31), der mit einer Motivationsklausel verbunden ist und "an dem der Kasuistik entgegengesetzten Ende des Spektrums apodiktischer Rechtsformen" steht (36). Hieraus zieht J. Konsequenzen für sein weiteres Vorgehen: Als positiver Normensatz gehöre das Elterngebot in den Zusammenhang alttestamentlichen Rechts, woraus sich die Frage nach Parallelen im alttestamentlichen Elternrecht ergebe; aus der Eingliederung in den Dekalog stelle sich die Frage, wie sich diese Verortung auf das Verständnis des Elterngebots ausgewirkt habe; und die Einbettung des alttestamentlichen Rechts in die altorientalische Rechtstradition führe zu der Frage, wie das Elterngebot in diese Tradition eingebettet sei (36).

Das Elternrecht im Alten Orient umfasst neben familienrechtlichen Vorschriften im engeren Sinn (Adoption, Erbschaft, Schenkungen, Alters- und Hinterbliebenensicherung) auch Rechte bei der Heirat der Kinder und strafrechtlich relevante Tatbestände. Diese Vielfalt lasse sich nicht in einem Gebot zusammenfassen - und in Analogie dazu sei es auch nicht möglich, alle Elternrechtssätze im Alten Testament mit dem Elterngebot in Verbindung zu bringen. J. geht vielmehr davon aus, dass "der erkennbare Schwerpunkt des Elternrechts - Sicherung der Eltern im Alter - auch in Israel gegeben war und deshalb auch das Elterngebot primär in diesem Zusammenhang verstanden werden sollte" (45). Elternrechtssätze in anderen Teilen des Alten Testaments (z. B. Ex 21,15.17; Dtn 21,18-21; Dtn 27; Lev 18,7; 19,3; 20,9) seien nur bedingt mit dem Elterngebot der Dekaloge zu vergleichen. "Als Rahmendaten für die Interpretation des Elterngebots im Dekalog ergeben sich damit eine relative Nähe zum altorientalischen Elternrecht sowie eine inhaltliche Distanz zu den übrigen Elternrechtssätzen des Alten Testaments" (76). Die Existenzsicherung der alten Eltern bilde den inhaltlichen Kern des Gebots. Sie setze die Anerkennung elterlicher Autorität voraus, wenngleich diese nicht in seinem Zentrum stehe (87). Die mit dem Gebot verbundene Motivationsklausel sei im Exodusdekalog aus der Retrospektive formuliert, im Dtn aus der Exilssituation dagegen zukünftig und damit konditional verstanden: "nur wer die Eltern ehrt, kann die Heilsgüter (wieder) empfangen" (93).

Die Einbeziehung des Elterngebots in die "schillernde Mittelposition" des Dekalogs stelle zugleich eine Interpretation dar: "An der Schlüsselstelle des Dekalogs angesiedelt, reflektiert die jeweilige Zuordnung des Elterngebots innerhalb der Reihe den Rang des Gebotes in Relation zuerst zu sozialethischen, später auch zu den theologischen Sätzen des Normenrechts" (99). Als Adressaten des Gebotes im Dekalog werden erwachsene Männer angesehen, die auf ihre Pflichten gegenüber den alten Eltern angesprochen werden (99). Die weiteren Schriften des Alten Testamentes zeigen "Spuren des Elterngebots" (101), ohne dass das Gebot aber wirklich nachhaltige Spuren hinterlassen hätte (105 im Blick auf das deuteronomistische Geschichtswerk). Dies bedeute nicht, dass das Ethos der Elternehrung nicht in hohem Ansehen stünde, ein unmittelbarer Rückgriff auf das Elterngebot des Dekaloges finde sich aber nur in begrenztem Maß. "Überlieferungsgeschichtlich betrachtet ist also die Wirkung des Elterngebots eher gering" (134). Gleichwohl erkennt J. dem Elterngebot den Charakter einer Grundnorm zu (130- 135). Seine Form (als Normensatz), sein Sitz im Leben (Sippenpädagogik), die erwachsenen Israeliten als Adressaten sowie seine traditionsgeschichtliche Offenheit erlaubten es, das Elterngebot "als Grundnorm des Elternrechts" zu verstehen, und zwar vor allem, weil das im Elterngebot implizierte Ethos in vielen Bereichen der alttestamentlichen Tradition aufgegriffen werde. Dass J. im unmittelbar folgenden Satz "Entstehung und Herkunft machen das Elterngebot des Dekalogs zwar nicht zur Grundnorm, ebnen aber den Weg dafür" (135) seine eigene These relativiert, weist auf eine inhaltliche Unausgewogenheit hin, die in der Untersuchung nicht aufgelöst wird. Was genau J. unter einer Grundnorm versteht und ob damit das Elterngebot selbst oder ein Ethos der Elternehrung gemeint ist, bleibt letztlich unklar.

