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Ausgabe:

September/2003

Spalte:

965–967

Kategorie:

Religionspädagogik, Katechetik

Autor/Hrsg.:

Kunstmann, Joachim

Titel/Untertitel:

Religion und Bildung. Zur ästhetischen Signatur religiöser Bildungsprozesse.

Verlag:

Gütersloh: Kaiser/Gütersloher Verlagshaus; Freiburg i. Br.: Herder 2002. 480 S. 8 = Religionspädagogik in pluraler Gesellschaft, 2. Kart. Euro 44,95. ISBN 3-579-05291-8 (Gütersloher Verlagshaus); 3-451-27887-1 (Herder).

Rezensent:

Bernhard Dressler

Der vorliegende Band, eine von der Kulturwissenschaftlichen Fakultät der Universität Bayreuth angenommene Habilitationsschrift, verfolgt ein anspruchsvolles Programm: Auf der Grundlage der Rekonstruktion des klassischen Bildungsbegriffs und in kritischer Abgrenzung von Konzepten religiöser Bildung, die einer ethisch-erzieherischen Intention verhaftet bleiben, wird die "ästhetische Signatur religiöser Bildungsprozesse" stark gemacht und zum Programm für eine zukunftsfähige Religionspädagogik erhoben. Zu diesem Zweck werden analoge Muster in Religion, Bildung und Ästhetik herausgearbeitet, um "Religionspädagogik ... als ästhetisches Verfahren begreifen" zu können (11).

Der Vf. will keine "wissenschaftliche Spezialarbeit" vorlegen, sondern eine "Perspektivierungsarbeit, die den Versuch unternimmt, neue Beziehungen herzustellen und neue Sichtweisen zu erproben" (60). Zeitdiagnostisch stellt sich die Arbeit in den Horizont einer reflexiv gewordenen zweiten Moderne, in der sich der Bildungsgedanke in seiner Sperrigkeit "gegenüber einem rationallogischen Vernunft-Denken" auf neue Weise ins Spiel bringt und dabei auf eine Religion stößt, die als Tradition substantieller Glaubensgehalte gegenüber der Hochkonjunktur individualisierter "Religiosität" "verblasst" (18).

Der Vf. holt weit aus. In einer "Einleitung" (I. "Rückbesinnung auf Bildung und Religion", 13-61) formuliert er sein Programm und ordnet es in den bildungstheoretisch inzwischen obligaten Spannungszusammenhang zwischen dem neuzeitlichen "Bildungsdilemma" der Kirche und der individualisierten, deshalb nur noch über Bildungsprozesse subjektiv zu erschließenden Religion ein. Das folgende Kapitel (II. "Bestandsaufnahme: Religionspädagogische Bildungstheorien") geht über eine Bestandsaufnahme hinaus: Eine profilierte, den eigenen Anspruch damit aber auch auf beträchtliche Fallhöhe hebende Kritik der allgemeinen Bildungstheorie Klafkis und ihrer Rezeption durch Nipkow dient funktional als Kontrastfolie für das eigene Theorieprogramm. Sodann gewinnt der Vf. über eine "Rekonstruktion" der von ihm so genannten "Klassiker" (III. "Zur Bedeutung von Ästhetik und Religion in klassischen Bildungstheorien", 123-227) die eigene theoretische Perspektive. Von Meister Eckhart über Humboldt, Schiller und Schleiermacher werden Bildungsbegriffe durchgemustert, die als Vorzug gegenüber dem "fatalen" rationalistischen "Erbe der Aufklärung" die Möglichkeit öffnen, Religion und Bildung sachlich und prozessual in Analogie zu denken, und zwar unter dem Vorzeichen einer "ästhetischen Vernunft" als der für Religion wie für Bildung gleichermaßen adäquaten Leitkategorie. Zum Abschluss dieses Kapitels werden mit Hegel und Nietzsche die Gegenpole markiert, in deren Spannungsfeld sich das bildungstheoretische Denken der Moderne "zwischen absoluter Vernunft und begehrender Leiblichkeit" bewegt und seither nicht mehr zu "großen Entwürfen" gelangt (209).

Die bis hierhin entwickelten Perspektiven werden nun in einer "Verhältnisbestimmung" (IV. "Bildung und Religion aus der Perspektive ästhetischer Theorie", 229-344) zusammengeführt, die die "ästhetische Struktur des Bildungsprozesses" mit der "Ästhetik der Religion" verschränkt. Im Blick auf neuere praktisch-theologische und religionspädagogische Literatur sind abschließend didaktische Konkretionen möglich (V. "Neue Wege der Religionspädagogik. Ästhetisch konturierte religiöse Bildung", 345-437). Deutlich wird: Eine neue Religionsdidaktik "ist ... längst in Arbeit" (349), die sich als Anbahnung einer "Begegnung mit lebendiger Religion" weder erzieherisch funktionalisieren noch auf die Vermittlung materialer Lernstoffe reduzieren lässt. Ein "Ausblick" (VI. "Religiöse Bildung zwischen Tradition und Stil", 439-453) resümiert, "dass von der Religion in spezifischer Weise das gilt, was von der Bildung gilt: sie ist Sinn und Geschmack für das Leben" (453).

