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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

968–971

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Lück, Christhard

Titel/Untertitel:

Religionsunterricht an der Grundschule. Studien zur organisatorischen und didaktischen Gestalt eines umstrittenen Schulfaches.

Verlag:

Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2002. 441 S. m. Tab. gr.8 = Arbeiten zur Praktischen Theologie, 22. Geb. Euro 42,00. ISBN 3-374-01992-7.

Rezensent:

Rudolf Englert

Anfang der 1990er Jahre gab es eine fast hektisch zu nennende Debatte um die organisatorische Gestalt des schulischen Religionsunterrichts. Mittlerweile ist die Lage ein wenig übersichtlicher geworden. Dazu dürften sowohl die konsensstiftende Wirkung der EKD-Denkschrift "Identität und Verständigung" (1994) als auch die zu deutlichen Polaritäten führende Auseinandersetzung um den brandenburgischen Sonderweg LER ("Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde") wesentlich beigetragen haben. Von daher ist es jetzt, nach anderthalb Jahrzehnten kontroverser Diskussion, ein guter Zeitpunkt für eine Zwischenbilanz. Von großem Interesse ist dabei die Meinung der Religionslehrer und -lehrerinnen vor Ort: Welche Erfahrungen machen sie mit der gegenwärtigen Form konfessionellen Religionsunterrichts? Wie stark wünschen sie sich den Religionsunterricht auf andere Konfessionenen und Religionen hin geöffnet? Können sie sich vielleicht sogar für das LER-Modell erwärmen? Diesen Fragen ist der Münsteraner Religionspädagoge Christhard Lück in seiner hier angezeigten Dissertation genauer nachgegangen, und zwar speziell für den Bereich der Grundschule.

Wie also denken die an Grundschulen tätigen Religionslehrer und -lehrerinnen über die verschiedenen möglichen Organisationsformen von Religionsunterricht? Welche Form halten sie für am zukunftstauglichsten? L. möchte herausbekommen, von welchen Faktoren die jeweiligen Präferenzen abhängen. Wobei er die hier vorgelegte 400 Seiten starke Arbeit lediglich als Vorstudie für eine groß angelegte quantitativ-empirische Untersuchung zum gleichen Thema betrachtet. Offenbar ist auch diese mittlerweile bereits ausgewertet und wird in absehbarer Zeit publiziert. Die Vorstudie soll im Grunde nur die Hypothesen begründen, die jener quantitativen Untersuchung zu Grunde liegen. Für diese Begründung werden hauptsächlich herangezogen: 1. theoretische Studien zu den gegenwärtig diskutierten Grundformen des Religionsunterrichts, 2. einschlägige empirisch-analytische Studien und 3. eine vom Vf. selbst unternommene Briefumfrage.

1. Theoretische Studien. Nach einer Skizze der gesellschaftlichen, schulpolitischen und schulpädagogischen Hintergründe der Debatte um den Religionsunterricht gibt L. eine eingehende Darstellung der fünf diese Diskussion bestimmenden Grundmodelle: "1. Die Beibehaltung eines durchgehend nach Konfessionen getrennt erteilten, konfessionell profilierten Religionsunterrichts. 2. Die Öffnung des Religionsunterrichts zu einem konfessionell-kooperativen Religionsunterrichtsmodell. 3. Die Zusammenarbeit der christlichen Kirchen in einem gemeinsam verantworteten ökumenisch-christlichen Religionsunterricht. 4. Die Etablierung eines von verschiedenen Religionsgemeinschaften gemeinsam verantworteten und durchgeführten interreligiösen bzw. dialogisch-interkulturellen Religionsunterrichts. 5. Die Transformation zu einem sog. allgemeinen Religionsunterricht bzw. zu einer weltanschaulich neutralen, bekenntnisfreien Religionskunde für alle Schüler und Schülerinnen in staatlicher Alleinregie." (48) Diese fünf Modelle werden vom Vf. in einer Weise entfaltet, die weit über gängige Kurzcharakteristiken hinausgeht. Es werden nicht nur die zentralen Anliegen der jeweiligen Modelle herausgearbeitet, sondern zum Beispiel auch ihr Entstehungszusammenhang, ihre innere Logik (entfaltet teilweise an exemplarischen Dokumenten und Stellungnahmen), ihre verschiedenen konzeptionellen und praktischen Ausprägungen, ihre rechtlichen Voraussetzungen und natürlich ihre Relevanz speziell für den Religionsunterricht in der Grundschule. Auch die hauptsächlichen Einwände gegen die verschiedenen Modelle werden angeführt. Eine tabellarische Übersicht fasst die wichtigsten Punkte jeweils noch einmal prägnant zusammen, so dass die Darstellung in diesem Teil geradezu Lehrbuchcharakter annimmt.