Kapitel 11-19 beschreiben "das Elterngebot zwischen den beiden Testamenten". Hier geht es zunächst um die Übersetzung des Elterngebots in der Septuaginta (Kapitel 11), dann um einschlägige Stellen in Sirach und Tobit (Kapitel 12), um Schriften in palästinisch-jüdischer Tradition und die Qumranschriften (Kapitel 13, 14), sodann um jüdisch-hellenistische Schriften einschließlich Philo und Josephus (Kapitel 15-17), schließlich um die rabbinische Literatur (Kapitel 18). Warum J. hier zwischen den Traditionsströmen hin- und herspringt, ist mir nicht klar, und dass er mit der rabbinischen Literatur die Zeit zwischen den Testamenten weit überschreitet, wird zwar kurz notiert (239), aber nicht wirklich begründet. Inhaltlich findet J. eine grundsätzliche Übereinstimmung zwischen der jüdisch-hellenistischen und der palästinisch-jüdischen Auslegung des Elterngebotes, allerdings mit spezifischen Akzentuierungen: im palästinisch-jüdischen Bereich stünden das Verhältnis der Eltern zum Lehrer der Tora sowie die Fragen nach der Gültigkeit von Gelübden und religiösen Bindungen im Vergleich mit dem Elterngebot stärker im Vordergrund, während im hellenistisch-jüdischen Bereich die Gehorsamsforderung insgesamt stärker betont sei und Ehrung der Eltern der Ehrung Gottes zugeordnet werde. Dass bei alledem die soziale Funktion des Elterngebots eine bleibende Rolle spiele, belege - e contrario - die Gemeinschaft von Qumran, da hier ein funktionierendes Sozialsystem bestanden habe, das unabhängig von der Eltern-Kind-Beziehung die notwendigen Versorgungsleistungen erbringen konnte und deshalb das Elterngebot nicht in dieser Hinsicht interpretierte (251-253).

Im Neuen Testament befasst sich J. mit Mk 7,9-13; Mk 10,19.29 f. und den Parallelstellen. In Lk 14,25-27 und Mt 10,37 f. findet er die Notwendigkeit der Abwendung von den Eltern als Voraussetzung der Jesusnachfolge (290 ff.), in Lk 9, 59-62; Mt 18,21 f. die Aufhebung familiärer Pflichten durch den Nachfolgeruf (294 ff.), in Mk 1,19-20par. die Trennung von den Eltern im Vollzug der Nachfolge (298 f.). "Die Trennung zwischen Jesus und seiner Familie stellt einen Bruch des vierten Gebots dar, da Jesus sich auf seinem von Gott gewiesenen Weg nicht um das Ergehen der Familie, besonders auch nicht um das seiner Mutter kümmerte." Daraus "ergibt sich eine starke Tendenz in der Verkündigung Jesu, seine Nachfolger aus ihrer Herkunftsfamilie herauszulösen und besonders auch die Bindung an die Eltern zu lockern bzw. sogar ganz aufzutrennen" (306). "Nie hat Jesus das Elterngebot zum Kriterium seines eigenen Handelns gemacht. Es stand für ihn zu stark gegen den Auftrag Gottes, der ihn zum Bruch mit der natürlichen Familie nötigte - zugunsten der neuen Familie der Glaubenden, der familia Dei." (307) In der weitergehenden neutestamentlichen Tradition kommt es allerdings zu einer Verbindung zwischen der natürlichen Familie und der "familia Dei", vereinzelt in den Synoptikern (308 ff.), dann vor allem in der johanneischen Gemeinde (313 ff.)