Dass der Bildungsbegriff für die Grundlegung der Religionspädagogik neue Bedeutung gewonnen hat, kann inzwischen als fachlicher Konsens gelten. Dass Bildung nun auch politisch als Megathema gehandelt wird, kann freilich über bildungsfremde Zweckkalküle in der öffentlichen Debatte nicht hinwegtäuschen. Umso wichtiger ist es, nicht nur Religion und Bildung ins Verhältnis zu setzen ("Religion braucht Bildung, Bildung braucht Religion", 53), sondern aus dieser Verhältnisbestimmung heraus energisch "Bildung als Selbstzweck und ... als Selbstbildung" zu denken, die deshalb "im eindeutigen Gegensatz zur Erziehung auch nicht funktionalisierbar" ist (219). Es leuchtet ein, dass "religiöse Kompetenz" als "Zielhorizont" religiöser Bildung (411) nur dann nicht als operationable Qualifikation missverstanden wird, wenn im Rückgriff auf gehaltvolle Begriffe von "Erfahrung" und "Wahrnehmung" das "Lernen selbst, also der umfassende Vorgang des Bildungsprozesses" in "ästhetischen Kategorien" verstanden wird (112). Demgegenüber führt der Vf. den Nachweis, dass Klafki trotz der Umstellung von materialer auf formale Bildung - letztlich nur eine "Verlagerung" vom "inhaltsgebundenen Wissen hin zur Ebene rationaler Befähigungen" (106) - den Bildungsprozess als "Mittel zum Zweck" (96) erzieherischen Intentionen ausliefert und dabei "unausgesprochen einer modernen technologischen Machbarkeit verpflichtet" bleibt (105). Dieser Befund läuft auf einen grundsätzlichen Einwand gegen Nipkow hinaus: Nipkow ziele nicht eigentlich auf religiöse Bildung, sondern auf ethische Erziehung ab (99), deren Ziele - "Problemfähigkeit" und "kritische Mündigkeit" - aus religiöser Perspektive unterbestimmt blieben (97). Einmal davon abgesehen, dass die analytische Unterscheidung zwischen Bildung und Erziehung deskriptiv nur durch differenziertere Verhältnisbestimmungen fruchtbar bleibt: Man kann den religionspädagogischen Rekurs auf Klafki zu Recht für problematisch halten. Fraglich bleibt aber doch, die "Parallele" zwischen Klafki und Nipkow (97) so weit zu treiben, dass in dieser vermeintlichen Theoriesymbiose die bei Nipkow zu verzeichnenden theologischen Überschusspotentiale über ein teleologisch-instrumentelles Zweckdenken hinaus ausgeblendet bleiben. Liegt das daran, dass der Vf. die eigene Theorie weitgehend auf eine - notwendige, aber wohl doch nicht hinreichende - religionstheoretische Begründung stützt, die stärker einer auch systematisch-theologischen Reflexion bedürfte? So wenig - so als Einwand gegen Nipkow formuliert - sich "Religion ... auf Theologie reduzieren, und erst recht nicht als Schlüsselproblem behandeln [lässt]" (116), so bleibt doch für religiöse Bildungsprozesse auch elementare theologische Urteilsfähigkeit konstitutiv, wenn sie nicht bloß affirmativ verstanden werden sollen. Die Alternative: "Erziehung zur Vernunft oder religiöse Bildung" (117) ist - vorsichtig gesagt - überpointiert, zumindest missverständlich. Auch der Hinweis auf ein "kritisches Moment ... in allen Religionen" (342) reicht nicht aus. Und dass "unter Theologen eine verbreitete Aversion gegen den Religionsbegriff" zu finden sei (33), trifft doch wohl in dieser Pauschalität kaum noch zu. Ähnlich bedürfte die Auseinandersetzung mit den "theologischen Sicherungen gegen das Autonomiepostulat", die der Vf. bei Biehl ausmacht (86 f.), einer fundierteren theologischen Reflexion von Subjekt und Subjektivität, zumal trotz des Insistierens auf einer Kritik am Logozentrismus der Aufklärung die postmodernen Subjektdekonstruktionen, die wiederum einer kritischen theologischen Revision zu unterziehen wären, nicht wirklich im Blick sind.

Hinsichtlich eines kritischen, didaktisch anschlussfähigen Bildungsbegriffs würde der Rez. davon abraten, die Auseinandersetzung mit ikonoklastischen theologischen Traditionen und die Hinwendung zu Symboltheorien mit ontologisierenden Mystifikationen zu belasten ("Wirkmacht der Wirklichkeit", 274; Bilder betreiben "selbstständig Theologie", 307; Symbole "präsentieren sich selbst", 352).

In dieser Hinsicht trägt der Vf. in seine Arbeit auch deshalb problematische Positionen ein, weil er - dieser Eindruck drängt sich zuweilen auf - zum Teil inkompatible Gewährsleute (u. a. Josuttis, Gräb, Meyer-Blanck, Gutmann, Heimbrock, Bizer) sucht und theoretische Positionen zusammenträgt und affirmiert, die irgendwie den Zusammenhang von Religion und Ästhetik bestätigen, ohne ausreichende theoretische Differenzierungen bzw. ohne die Markierung theoretischer Differenzen vorzunehmen. Da der Bogen sehr weit aufgespannt wird, zieht eine Arbeit dieses Anspruchs solche Einwände wohl fast zwangsläufig auf sich. Dazu gehört, dass summarische Referate von Sekundärliteratur (Schleiermacher wird z. B. weitgehend mittels einer Paraphrase der großen Studie von U. Frost dargestellt) nicht wirklich nötig sind, um die Grundthese des Vf.s plausibel zu machen, dass religiöse Bildung als ästhetische Bildung zu denken und didaktisch zu konkretisieren ist. Dieser These allerdings - die nicht neu ist, selten aber in dieser Zuspitzung formuliert und in dieser Breite begründet wurde - ist positive Resonanz in der religionspädagogischen Theorie und Praxis zu wünschen.