2. Empirisch-analytische Studien. Hier wird zunächst ein Literaturbericht über die seit Anfang der 1970er Jahre durchgeführten Religionslehrer und -lehrerinnen-Befragungen geboten. Der Vf. berücksichtigt in seinem Überblick auch entlegen veröffentlichte Studien und geht in seiner Würdigung nicht nur auf die Befunde selbst, sondern auch auf zentrale Intentionen, methodische Anlage, Differenzen zu vorausgegangenen Erhebungen und teilweise auch die Rezeption der Untersuchungen mit ein. Nicht selten werden auch Anmerkungen zur statistischen Auswertung der Daten gemacht, die erkennen lassen, wo einzelne Studien hinter ihren eigenen Möglichkeiten zurückgeblieben sind. Der Fokus bei alledem liegt naturgemäß auf den grundschulrelevanten Befunden und hier noch einmal auf jenen Ergebnissen, die deutlich machen, wie die jeweils befragten Religionslehrer und -lehrerinnen über Organisation und Konzeption des Religionsunterrichts denken. Dabei zeigt sich, dass die empirische Kenntnis über diese Punkte auf katholischer Seite weitaus besser ist als auf evangelischer und dass die Behebung dieses evangelischen Empirie-Defizites "ein dringliches Desiderat wissenschaftlicher religionspädagogischer Forschung" (198) darstellt.

3. Die Briefumfrage. Um das erwähnte Defizit selbst mit abbauen zu helfen, hat der Vf. im Bereich der Westfälischen Landeskirche unter evangelischen Religionslehrern und -lehrerinnen an Grundschulen eine eigene Briefumfrage durchgeführt. Der qualitativ-empirische Zugang der Briefumfrage fungiert im Forschungs-Design des Vf.s als explorative Vorstudie für eine stärker in die Breite gehende Repräsentativ-Erfassung. Das heißt, es sollen hier Zusammenhänge aufgespürt werden, die dann in der Haupt-Untersuchung genauer überprüft werden können. Dementsprechend offen ist die Themenstellung der Briefumfrage angelegt: "Zukünftiger Religionsunterricht an Grundschulen: Erwartungen - Befürchtungen - Hoffnungen und Wünsche". 104 Religionslehrer, fast jeder vierte Angeschriebene, beteiligten sich mit Briefen unterschiedlicher Art und Länge. Die inhaltsanalytische Auswertung ergab eine Reihe von "Schlüsselthemen". Dabei wird deutlich, dass der Religionsunterricht an Grundschulen zwar "im Vergleich zu anderen Schulstufen noch als relativ günstig erscheinen mag" (244), offensichtlich aber "mit einer stark zunehmenden Anzahl von Schwierigkeiten" (ebd.) zu kämpfen hat. Dazu zählen zum Beispiel: der weitgehende Ausfall religiöser Erziehung im Elternhaus, die veränderten religiösen Ausgangsbedingungen auf Seiten der Schülerinnen und Schüler, die (vielfach desinteressierte) Haltung der Eltern gegenüber dem Religionsunterricht, organisatorische Schwierigkeiten, der geringe Stellenwert des Religionsunterrichts im Kontext von Schule, Pädagogik und Politik, hoher Unterrichtsausfall usw. Gleichwohl besucht die große Mehrzahl der Schüler den Religionsunterricht aus der Sicht der Lehrer sehr selbstverständlich und auch gerne (vgl. 251). Dazu trägt offensichtlich wesentlich mit bei, dass der Religionsunterricht mit seinen "meditativ-spirituellen, feierlichen, rituell-gestalthaften und handlungs- und erfahrungsbezogenen Arbeitsformen" (252) den Schülern eine willkommene Abwechslung im Schulalltag bietet. Zahlreiche Lehrer stellen heraus, dass dem Religionsunterricht im "Haus des Lernens" aus ihrer Sicht eine indispensable Bedeutung zukommt. Was die den Vf. besonders interessierende Frage nach der bevorzugten religionsunterrichtlichen Organisationsgestalt anbelangt, so plädiert die Mehrheit der Praktiker "für eine sanfte strukturelle Reform des Religionsunterrichts in Richtung eines konfessionell-kooperativen oder ökumenischen Unterrichts" (254). Die inhaltliche Verantwortung der Kirche(n) für den Religionsunterricht findet starke Zustimmung.