J. überschreitet mit seiner Untersuchung die üblichen Grenzen der exegetischen Disziplinen, wählt die Perspektive der biblischen Tradition insgesamt und zielt am Ende auf eine Aktualisierung seiner Exegese. Das ist ein anspruchsvolles Programm und zugleich dem Thema angemessen und deshalb positiv zu würdigen. Mit der Wahrnehmung dieses umfassenden Programms fallen allerdings sofort auch Lücken in dieser Arbeit auf: Weder finden sich in der Untersuchung Überlegungen zur Kanonproblematik oder den Fragen einer Biblischen Theologie noch wird die Frage der Intertextualität, die sich bei der gewählten Thematik von selbst nahe legt, auch nur gestreift, im alttestamentlichen Teil ist die Quellenproblematik im Pentateuch, die in jüngerer Zeit vielfach diskutiert worden ist, nur kurz erwähnt, bevor die herkömmliche Quellenscheidung zu Grunde gelegt wird. Auch die Frage nach dem Verhältnis von Exegese und Applikation, die sich angesichts des Schlusskapitels stellt, wird nicht behandelt. Die Aussagen zur Methodik sind vielmehr denkbar knapp und werden als "zielgerichtete Exegese" beschrieben: Das Elterngebot im Alten Testament gibt die Leitlinie vor und alle "Auslegungen weiterer Texte stehen unter der Zielvorgabe, die Beziehung dieser Texte zum Elterngebot offenzulegen und sie dem Weg des Elterngebots zuzuordnen". Traditionsgeschichte und Literarkritik sind konsequenterweise die Methoden, die im Wesentlichen herangezogen werden. Dabei kommen die besprochenen Texte nur mit denjenigen Aspekten zur Sprache, die sich auf das Elterngebot beziehen, während andere "für den Einzeltext an sich gewichtige Aspekte entfallen" (6). Insofern ist J.s Exegese weniger "zielorientiert" als viel eher ursprungsorientiert, und die Wandlungen des Elterngebots werden im Wesentlichen als Veränderungen der Dekalogformulierungen verstanden. Eine Beschäftigung mit den Fragen der Intertextualität hätte hier über die traditionsgeschichtliche Methodik hinausführen können. Eine genauere Betrachtung der eigenen Aussageintention der Texte hätte zudem manche Kurzschlüsse vermeiden helfen, die vor allem bei den neutestamentlichen Texten auffallen (z. B. in Mk 10,19 - 283 - oder in Phlm9 - 329). Der Gefahr, die bei einer Thematik wie dieser immer gegeben ist, nämlich sehr unterschiedliche Texte unter einer engen Fragestellung zu lesen - und zu verkürzen, ist J. nicht immer entgangen.

Das Ergebnis der Arbeit ist eher mager: "Der Weg des Elterngebotes in der biblischen Zeit erweist sich damit - wie zu erwarten - als nicht linear, sondern als Auf und Ab mit vielen, zum Teil überraschenden Wendungen. Die Verbindung von palästinisch-jüdischer Überlieferung und hellenistischer Tradition hat insgesamt die inhaltliche Durchsetzung des Elterngebots und das darin enthaltene Ethos gestärkt. Dagegen hat das Gebot als zitierter Text innerhalb des Neuen Testaments nur eine geringe Bedeutung ... Die dauerhafte Wirkung des Elterngebotes beruht ... viel stärker auf seiner inhaltlichen Aussage ... Dagegen garantiert die wörtliche Aufnahme ... nicht, dass das Elterngebot tatsächlich in seinem Kern zur Geltung kommt" (371). In der Tat, das war zu erwarten. Die eingangs erwähnte zweite Leitfrage (5) wird zum Schluss knapp umrissen (372-374): Nicht die Formulierung des Elterngebots "bringt die praktische Konkretion, sondern das vitale Interesse am Wohlergehen von Vater und Mutter, auch im Alter, worauf das Elterngebot die Aufmerksamkeit der Kinder über die Jahrtausende der biblischen Tradition hinweg immer wieder lenken wollte." J. plädiert für eine Gesellschaftsreform, "die eine neue Wertschätzung für das Alter ... und so auch für die altgewordenen Eltern entwickelte" (373). Wenn man bedenkt, dass es sich hierbei um eine Leitfrage der Untersuchung handeln soll, ist dieses Ergebnis (auch wenn es sich primär um eine exegetische Arbeit handelt) noch ergänzungsfähig.