Aus theoretischen Studien, empirisch-analytischen Befunden und besonders auch der eigenen Briefumfrage versucht der Vf. abschließend Untersuchungshypothesen zu begründen. Wobei hier sein primäres Klärungsinteresse noch einmal sehr klar nach vorne tritt - nämlich genauer aufzuhellen, mit welchen Faktoren die Option für eine bestimmte religionsunterrichtliche Organisationsform zusammenhängt. L. nimmt an, dass es "ein ganzes Bündel unabhängiger Variablen gibt, die für die Einstellung der Lehrkräfte zur optimalen Gestalt zukünftigen Religionsunterrichts (abhängige Variable) ausschlaggebend sind" (264). Dazu gehören sowohl Hintergrundvariablen (z. B. Alter und Geschlecht, aber auch Berufszufriedenheit, Teilnahme am Leben einer Kirchengemeinde, Wochenstundenzahl an Religionsunterricht usw.) als auch Einstellungs-Variablen (vor allem die von den Religionslehrern und -lehrerinnen im Unterricht verfolgten Intentionen). Zwischen diesen Einstellungs-Variablen und den von den Religionslehrern und -lehrerinnen bevorzugten religionsunterrichtlichen Organisationsformen, so nimmt der Vf. an, besteht ein Interdependenzzusammenhang. Von daher ist zu vermuten, "dass sich Befürworter/innen verschiedener Formen von Religionsunterricht hinsichtlich ihrer Zielpräferenzen (hoch)signifikant voneinander unterscheiden" (271).

Orientiert an diesem konzeptuellen Modell formuliert und begründet der Vf. 21 Hypothesen. Mit einem Votum für konfessionellen Religionsunterricht, so vermutet er, korrelieren positiv: höheres Lebens- und Dienstalter, männliches Geschlecht, eine hohe Tätigkeitszufriedenheit, eine starke kirchliche Verbundenheit, ein hoher Partizipationsgrad am Leben einer Kirchengemeinde, die Tätigkeit an einer konfessionellen Grundschule u. a. Mit positiven Korrelationen zu einem Votum für ökumenische oder interreligiöse Organisationsformen rechnet er zum Beispiel bei folgenden Merkmalen (neben den Korrelationen, die sich ex negativo aus den bereits erwähnten Zusammenhängen ergeben): Im Laufe der Jahre geringer gewordene Tätigkeitszufriedenheit, regelmäßige Teilnahme am Kirchentag, Tätigkeit an Schulen in einem großstädtischen Umfeld, Arbeit mit einer religiös heterogenen Schülerschaft, Konfrontation mit schulorganisatorischen Problemen bei der Erteilung von Religionsunterricht.

Auch wenn sich viele der hier hypothetisch angenommenen Zusammenhänge von der Sache her nahe legen und selbst wenn die von L. in seiner quantitativen Hauptstudie erzielten Befunde diese Zusammenhänge bestätigen und insofern keine sehr spektakulären Ergebnisse erbringen sollten, darf man doch auf die von ihm in Aussicht gestellte Publikation gespannt sein. Denn schon mit der hier referierten Vorstudie und vor allem seiner Briefumfrage hat L. einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der religionsunterrichtlichen Situation an Grundschulen geleistet. In verschiedener Hinsicht ist die Arbeit sogar beispielhaft: Es dürfte gegenwärtig keine gründlichere und nach allen Seiten hin ausgewogenere Darstellung der Diskussion um religionsunterrichtliche Grundpositionen geben als diese. Es dürfte keine Studie geben, welche die den Grundschul-Religionsunterricht betreffende empirische Forschung so umfassend einholt wie diese. Und es dürften nur sehr wenige religionspädagogische Untersuchungen zu finden sein, deren Hypothesen so solide fundamentiert sind wie die im vorliegenden Falle. Manchen Lesern wird dieser Begründungsaufwand vielleicht ein wenig übertrieben vorkommen. Doch auch sie werden konzedieren können: Im Unterschied zu manch anderen Arbeiten, deren Verfasser auch eminent fleißig waren und nirgendwo etwas Falsches sagen, ist dieses Buch kein zäher Langeweiler, sondern beschert seinen Lesern, ein entsprechendes fachliches Interesse vorausgesetzt, eine durchgängig erkenntnisreiche Lektüre.